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P ROBLEMGESCHICHTLICHE L ITERATURANALYSE : V ORBEMERKUNGEN

2. AMBIVALENZ ALS DEUTUNGSMUSTER IM DISKURS ÜBER PSYCHISCH

2.1 P ROBLEMGESCHICHTLICHE L ITERATURANALYSE : V ORBEMERKUNGEN

Ausein-andersetzung mit psychisch Erkrankten in Familien in der Vergangenheit angenommen hat.

Zu welchen Denkmodellen führte diese Auseinandersetzung und welchen Nutzen haben ihre Ergebnisse für zukünftige Forschung und Praxis? Die Idee, die Generationenbeziehungen psychisch Kranker im Hinblick auf Generationenambivalenzen zu untersuchen, ging zunächst nicht auf die Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur zurück. Vielmehr gaben u.a. Befragungen von in der Psychiatrie tätigen Experten den Anlass, sich den Besonderheiten der Beziehungen zwischen psychisch kranken Erwachsenen und ihren Eltern mit Hilfe des Ambivalenzbegriffs zu nähern. Bald jedoch wurde klar: Nicht allein die Generationen-beziehungen psychisch Erkrankter sind spannungsgeladen – die wissenschaftliche Literatur, die sich mit ihnen auseinandersetzt, ist es auch. Nicht umsonst fragen sich auch Experten (so z.B. in Dörner, Egetmeyer, & Koennig, 1987), welche Literatur man Angehörigen psychisch Kranker überhaupt empfehlen könne. Betrachtet man das gesamte Feld der theoretischen und empirischen Aktivitäten, so fallen Gegensätze auf, die dem interessierten Leser auf der Suche nach einem besseren Verständnis von Familien psychisch Kranker als schwer auflösbar er-scheinen können.

Die Übersicht über die Literatur geschieht hier mit dem Ziel, eine Grundlage für die Frage-stellung und Herangehensweise dieser Arbeit zu schaffen, um diese weder im wissensleeren Raum noch auf dem Boden eilig herangezogener Theorien und Modelle verkümmern zu las-sen. Die Literatur zum Thema wird verstanden als eine Form des schriftlich festgehaltenen Diskurses, der eine historische Dynamik aufweist. Zunächst lässt sich eine hohe Diversität im

Reden und Forschen über Familien psychisch kranker Menschen feststellen. Sie ist erstens der Komplexität des Gegenstandes, zweitens der Verschiedenheit der beteiligten Fachrichtungen und Interessengruppen und drittens der Einbettung der Forschungsaktivitäten in unterschiedli-che historisunterschiedli-che Zeiträume geschuldet. Soll die Betrachtung dieser Thematik von Nutzen sein, so erfordert dies, dass am Ende eine Ordnung hergestellt wird, ohne dass – um der Eindeutig-keit willen – einfach ein Teil des Forschungsfeldes ausgeblendet wird. Folgende Überlegun-gen leiten diese problemgeschichtliche Analyse:

Aspektivität und Komplementarität. Es erscheint zweckmäßig, in der Auseinandersetzung mit impliziten oder expliziten Modellen zum Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und Familienbeziehungen auf den Begriff des Paradigmas zu verzichten. Dieser wird in histo-rischen Betrachtungen der Psychologie häufig für verschiedenartige Herangehensweisen an ein Thema oder einen Gegenstand hinzugezogen. Im Gegensatz zum Paradigmendenken schlägt Pongratz in seiner Historiographie der Psychologie die Begriffe Aspektivität und Komplementarität vor (Pongratz, 1984): „Der Begriff des Aspektes hat eine subjektive und eine objektive Bedeutung: Im subjektiven Sinne benennt er den Standort des Beobachters, von dem aus er auf einen Sachverhalt blickt. Mit Aspekt ist aber auch die von einem be-stimmten Gesichtspunkt aus angeblickte Seite eines Forschungsobjektes gemeint.“ (Pongratz, 1984, S. 7). Komplementarität bedeutet indessen, dass die Aspekte eines gemeinsamen For-schungsgegenstandes einander ergänzen und sich nicht gegenseitig ausschließen müssen.

