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6. GENERATIONENBEZIEHUNGEN PSYCHISCH KRANKER UND PSYCHISCH

6.1. H INTERGRUND

Generationenbeziehungen müssen immer in den Spannungsfeldern von Nähe und Distanz bzw. Bewahren und Erneuern gestaltet werden und erfordern häufig ambivalente Entschei-dungen über Fragen der Ablösung oder Zuwendung, Kontinuität oder Veränderung – je nach-dem in welcher Phase im Lebenszyklus die Familie sich befindet. Vor nach-dem Hintergrund der Manifestation der Erkrankung auf der Verhaltensebene und der durch nicht-reziproke Fürsor-ge strukturierten Gestaltung der BeziehunFürsor-gen zwischen psychisch Kranken und ihren Eltern lassen sich jedoch besondere Aufgaben herausarbeiten. Von diesen kann angenommen wer-den, dass sie die Situation von Eltern und Kindern so strukturieren, dass ihr Beziehungshan-deln in einem Feld erhöhter polarer Spannung stattfindet.

Generationenambivalenzen vor dem Hintergrund von Sorge und Pflege. Für psychisch Gesunde wie Kranke gilt die Unaufkündbarkeit der Verbindung zwischen Eltern und Kindern.

Der Bereich des Sorgens, Pflegens und Kümmerns dagegen nimmt zwischen psychisch Kran-ken und ihren Eltern einen ganz eigenen Stellenwert ein. Wenn erwachsene Kinder psychisch erkranken, muss ihre Beziehung zu ihren Eltern um Anforderungen herum gestaltet werden, die sich stark von denen gewöhnlicher Familien unterscheiden. Bei der Beschreibung des Lebens von psychisch Kranken in ihren Familien werden seit den 1990er Jahren in der eng-lischsprachigen Literatur verstärkt die Begriffe Care, Caring oder Caregiving verwendet (vgl.

Biegel & Chakravarthy, 1994; Falloon, Boyd, & McGill, 1984; Tessler & Gamache, 2000), teilweise in Verbindung mit dem Begriff des Coping (Hatfield & Lefley, 1987). Der Bedeu-tungsraum, den diese Begriffe eröffnen, ist sehr weit und lässt sich kaum mit einem einzigen deutschen Wort, z.B. Pflege abdecken. Insbesondere das Verb to care hat zahlreiche Bedeu-tungen. In eher handlungsbetontem Sinn ist damit gemeint, sich um etwas oder jemanden zu kümmern, in einem anderen Sinn wird damit die gefühlsmäßige Beziehung einer Person zu einer anderen beschrieben, für die sie sich interessiert, die sie wichtig nimmt, für die sie Zu-neigung empfindet.

Tessler und Gamache (2000) unterscheiden dementsprechend zwischen caring for und caring about, um den handlungsbezogenen Aspekt des Wortes von seinem gefühls- und beziehungs-beschreibenden Anteil zu trennen. Im Folgenden möchte ich, um beiden Aspekten gerecht zu werden, die deutschen Wörter Pflege, Kümmern und Sorge verwenden. In dem Begriff Care-giving sehen Tessler und Gamache ein relativ neues Konzept verkörpert, dass geeignet ist, das Fürsorgeverhalten unter Erwachsenen zu beschreiben, die einander durch Verwandtschaft verbunden sind. Caregiving lässt sich als Konzept auf das Verhältnis zwischen psychisch Kranken und ihren Eltern ebenso anwenden, wie es in der Vergangenheit auf das Verhältnis erwachsener Kinder zu ihren alternden, pflegebedürftigen Eltern bezogen wurde (z.B. bei Call, 1999; Sundström 1990).

