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F AMILIE ALS A NLAGE , F AMILIE ALS U MWELT : G ENEALOGIE VS . G ENERATIVITÄT

2. AMBIVALENZ ALS DEUTUNGSMUSTER IM DISKURS ÜBER PSYCHISCH

2.2 F AMILIE ALS A NLAGE , F AMILIE ALS U MWELT : G ENEALOGIE VS . G ENERATIVITÄT

zug auf Abhängigkeitserkrankungen jedoch weniger als bei schizophrenen Krankheitsbildern.

Der historische Abriss ist in seinem Bezug auf psychische Krankheiten möglichst allgemein gehalten, der Schwerpunkt liegt streckenweise trotzdem auf den schizophrenen Störungen, weil über Suchterkrankungen und ihre formale und familiäre Versorgung weit weniger Litera-tur vorliegt.

2.2 Familie als Anlage, Familie als Umwelt: Genealogie vs. Generativität Das Interesse an der Familie psychisch Kranker war, so zeigt der Blick in die Geschichte die-ses Forschungsfeldes, zunächst allein durch die Suche nach Ursachen für die Entstehung der Erkrankung geprägt. Psychisch Kranke wurden in Deutschland seit Beginn des 18. Jahrhun-derts, verstärkt seit dem 19. Jahrhundert und bis vor 30 Jahren, bevorzugt in entlegenen Groß-anstalten untergebracht und weitgehend von ihren Familien abgeschnitten (Bogerts, 2002;

Häfner, 2001; Längle, Mayenberger, & Günthner, 2001; Shorter, 1999; vgl. auch die Über-sicht zur Geschichte der badischen Psychiatrie bei Faulstich, 1983). Die Beziehung des Kran-ken zur Familie zum Zeitpunkt der Erkrankung selbst interessierte also kaum.3 Vielmehr war der Blick derjenigen, die Faktoren für die Krankheitsentstehung in der Familie des Kranken suchten, auf die Vergangenheit gerichtet und man betrachtete familiäre Faktoren als Anteze-denz und die psychische Krankheit als Konsequenz.

Wenn die Familie zum Gegenstand ätiologischer Forschung in der Psychopathologie gemacht wurde4, so gab es zunächst zwei grundsätzliche Positionen dazu, welcher Art der familiäre Einfluss auf die Krankheitsentstehung sei: Entweder es wurde eine familiäre Weitergabe ge-netischer Krankheitsfaktoren oder aber eine sich auf der Beziehungsebene manifestierende Transmission pathogenen Verhaltens postuliert.

3 Es gab allerdings bereits im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts eine frühe sozialpsychiatrische Bewegung, welche die Sozialpsychiatrie als Psychiatrie außerhalb der Institution definierte (Finzen, 1996).

Diese frühen sozialpsychiatrischen Bemühungen endeten allerdings in Deutschland mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und setzten nach dem Krieg erst mit erheblicher Zeitverzögerung wieder ein. Eine Ausnahme unter den Psychiatern seiner Zeit bildet z.B. auch Eugen Bleuler, der schon verhältnismäßig früh versuchte, die Therapie der von ihm benannten Störungen der Gruppe der Schizophrenien (Bleuler 1911) so zu gestalten, dass eine Teilnahme der Erkrankten am gesellschaftlichen Leben wieder möglich wurde (vgl.

Stotz-Ingenlath, 2000).

4 Neben der hier betrachteten Beschäftigung mit familiären Ursachen machten die Vertreter der noch jungen Disziplin Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts auch andere Faktoren zum Gegenstand ätiologischer Ü-berlegungen. So hielten die Vertreter der moralisierenden romantischen Psychiatrie einen unsittlichen Le-benswandel für ursächlich für die Entwicklung psychischer Krankheiten. Dagegen widmeten sich die Vertre-ter einer naturwissenschaftlichen Psychiatrie hirnbiologischen Faktoren und nach der Entdeckung, dass die Progressive Paralyse durch eine bakterielle Infektion (Syphillis) verursacht wurde, erlebte diese Forschungs-richtung steigende Akzeptanz (vgl. Bogerts, 2002).

