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A MBIVALENZEN ALS IMPLIZITES K ONZEPT IN T HEORIEN ÜBER

3. DAS KONZEPT DER AMBIVALENZ UND SEIN NUTZEN FÜR DIE ANALYSE

3.4 A MBIVALENZEN ALS IMPLIZITES K ONZEPT IN T HEORIEN ÜBER

3.4 Ambivalenzen als implizites Konzept in Theorien über Familienbeziehungen psychisch Kranker

Ambivalente Spannungen der Beziehungsgestaltung wurden wiederholt auch in psychopatho-genetischen Familientheorien thematisiert und dabei mit der Entstehung und/oder dem Ver-lauf von psychischen Erkrankungen verknüpft. Schon in frühen Objektbeziehungstheorien wird die Beziehung zur Mutter zumindest phasenweise als hochgradig ambivalent beschrie-ben, aber noch nicht systematisch auf die Psychopathogenese bezogen.31 In der Hypothese von der Double-Bind-Situation als Basis der schizophrenen Störungen (Bateson, Jackson, Haley, & Weakland, 1956), in welcher der Erkrankte, in einer paradoxen Beziehungsfalle gefangen, gar nicht anders kann, als pathologisch zu handeln, wird ebenfalls auf polare Span-nung bei der kommunikativen Gestaltung von (Generationen-) Beziehungen verwiesen.

Die Bindungstheorie Bowlbys formuliert mittels der Integration psychoanalytischen, lern- und verhaltenstheoretischen sowie evolutionsbiologischen Gedankenguts die Hypothese, dass reale Beziehungserfahrungen die Grundlage für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung und das spätere Beziehungsverhalten legen (Bowlby, 1969). Obwohl eine solche Übertragung nahe liegt, wird diese Hypothese erst seit kurzem systematisch auf klinische Fragestellungen angewendet (vgl. Strauß, Buchheim, & Kächele, 2002). Die Bindungstheorie unterscheidet zwischen einem funktionalen, sicheren und zwei bzw. drei dysfunktionalen Bindungsstilen (Ainsworth, 1978), die als innere Arbeitsmodelle das Beziehungsverhalten steuern und in klinischer Auslegung mit verschiedensten psychischen Störungen in Verbindung gebracht werden, u.a. mit Substanzabhängigkeit (Schindler, 2001; Thomasius, 1997, 2000).

Vordergründig scheint vor allem der unsicher-ambivalente Bindungsstil für das Verständnis von Generationenambivalenzen interessant. Dieser aber verweist allein auf eine mögliche Form des Umgangs mit Ambivalenz, die als unentschiedenes Beziehungsverhalten charakteri-siert werden könnte. Wichtiger scheint die für die Bindungstheorie grundlegende

Unterschei-31 In Melanie Kleins entwicklungspsychologischem Stufenmodell ist der Begriff Ambivalenz zentral (Parker, 1995). Sie postuliert zwei zeitversetzte und aufeinander aufbauende Positionen des Säuglings bzgl. seiner Ob-jektbeziehungen. Die paranoid schizoide Position dauert bis zum zweiten Viertel des ersten Lebensjahres und ist geprägt durch die Spaltung des Bildes von der Mutter in eine gute, sorgende und eine böse, versagende Seite. Zum Ende des ersten Lebensjahres gelingt dem Kind eine immer stärkere Integration dieser beiden Sei-ten in seiner Beziehung zum Objekt Mutter. Durch eine verbesserte Einschätzung der Realität wird dieser Konflikt bewusster. Damit ist die depressive Position erreicht, auf der Ambivalenz im Kleinschen Modell an-gesiedelt ist. Mit dem integrierteren Bild von der Mutter setzt Trauer und Leiden ein: "Auf dem Höhepunkt seiner Ambivalenz bricht depressive Verzweiflung über das Kind herein. Es erinnert sich, dass es seine Mut-ter geliebt hat, liebt sie ja auch noch, glaubt aber, sie gefressen oder zerstört zu haben, so dass sie in der Au-ßenwelt nicht mehr verfügbar ist" (Segal, 1974, S. 97).

dung zwischen dem kindlichen Explorations- und dem Bindungsverhaltenssystem (Bowlby, 1969). Dabei wird die Secure Base (Bowlby, 1988), also sichere Bindung, Nähe und Ver-trautheit, als Voraussetzung für die Herstellung explorativer Distanz gesehen. Damit wird betont, dass bei der Gestaltung von Generationenbeziehungen polare Kräfte auf der persona-len Ebene wirksam sind.