Pongratz kommt zu dem Schluss, dass damit „die im Paradigmabegriff nahegelegte Unver-einbarkeit neuer mit alter Forschung gestrichen“ ist (Pongratz, 1984, S. 7). Dieser Ansatz eignet sich in besonderem Maße für den hier unternommenen Versuch, die Geschichte des Redens und Forschens über psychische Erkrankungen in Familien nachzuzeichnen. Er hat unter anderem den Vorteil, sich nicht für ein Paradigma entscheiden zu müssen, sondern in aller Bescheidenheit die Anregungen aus früherer Forschung aufnehmen und gleichzeitig aus ihren Schwachstellen lernen zu können. Er ermöglicht weiterhin, dem Gegenstand durch eine multiperspektivische Herangehensweise möglichst gerecht zu werden.

Ökologische und handlungsorientierte Betrachtungsweise. Eine Annäherung an den hier betrachteten Forschungsgegenstand unter den Vorzeichen der Aspektivität und Komplementa-rität erfordert nicht allein, das Feld der Wissenschaft und damit lediglich Forschungsergebnis-se zu betrachten, sondern auch, sich dem alltäglichen Reden über Familie und psychische Krankheit zuzuwenden. Das bedeutet zum Einen, die Perspektiven und Erfahrungen der be-troffenen Familien selbst darzustellen, da diese kein passiver Forschungsgegenstand, sondern

aktiver Teil des öffentlichen Diskurses sind. Zum Anderen soll das Augenmerk auch auf die Implementierung wissenschaftlichen Wissens in der psychiatrischen Praxis gelenkt werden und – interessanter noch – auf die Implikationen von Praxisanforderungen für die Entwick-lung wissenschaftlicher FragestelEntwick-lungen. Dies führt wiederum zu der Notwendigkeit, den Gegenstand von Beginn an ökologisch zu betrachten, was bedeutet, die Lebenswelt von For-schern, Behandlern und Betroffenen als komplexes Wirkungsgefüge zu verstehen. Lefley (1998) beschreibt, dass bei der Definition dessen, was psychischer Krankheit eigentlich ist, ein fließender transaktionaler Prozess zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen stattfindet.

Zu diesen zählen die Erkrankten selbst, betroffene Familienangehörige, in der professionellen Betreuung Tätige sowie Personen, die innerhalb der Gesundheitsfürsorge, sozialen Sicherung, im Zivil- und Strafrecht tätig sind. Hier wird daher ein Beziehungsgefüge aus dem psychisch erkrankten Menschen, den Mitglieder seiner Familie, und den mit diesen und untereinander in Beziehung stehenden Gruppen und Institutionen zum Gegenstand der Analyse gemacht, wo-bei beachtet werden muss, dass die Interessen dieser Anspruchsgruppen keineswegs identisch sind (Katschnig, 2002).

Unser aller Annahmen darüber, wie die Natur psychischer Krankheit und die Rolle der Fami-lie bei ihrer Entstehung, ihrem Verlauf und ihrer Bewältigung zu verstehen ist– schon die Fragen, die wir uns zu diesem Gegenstand stellen, nämlich die nach Entstehung, Verlauf oder Bewältigung –werden also keineswegs allein von den Überlegungen und Ergebnissen der Wissenschaftsgemeinde geprägt. Vielmehr ist dies lediglich eine weitere Gruppe, die Wissen mit den zuvor genannten Gruppen austauscht sowie Werte und Normen teilt und aushandelt.

Auch die wissenschaftliche Herangehensweise an die Familien psychisch Kranker ist Teil dieses Geflechts und spiegelt daher oftmals zeithistorische Einflüsse wieder. Aus gesellschaft-lichen Veränderungen ergeben sich neue Handlungsanforderungen, welche die wissenschaft-liche Sicht auf Sachverhalte, z.B. auf Familien psychisch Kranker, entscheidend verändern.