Vertreter der biogenetischen Sichtweise gingen seit dem frühen 20. Jahrhundert von einer Erblichkeit psychischer Krankheiten aus und hatten daher die Verwandten des Kranken als Überträger von Erbgut im Blick. Familie wurde hier als rein körperliche Verwandtschaft defi-niert, somit handelt es sich also um eine genealogische Sichtweise, in welcher auch der Beg-riff der Generation schlicht als die biologische Tatsache der Elternschaft verstanden wird (vgl.

zum Begriff der Generation Lüscher, im Druck; Lüscher & Liegle, 2003). Sie baut außerdem auf der erstmals von Griesinger postulierten Annahme auf, Geisteskrankheiten seien Hirn-krankheiten und somit rein körperlicher Natur (Griesinger, 1845).5 Die Sichtweise, zumindest die Schizophrenie sei bedingt durch erbliche familiäre Vorbelastung, wurde von den meisten Psychiatern zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einschließlich Freuds, Bleulers und Kraepelins, geteilt und stützte sich auf eine 1916 von Ernst Rüdin durchgeführte Studie des familiären Erkrankungsrisikos (vgl. die Darstellung in Gottesman, 1993).

Die Tatsache, dass auf der Basis biogenetischer ätiologischer Modelle in vielen europäischen Ländern und den USA namhafte Psychiater – mit oder ohne gesetzlicher Absicherung – euge-nische Maßnahmen (z.B. Zwangssterilisationen) befürworteten bzw. ihrer Durchführung zu-stimmten und sich nicht wenige später zu Handlangern der organisierten Ermordung von Psy-chiatriepatienten im nationalsozialistischen Deutschland machten, belastet bis heute das Bild der biogenetischen klinischen Familienforschung. Sie hat sicherlich nicht wenig dazu beige-tragen, den Konflikt zwischen den Vertretern der genetischen und der psychosozialen klini-schen Familienforschung zu verschärfen, bzw. die biogenetische Forschung in den Augen sozialwissenschaftlich orientierter Forscher zu diskreditieren.6

Vertreter psychosozialer Sichtweisen, die sich mit familiären Faktoren in der Krankheits-entstehung beschäftigen, nahmen von Beginn an eine gänzlich andere Position ein als die Vertreter biogenetischer Theorien: Für sie lag der Schlüssel zum Verständnis der Ursachen

5 Mit dieser Wahrnehmung psychopathologischer Symptomatik, so Katschnig, (1977, S. 3) erhielten „Halluzina-tionen, depressive Verstimmungen und Wahnideen den gleichen logischen Stellenwert wie Fieber, Gelbsucht und Zuckerausscheidung im Harn“ als Symptome körperlicher Krankheiten – ganz nach dem Vorbild der Progressiven Paralyse.

6 So hatte Rüdin 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wesentlich mitgestaltet (Huonker, 2003). War die These von der familiären Erblichkeit zuvor versehen mit der Konnotation von Schicksalhaf-tigkeit, gewissermaßen als Antipode zu den Annahmen einer moralisierenden Psychiatrie, psychische Krank-heiten hätten ihren Ursprung im moralisch verwerflichen Lebenswandel der Erkrankten (Anz, 2003), so stellte die Eugenik den menschenverachtenden Versuch dar, durch „Rassenhygiene“ diesem Schicksal entgegenzu-treten. Zur Rolle der schweizerischen Psychiatrie bei der Eugenik vgl. Huonker (2003); Faulstich (1993) gibt eine Übersicht über die – im nationalsozialistischen Jargon „Euthanasie“ genannte – organisierte Tötung psy-chisch kranker Patienten an badischen psychiatrischen Anstalten in den Jahren 1940-1941.

psychischer Krankheit in Beziehungserfahrungen, die der Erkrankte in seiner Familie, genau-er: in Auseinandersetzung mit den Eltern, gemacht hatte. Familie wurde vor allem als Ver-bund interagierender Persönlichkeiten verstanden, es interessierte nicht die genetische, son-dern die psychosoziale Transmission zwischen den Generationen. Gegenstand war also ge-wissermaßen eine Form des Generationenlernens, und somit auch eine Form der Generativität (s.o.; vgl. Lüscher, im Druck). An psychischer Krankheit interessierten die Vertreter dieser Theorien nicht deren biologischen Korrelate, sondern ihr Ausdruck im Sozialverhalten. Schon die Anfänge einer institutionalisierten Psychiatrie im 19. Jahrhundert waren durch den vom Idealismus getragenen Gedanken geprägt, psychische Krankheit gehe auf eine Entordnung der Vernunft aufgrund fehlgeleiteter Erziehung in Familie und Umwelt zurück. Demenstprechend war die Isolierung der Kranken von ihrer angeblich pathologischen Umgebung ein erstes Ziel ihrer Unterbringung in der „’idealen Heilanstalt’ in idealer Umgebung von einem idealen Psychiater geleitet“ (Häfner, 2001, S. 75-76, Hervorhebungen im Text).