Auch im Konzept des emotionalen Familienklimas als Risikofaktor für die Rückfallhäufigkeit bei episodisch oder chronisch verlaufenden psychischen Krankheiten – Expressed Emotion (Brown, Birley, & Wing, 1972) – sind implizite Hinweise auf ambivalente Spannungsfelder in Familienbeziehungen enthalten: Der Faktor Kritik kann als Ausdruck von persönlicher Distanzierung, der Faktor des emotionalen Überengagements als Ausdruck starker persönli-cher Nähe gewertet werden. Interessant ist nicht allein das Ausmaß eines dieser Faktoren, sondern das Schwanken zwischen ihnen und der Umgang mit diesem Hin- und Hergerissen-sein. Denkbar ist, dass die einseitige Positionierung auf einem dieser Faktoren einen Versuch darstellt, diese Zerrissenheit aufzulösen, d.h. als Form des Umgangs mit Ambivaenz verstan-den werverstan-den kann.

Aus der Perspektive einer Soziologie, die sich mit klinischen Fragestellungen beschäftigt, wird vor allem die Problematik der Ablösung von der Familie bei, insbesondere schizophren erkrankten, Jugendlichen als spannungsgeladen beschrieben (Hildenbrand, 1991). Dabei wird die These vertreten, dass die Innen-Außen-Problematik, also die Herstellung eines binnenfa-milialen Zusammenhangs einerseits und einer Adaptation an ein extraafamilales Milieu ande-rerseits ein spezifisches Strukturproblem der Familien Schizophreniekranker ist. Dabei beruft sich Hildenbrand darauf, dass die Schizophrenie besonders häufig im jungen Erwachsenenal-ter erstmalig auftritt, diese psychische Erkrankung demnach als „Krankheit am Erwachsen-werden bzw. NichterwachsenErwachsen-werdenkönnen“ beschrieben Erwachsen-werden kann (S. 11). Hier wird nicht allein die innere Problematik der Familie, sondern die Sozialisation zum Gegenstand gemacht, deren Erfolg sich nach Hildenbrand daran bemisst, ob die Ablösung von der Familie glückt.

Aus klinischen Erfahrungen heraus sind also polare Gegensätze der Eltern-Kind-Beziehung zu einem wichtigen Thema der Forschung geworden. Wenn allerdings das Auffinden unsiche-rer Bindungsstile, paradoxen Beziehungsverhaltens oder missglückter Ablösung psychisch Kranker linear-kausal allein auf vergangene intergenerationale Beziehungserfahrungen und die Beziehungsangebote ihrer Eltern zurückgeführt wird, oder diese Vorgänge als spezifisch

für Familien mit psychisch Kranken charakterisiert werden, ist dies problematisch. Denn Er-gebnisse aus dem pflegewissenschaftlichen Forschungsfeld – zum Teil auch aus der verlaufs-orientierten klinischen Familienforschung zu Expressed Emotion (vgl. v.a. die Beiträge in Katschnig, 1977) – und nicht zuletzt die im Zusammenhang mit Generationenambivalenzen angestellten Überlegungen geben Hinweise darauf, dass der alltägliche Umgang mit psychi-scher Krankheit Anforderungsbedingungen herstellt, durch die Spannungen zwischen Eltern und ihren psychisch erkrankten Kindern möglicherweise verstärkt werden.

Diese Anforderungen stehen in engem Zusammenhang mit politischen, ökonomischen und organisatorischen Vorraussetzungen psychiatrischer Versorgung – man denke an in diesem Zusammenhang gebrauchte Wendungen wie Dilemmas of Support (Stoneall, 1983) und Inti-mität auf Distanz (Katschnig, 2002, der Ausdruck geht ursprünglich auf Rosenmayr & Kö-ckeis, 1965 zurück). Die pflegewissenschaftliche Literatur lenkt den Blick statt auf spezifi-sche Eigenschaften von Familien auf spezifispezifi-sche situative Anforderungen, denen diese ge-genüber stehen, freilich bisher ohne zu beleuchten, welche Konsequenzen dies für die Qualität der Beziehungen ihrer Mitglieder zueinander hat. Diese Lücke kann durch die soziologische Forschung zu Ambivalenzen in Generationenbeziehungen, die durchaus im Verweisungszu-sammenhang mit der Pflegeforschung steht, geschlossen werden.