Von verschiedener Seite wird betont, dass eine ökologische Betrachtungsweise von psychisch Kranken in Familien unverzichtbar für adäquates praktisches Handeln im Rahmen der psychi-atrischen Gesundheitsversorgung ist (Koenning, 1987a; Lefley, 1998; Böker & Brenner 1989). Dies ist vor allem deswegen der Fall, weil gerade eine ökologische Sichtweise von vorneherein impliziert, Perspektiven zu beleuchten, die sich einerseits aus unterschiedlichen Handlungsanforderungen ergeben, andererseits aber auch das Handeln bestimmen. Ein ökolo-gischer Blick auf das Forschungsfeld, das hier analysiert werden soll, erfordert also, die

ratur auch als Produkt wissenschaftlichen Tätigseins zu begreifen, das sich aus den Anforde-rungen eines bestimmten soziohistorischen Zusammenhangs ergeben hat.

Ambivalenz als Deutungsmuster: Diskursive Ambivalenzen als Gegenstand der Analy-se.2 Immer dann, wenn in einer diskursiven Auseinandersetzung Polaritäten aufscheinen, die scheinbar unvereinbar sind und aus den am Diskurs Beteiligten Konfliktparteien machen, bietet es sich an, zum Zwecke der Analyse das Konzept der Ambivalenz als Deutungsmuster einzusetzen (s. dazu Lüscher, im Druck). Gleiches gilt, wenn bei der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand Fragen auftauchen, die zu widersprüchlichen Aussagen, Entweder-Oder-Vereinfachungen oder oft als unpräzise verschmähten Sowohl-Als-Auch-Darlegungen Anlass geben. Bei genauerer Betrachtung der Literatur zu psychisch Erkrankten in Familien scheinen diese Vorraussetzungen gegeben, denn zu diesem Thema wurden in der Vergangenheit hitzige Debatten geführt, an denen nicht allein Vertreter der Wissenschaft, sondern zunehmend auch Angehörigenverbände beteiligt waren. Programmatische Titel von Veröffentlichungen wie Freispruch der Familie (Dörner, Egetmeyer & Koenning, 1987) oder From Blaming to Ca-ring (Kane, 1994), Metaphern wie „’kalter Krieg’ zwischen biogenetisch orientierten und psychosozial, familientheoretisch orientierten Forschern und Klinikern“ (Gottesman, 1993, S.178) lassen schon bei einem ersten Blick auf die Literatur auf Konflikte im Forschungsfeld schließen.

Es ist dies außerdem ein Gebiet, in dem sich zahlreiche Schnittstellen ergeben, sei es die zwi-schen verschiedenen Fachrichtungen auf der Ebene wissenschaftlicher Erkenntnis oder jene zwischen verschiedenen Interessengruppen auf der Ebene praktischen Alltagshandelns. Wei-ter ergeben sich zwischen diesen beiden Ebenen selbst, vor allem in der psychiatrischen Pra-xis, Schnittstellen, an denen der Übergang von Theoriewissen in professionelles Handeln, die Berücksichtigung der Befindlichkeit der Beforschten bei der Entwicklung von Forschungsfra-gen und Formulierung von Theorien, sowie die Kooperation zwischen verschiedenen Interes-sensgruppen geleistet werden muss. Es sind dies Aufgaben, die vielfach als notwendig (Bö-ker, 1992), aber auch als schwierig zu bewerkstelligen beschrieben werden (Hatfield, 1987, 1997). Es liegt nahe zu vermuten, dass sich aus den Perspektiven, die aufgrund verschiedener

2 Mit der Wendung Diskursive Ambivalenzen führe ich einen neuen Begriff ein, der für die Ambivalenztheorie möglicherweise nützlich ist. Ambivalenzen werden nicht allein erfahren, sondern auch im Diskurs ausge-drückt. Auch können Gegensätze, die für den einzelnen Diskursteilnehmer nicht offensichtlich sind, weil er nur seine eigenen Positiion sieht, in der Auseinandersetzung mit anderen Diskursteilnehmern offenbar wer-den.