Einen ersten Anstoß hin zu systematischer ätiologischer Forschung in dieser Richtung gab der Soziologie Ernest Burgess (Jacob, 1987). Dieser regte in einem 1926 veröffentlichten Artikel an, die Rollen der Familienmitglieder und ihre wechselseitigen Beziehungen und Interaktio-nen in der an die Moderne angepassten Kleinfamilie zum Gegenstand soziologischer bzw.

sozialpsychologischer Forschung zu machen. Dabei deutet er anhand einer Fallgeschichte vage an, eine so ausgerichtete Forschung könne sozial abweichendes Verhalten einzelner Fa-milienmitglieder oder gar die Entwicklung einer psychischen Krankheit erklären (Burgess, 1926).7

In den 1930er Jahren begann die zweite Generation der Psychoanalytiker, auf der Suche nach den sogenannten Ich-Funktionen Objektbeziehungstheorien zu entwickeln, die mittels der Vorstellung von Selbst- und Objektrepräsentanzen erklären sollten, wie das Selbst8 die Bezie-hungen zu Anderen und die Anderer zu sich erlebt. Diese Überlegungen waren Teil einer psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, die immer auch Annahmen zur Psychopatho-logie machte, sich dabei jedoch schwer tat, zwischen normalen und krankmachenden

Ent-7 „Among all the many questions that might be asked, one interests me the most. What is going on in the inner life of William? What changes are taking place in his conception of himself and of his attitude toward his fa-ther, that may lead him to rebel, or to escape, or to go insane?“ (Burgess, 1926, S. 8).

8 Die erste psychoanalytische Definition dieses Begriffes lieferte Hartmann (1964)

wicklungsfaktoren zu unterscheiden.9 Diese Theorien blieben, ganz im Sinne der Psychoana-lyse, individuumszentriert und setzten sich kaum mit der Natur der Interaktionen zwischen Familienmitgliedern auseinander. Sie hatten die individuelle Entwicklung der Selbst- und Objektrepräsentanzen des Individuums zum Inhalt, die zwar als internalisiertes Spiegelbild v.a. von Mutter-Kind-Beziehungen gedacht waren, welche aber nur ungenau beschrieben wurden.

Für psychosoziale Theorien zur Ätiologie psychischer Krankheiten, die auf psychoanalyti-schen Objektbeziehungstheorien aufbauten, wurde folgende These Fromm-Reichmanns sym-ptomatisch: Der schizophren Erkrankte sei „schmerzhaft misstrauisch und empfindlich ge-genüber anderen Menschen, da er früh mit Verbiegung und Ablehnung seitens wichtiger Menschen seiner Kindheit konfrontiert wurde, in der Regel vor allem durch eine schizophre-nogene Mutter“ (Fromm-Reichmann, 1948, Nachdruck 1980, S. 163-164, Übersetzung AB).10 Es steht zu vermuten, dass – gerade aufgrund ihrer linear-kausalen Schlichtheit – diese An-nahme besonders rasche und dauerhafte AufAn-nahme in implizite Krankheitsmodelle von Klini-kern und Laien fand.

Vermutlich über den Psychiater Don D. Jackson, der unter Fromm-Reichmann in der Behand-lung schizophren Erkrankter tätig war (vgl. Marc & Picard, 1991) hielt die These, Eltern-Kind-Beziehungen seien der Schlüssel zum Verständnis abweichenden Verhaltens, Einzug in die Arbeit einer Forschergruppe, deren Double-Bind-Hypothese, 1956 veröffentlicht, großen Einfluss auf die Bemühungen, die Schizophrenie zu verstehen, haben sollte (Bateson, Jack-son, Haley, & Weakland, 195611). Allerdings wurde mit dieser Arbeit das Feld der Psycho-analyse vollständig verlassen: Das erklärte Ziel der Forscher um den Anthropologen Gregory

9 Ein Beispiel für dieses Changieren zwischen Normalität und Pathologie ist das entwicklungspsychologische Stufenmodell von Melanie Klein, in dem eine paranoid-schizoide Position der depressiven Position vorangeht (vgl. Segal, 1974).