Darüber hinaus kann das Konzept der Generationenambivalenz, das Spannungsfelder zum Thema macht, der Widersprüchlichkeit die zwischen diesen Forschungsfeldern zu ein und demselben Gegenstand besteht, konstruktiv begegnen. Denn die Notwendigkeit, das Span-nungsfeld von Nähe und Distanz im Erleben und Gestalten von Beziehungen zwischen Eltern und psychisch erkrankten Kindern zum Untersuchungsgegenstand zu machen, ergibt sich aus den Ergebnissen beider hier vorgestellten Forschungsfelder: Die ätiopathogenetische For-schung beschreibt Zwiespältigkeiten in diesen Beziehungen und die ForFor-schung zur Pflegetä-tigkeit und psychiatrischen Versorgung gibt Anregungen dazu, wie diese aus den spezifischen Anforderungen an Generationenbeziehungen psychisch Kranker heraus verstanden werden können.

Familienbeziehungen sind deshalb ein lohnender Gegenstand klinischer Forschung, weil nur hier die wechselseitigen Verschränkungen sichtbar werden, innerhalb derer Krankheit sich auf der einen Seite manifestiert und auf der anderen Seite bewältigt wird. Unabdingbar für die Annäherung an die Familienbeziehungen psychisch Kranker ist jedoch, diese nicht durch die

„pathologische Brille“, sondern unvoreingenommen zu betrachten. Dies kann nur auf der

Basis allgemeingültiger Familientypologien geschehen, die es ermöglichen, Familien auf ei-nem Kontinuum der Gestörtheit oder – positiv gewendet – der Funktionalität einzuordnen.

Eine solche Typologie sollte außerdem den Spannungsverhältnissen, innerhalb derer gerade Generationenbeziehungen gestaltet werden müssen, gerecht werden.

Durch die Neutralität und Offenheit des Ambivalenzkonzeptes und dessen Verankerung in allgemeinen Familien- und Beziehungstheorien wird der Vergleich von Familien, in denen Eltern und Kinder unter verschiedenen Anforderungen versuchen, ihre Beziehungen zu gestal-ten, möglich. Das Ergebnis eines solchen Vergleiches trägt sowohl zum Verständnis gewöhn-licher Familien als auch zum Verständnis besonderer Familien, zum Beispiel psychiatrieer-fahrener Familien, bei. Unterschiede in den Generationenbeziehungen solcher Familien sind nicht einfach nur spezifisch für gewöhnliche oder psychiatrieerfahrene Familien per se, son-dern Ausdruck ihrer spezifischen Organisation in Anpassung an sozial strukturierte Hand-lungsanforderungen.

Die Anforderungen an psychiatrieerfahrene Familien sind nicht unabhängig von denjenigen, die allgemein für Eltern-Kind-Beziehungen gelten, sondern vielmehr erst aus diesen heraus zu verstehen: Der Umgang mit Nähe und Distanz sowie Kontinuiät und Wandel in der gegensei-tigen Beziehung ist eine Herausforderung für alle Eltern und Kinder, unter bestimmten Be-dingungen ist diese Herausforderung jedoch verändert, etwa weil LebensbeBe-dingungen und krankheitsbezogene Verhaltensweisen das Beziehungserleben und -gestalten beeinflussen (s.

Kapitel 6). Zum anderen sind Unterschiede zwischen gewöhnlichen und von Krankheit be-troffenen Generationenbeziehungen auch auf bestimmten Strategien, mit diesen gen umzugehen, zurückzuführen. Erst das Zusammenspiel zwischen situativen Anforderun-gen und Umgangsstrategien jedoch kann den Zustand erklären, in dem sich Generationenbe-ziehungen zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Geschichte befinden.

4. SCHIZOPHRENIE UND SUBSTANZABHÄNGIGKEIT: ZWEI FORMEN