Handlungsanforderungen an diesen Schnittstellen aufeinander treffen, polare Spannungsfelder in den Sichtweisen konstruieren lassen.

Die Literatur, die diesem Wissens- und Handlungsfeld entstammt, soll hier mittels eines prob-lemgeschichtlichen Überblicks analysiert werden, indem nach Mustern gesucht wird, die er-kennen lassen, dass Gegensätze Gegenstand des betrachteten Diskurses sind. Diese können als Ambivalenzen im Reden über Familien psychisch Erkrankter gedeutet werden, wenn sie erstens innerhalb des Forschungsfeldes als unauflösbar scheinen, d.h. sich offensichtlich für die eine oder andere Position entschieden werden muss, um am Diskurs teilzunehmen. Zwei-tens sollten diese Gegensätze für die Identitäten der zum Diskurs Beitragenden von Belang sein, ihre Positionierung in diesem Spannungsfeld also Wesentliches zu ihrem Selbst-Verständnis als Forscher, als psychiatrisch Tätigem oder als betroffenem Vertreter von Inte-ressen der Angehörigen oder psychisch Erkrankten beitragen. Diese Gegensätze betreffen – soviel sei vorab gesagt – zum einen die Definition psychischer Krankheit und zum anderen die Definition der Rolle der Familie bei deren Entstehung, Verlauf oder Bewältigung. Es wer-den also zunächst Ambivalenzen zum Gegenstand der Analyse gemacht, die sich nicht auf inhaltlicher Ebene der einzelnen Theorien und Modelle, sondern auf einer Metaebene des Diskurses finden lassen.

Ein weiter Blick auf psychische Krankheit. Das klinische wie auch das wissenschaftliche Interesse an den Familien psychisch Kranker war und ist vor allem auf eine bestimmte Grup-pe von Störungen zentriert, die zunächst von KraeGrup-pelin dementia praecox und später von Bleuler Gruppe der Schizophrenien genannt wurden (Kraepelin,1893; Bleuler, 1911). Jedoch hat fast jeder theoretische Ansatz, von dem in der Folge die Rede sein wird, sowohl die For-schung als auch die Anwendung dieser Modelle in der klinischen Praxis in Bezug auch auf andere psychische Störungen inspiriert. In der öffentlichen Wahrnehmung psychischer Krankheit wird ohnehin kaum zwischen verschiedenen psychischen Störungen differenziert.

In dieser Arbeit sind neben schizophrenen Störungen auch die Gruppe der Abhängigkeiten von verschiedenen psychogenen Substanzen von Interesse. Dennoch ist die Geschichte der Auseinandersetzung mit Familien psychisch Kranker in weit stärkerem Maße die Geschichte des Umgangs mit Schizophrenien und anderen schweren Psychosen und weniger die schichte des Umgangs mit Suchterkrankungen. Familien Suchterkrankter sind seltener Ge-genstand – schriftlich festgehaltener – wissenschaftlicher und allgemein öffentlicher Diskurse.

Einiges, was hier beschrieben wird, gilt auch für die – jüngere – Geschichte des Umgangs mit Suchterkrankten. Insbesondere die Frage der dauerhaften Hospitalisierung stellte sich in

zug auf Abhängigkeitserkrankungen jedoch weniger als bei schizophrenen Krankheitsbildern.

Der historische Abriss ist in seinem Bezug auf psychische Krankheiten möglichst allgemein gehalten, der Schwerpunkt liegt streckenweise trotzdem auf den schizophrenen Störungen, weil über Suchterkrankungen und ihre formale und familiäre Versorgung weit weniger Litera-tur vorliegt.

2.2 Familie als Anlage, Familie als Umwelt: Genealogie vs. Generativität