10 Hier sei angemerkt, dass es „die“ Objektbeziehungstheorie im Grunde nicht gibt und zwischen den verschie-densten Ausgestaltungen dieser Denkrichtung, bis auf den allgegenwärtigen Rekurs auf Freud, Verweisungs-zusammenhänge fehlen. Als wichtige Vertreter seien Fairbairn, auf den sich Fromm-Reichmann bezieht (vgl.

z.B. Fairbairn, 2000, mit Beiträgen Fairbairns aus den 1940er bis 1960er Jahren), Klein (vgl. die Darstellung in Segal, 1974) Hartmann, Spitz und Mahler (vgl. die Darstellungen in Black & Blanck, 1978) genannt. Mah-ler beispielsweise widersprach der linear-kausalen Sichtweise Fromm-Reichmanns, indem sie anmerkte, dar-an, wie die Beziehung zwischen Mutter und Kind sich entwickele, seien auch die Vorraussetzungen die das Kind mitbringe beteiligt (vgl. Blanck & Blanck, 1978).

11 Auf persönlichen Kontakt der Autoren zu Fromm-Reichmann wird in dieser Arbeit explizit verwiesen.

Bateson war die Anwendung der Prinzipien der Systemtheorie und Kybernetik auf die Sozi-alwissenschaften, insbesondere die Erforschung der menschlichen Kommunikation.12 Vermutlich war es der erwartete Nutzen einer Kommunikationstheorie für die praktische psy-chiatrische Arbeit, die vor allem Psychiater mit Interesse erfüllte – alle Mitarbeiter Batesons von 1956 waren psychiatrisch oder psychotherapeutisch tätig. So beschloss die Gruppe von Palo Alto13, die „gestörte Kommunikation von Schizophrenen als Extremfall eines allgemei-nen Konfliktes“ zu untersuchen (Marc & Picard, S. 173-174) Es wurde eine Theorie der Schi-zophrenie entworfen (Bateson et al., 1956) deren Kernstück die Double-Bind-Hypothese wur-de. Diese beschreibt, wie paradoxe Kommunikationen pragmatischer Art, also paradoxe Handlungsanweisungen, die Interaktionen so stark verzerren, dass es zu Gefährdungen der geistigen Gesundheit kommen kann. Danach sind paradoxe Handlungsanweisungen undurch-führbar, gleichzeitig aber verlangt das Quid pro quo der Interaktion, über das die Beziehung stabil gehalten wird, auf diese zu reagieren. Die Schizophrenie wurde so zu einer Störung der Kommunikation erklärt, die sich als Versuch des erkrankten Familienmitgliedes ergibt, mit paradoxen Handlungsanweisungen umzugehen, die Symptomatik der Schizophrenie fungiert als Beziehungsregel und trägt so zur Aufrechterhaltung der Beziehung bei.

Zentral für die Double-Bind-Hypothese, die zumindest in ihrer ersten Fassung den schizo-phren Erkrankten eindeutig als Opfer paradoxer Kommunikation definiert14 (vgl. Cierpka, 1989) ist die Annahme, das abweichende Interaktionsverhalten Schizophreniekranker ließe sich allein aus dem Verhalten der Personen im System Familie verstehen, nicht dagegen um-gekehrt das Verhalten dieser systemischen Einheiten aus dem Umgang mit einer zumindest

12 Rein formal beschreibt die Systemtheorie, die auf Arbeiten des Biologen Ludwig von Bertalanffy vom Ende der 1920er Jahre zurückgeht, wie Systeme sich Ober- und Untersysteme organisieren, wobei Bertalanffy fest-stellt, dass es sich bei lebenden Organismen um offene Systeme handelt, die durch Input und Output im Aus-tausch mit der Umwelt und durch sogenannte Schleifen oder Feedback Prozesse untereinander in Wechselbe-ziehung stehen. Bertalanffy übernahm wesentliche Grundprinzipien der Kybernetik, als deren Begründer der Mathematiker und Pionier der Computertechnologie Norbert Wiener gilt. Er richtete sich damit gegen mecha-nistisch-reduktionistische Modelle in den Naturwissenschaften und kritisierte gleichzeitig die Kybernetik als zu statisch und geschlossen. Die Grundprinzipien dieser sozialwissenschaftlichen System- und Kommunikati-onstheorie sind nachzulesen in Marc und Picard (1991).

13 Der Gruppenname ergab sich, weil Bateson am Veterans Administration Hospital in Palo Alto arbeitete und dort ein Seminar für Studenten der Psychiatrie ins Leben rief.

14 „The necessesary ingredients for a double bind situation, as we see it, are: 1. Two or more persons. Of these, we designate one, for purposes of our definition, as the ‚victim’” (Bateson et al., 1956, S. 253). Die andere Person war in der damaligen Diktion der Gruppe von Palo Alto in erster Linie die Mutter, vom Vater oder Ge-schwistern ist erst zweitrangig die Rede. Auch hier, wie schon bei Fromm-Reichmann sind zeithistorische Einflüsse spürbar, indem die generative Beziehung zwischen Eltern und Kindern normativ auf die Mutter-Kind-Beziehung reduziert wird.

zum Teil körperlich zu verstehenden Krankheit. Hier schlug sich linear-kausales Denken nie-der, das doch eigentlich zentralen Prinzipien der systemtheoretischen Kommunikationstheo-rie15 widerspricht und die Chance vergibt, mittels der Systemtheorie Phänomene auf der Schnittstelle zwischen körperlichen Vorgängen und sozialer Interaktion zu beschreiben.

Bateson revidierte später zwar den Begriff des Opfers,16 verzichtete aber nicht auf die Vor-stellung, auf kommunikationstheoretischer Grundlage eine hinreichende Theorie der Schizo-phrenie geliefert zu haben. Dabei gaben empirische Studien, wenn sie überhaupt methodisch nachvollziehbar durchgeführt wurden, eher einen Hinweis darauf, dass paradoxe Kommunika-tion ein ubiquitäres Phänomen in allen Familien und keineswegs spezifisch für Familien schi-zophren erkrankter Menschen ist (s. das Fazit bei Hahlweg, Dürr, & Müller, 1995; s. auch Vaughn & Leff, 1977). Somit wurde zwar erklärt, dass alle Elemente des Systems Familie bei der Herstellung schizophrenen Verhaltens eines Mitglieds gemeinsam in einen kreisförmigen Prozess ohne Anfang und Ende, Ursache und Wirkung17 verstrickt sind, dennoch hatte die Aussage, diese Interaktionen im System allein verursachten schizophrenes Verhalten, weiter Bestand. Dadurch blieb zunächst die Möglichkeit verschlossen, körperliche Faktoren und Faktoren der gesamten Familienökologie in das Verständnis der schizophrenen Erkrankung mit einzubeziehen.

Auch für Störungen im Zusammenhang mit Substanzabhängigkeit wurden, in systematischer und über Fallstudien hinausgehender Form allerdings erst seit Mitte der 1970er Jahre, system-theoretische Modelle entwickelt (einen Überblick bieten Thomasius, 2002; Tretter, 1998;

Villiez, 1986). Thomasius nennt rückblickend als zentrale These dieser Ansätze vor allem die Idee, der Substanzmissbrauch sei das Symptom von Versuchen, Ablösungsprobleme zu be-wältigen und Nähe und Distanz zu Familienmitgliedern zu regulieren. Die substanzabhängige

15 So heißt es u.a., dass alle Elemente eines Systems, z.B. eines Organismus, miteinander in wechselseitiger Beziehung stehen, ein Vorgang, für den der Vater der Kybernetik, Norbert Wiener die Bezeichnung Schleife wählte und der als Prinzip des Feedback Eingang in die sozialwissenschaftliche Systemtheorie fand. Die Art dieser Rückkopplungen bestimmt die Funktionsweise des Systems und die Folge ist, dass Erscheinungen komplexer Systeme nicht die Folge einfacher Kausalketten sein können, sondern immer mehr sind als einfa-che Aggregate unabhängiger Elemente (Prinzip der Totalität, zirkuläre Kausalität) (vgl. die Darstellung in Marc & Picard, 1991).

16 “The most useful way to phrase double bind description is not in terms of a binder and a victim but in terms of people caught up in an ongoing system wich produces conflicting definitions of the relationships and conse-quent subjective distress” (Bateson, 1969, S. 157)

17 Dies entspricht dem Prinzip der Äquifinalität, nach dem offene Systeme in einen Zustand geraten können, der nicht durch ihre Anfangsbedingungen sondern allein durch Systemparameter determiniert ist (vgl. Marc & Pi-card, 1991).

Person wird nicht isoliert als Individuum mit einer speziellen Krankheit, sondern als Sym-ptomträger einer familialen Dysfunktion betrachtet, die mit ihrer Erkrankung zur Aufrechter-haltung der Familienhomöostase beiträgt (Kaufman & Kaufman, 1983).

Auch hier entstanden linear-kausale Annahmen zur psychosozialen Ätiologie – entsprechende Ansätze finden sich explizit z.B. bei Schwartzmann (1985) sowie bei Textor (1989) – die aber gleichzeitig schon früh von führenden systemischen Suchtforschern kritisiert wurden (Kauf-mann, 1980). Weiter wurde mit Begriffen wie Süchtige Familie (z.B. bei Schaltenbrand, 1982) oder Alkoholische Familie (z.B. bei Villiez, 1986) gearbeitet, die eine solche Kausalität zumindest implizit nahe legen, wobei von anderer Seite konstantiert wurde, dass dies nicht unwesentlich zur Stigmatisierung der betroffenen Familien beiträgt (vgl. Kindermann, 1992;

Rennert, 1990). Daher werden diese Begriffe heute weitgehend vermieden und die aktuellen systemischen Konzepte zu Substanzabhängigkeit nehmen von impliziten ätiologischen An-nahmen Abstand (Rennert, 1990).

Aufbauend auf der Annahme, das schizophrene Verhalten eines Mitglieds des Systems Fami-lie konstruiere sich erst aus den Interaktionen dieses Systems, erhielten auch Theorien Vor-schub, die psychische Krankheit überhaupt als ausschließlich gesellschaftliches Konstrukt zu entlarven versuchten (Laing, 1967; Scheff, 1967; Szasz, 1961). Diese stellten damit die Be-hauptung auf, der psychisch kranke Mensch sei der einzige, der sich in einer kranken Gesell-schaft bzw. Familie normal verhalte, indem er ihre Regeln breche.18 Spätestens hier waren die Grenzen zwischen bio-genetisch und psycho-sozial orientierten Forschern endgültig abge-steckt. Katschnig fasst diese Situation 1977 folgendermaßen zusammen:

Diese wechselseitig hochgespielte Polarisierung in schmalspurige ‚Schulpsychiater’, die nur an Biochemie und Vererbung glauben, und in großspurig daherkommende ‚Antipsychiater’, die es unter einer totalen Veränderung der Gesellschaftsstruktur nicht machen wollen, oder den ‚Tod der Familie’ (Cooper 1971) wünschen . . ., diese unselige Dichotomisierung in der Frage der Verursachung der Schizophrenie ist für die Behandlung und Betreuung der großen Zahl schon erkrankter Patienten weitgehend irrelevant geblieben (Katschnig, 1977, S. 8).

Dabei stand die psychosoziale Fraktion der biologisch orientierten in ihrem Absolutheitsan-spruch und damit auch in ihrem Reduktionismus in nichts nach, übertraf diese sogar eher

18 Diese Sichtweise ist eng verwoben mit der „kulturellen Fantasie“ (so Lefley, 1998, S. 336) vom verrückten Genie (Laing, 1967).

noch. Auch andere Modelle19 und spätere Formulierungen der systemtheoretischen Schule änderten daran wenig.20 Die Geister, einmal gerufen, perpetuieren sich in jedem Rekurs auf den Begriff des Double-Bind, oder auch nur auf die durch diesen Begriff maßgeblich geprägte Vorstellung einer psychosozialen Genese psychischer Krankheiten aufs Neue. Die biogeneti-schen Forscher dagegen mussten schon früh erkennen, dass empirische Studien eine alleinige Verursachung der Schizophrenie durch Vererbung nicht nachweisen konnten21 und waren daher schon relativ früh grundsätzlich offen gegenüber Theorien, die andere ätiologische Fak-toren betonten. Jedoch verfing man sich hier lange in der Aufgabe, die Anteile von Anlage und Umwelt an der Erklärung psychopathologischer Varianz auseinander zu halten, anstatt sich der Interaktion zwischen beiden Variablen zu widmen (Meaney, 2001; Rutter, 2003).

2.3 Familie als Risikofaktor vs. Familie als Ressource im Krankheitsverlauf