Die Implementierung von Pflege in eine Beziehung unter verwandten Erwachsenen, so Tess-ler und Gamache (2000), beinhaltet Rollenveränderungen und führt dazu, dass die Beziehung einen asymmetrischen und nicht-reziproken Charakter erhält. Doch Tessler und Gamache arbeiten auch drei Besonderheiten heraus, die das Konzept gewinnt, wenn es spezifisch auf die Versorgung psychisch Kranker durch Verwandte bezogen wird: Eine durch nicht-reziprokes Kümmern, Sorgen und Pflegen gekennzeichnete Beziehung von Eltern zu ihrem erwachsenen Kind erzeugt erstens verstärkte Abhängigkeiten, die zweitens in hohem Maße sozialen Erwartungen widersprechen, und so drittens zu Unsicherheiten bzgl. der Frage

ren, ob und inwieweit man sich in der Pflege involvieren bzw. inwieweit man diese Hilfe akzeptieren sollte.

Führt man sich vor Augen, dass die Versorgung psychisch Kranker nicht allein die Aufgabe der Verwandten ist, sondern auch in der Verantwortung von Institutionen der staatlichen Ge-sundheitsversorgung liegt, so wird außerdem erkennbar, dass mit der Notwendigkeit von Pflege das Risiko für Diskontinuitäten in der Beziehungsgestaltung steigt. Strukturell unter-scheiden sich die Beziehungen psychisch Erkrankter zu ihren Eltern von gewöhnlichen Gene-rationenbeziehungen also durch spezifische Aufgaben, die im Zusammenhang mit Fürsorge und Krankheitsbewältigung stehen.

Pflege und Sorge in Familien psychisch Kranker wird sowohl von den Beteiligten selbst als auch von Vertretern professioneller Versorgung, wie Ärzten, Therapeuten und Pflegern, durchaus mit gemischten Gefühlen gesehen: Sorgen sich Eltern um ihre psychisch kranken Kinder, so hat das immer auch einen negativen Beigeschmack. Der emotionale Aspekt des Caregiving, die Sorge, wird auch als Risikofaktor im Krankheitsverlauf gesehen, man denke an Konstrukte wie emotional overinvolvement – emotionales Überengagement – in Familien Schizophreniekranker (Brown, Birley, & Wing, 1966) oder Co-Abhängigkeit in Familien Substanzabhängiger (vgl. zur Übersicht Günthner, 1996; Rennert, 1990).42 Tessler und Ga-mache (2000) stellen dazu fest: „Beeing a parent or sibling appears to be related to taking on the role of guardian or controller. . . . Perhaps this is one reason why parents . . . may find themselves labeled as overinvolved by mental health professionals” (S. 62).

Die Unterstützung von psychisch kranken Familienmitgliedern kann außerdem auch für den Pflegenden selbst gleichzeitig belohnende und belastende Anteile haben (Tessler & Gamache, 2000; Veltman, 2002). Im psychiatrischen Setting generiert dies offensichtlich in besonderem Maße Ambivalenzen, bei den Betroffenen ebenso wie bei Experten aus Wissenschaft und psychiatrischer bzw. therapeutischer Praxis. In Kapitel 7 wird darüber hinaus dargestellt wer-den, inwiefern das Pflegen und Sorgen um Substanzabhängige in besonders verstärkter Form für das Erleben von Ambivalenzen disponiert.

Generationenambivalenz und die Manifestation und Interpretation von Differenzen.

Eltern und Kinder unterscheiden sich für gewöhnlich, denn sie befinden sich in

unterschiedli-42 Vgl. zu den Unterschieden von Caregiving und Co-Abhängigkeit Kapitel 7.

chen Lebensabschnitten, haben innerhalb und außerhalb der Beziehung einen unterschiedli-chen Status erworben sowie verschiedene Rollenanforderungen zu bewältigen. Sie sind au-ßerdem jeweils Kinder ihrer Zeit, was sich in einem eigenen Geschmack, von vorherigen bzw.

nachfolgenden Generationen abweichenden Einstellungen, Normen, Werten und Lebensstilen niederschlägt. Dies sind vor dem Hintergrund einer engen, vertrauten, ja intimen und noch dazu unaufkündbaren Beziehung schon genügend Gründe, um hin und wieder Gefühle des Hin- und Hergerissenseins zu empfinden oder sich widersprüchliche Gedanken über den an-deren zu machen.

Kommt allerdings eine psychische Erkrankung hinzu, so erweitert sich dieses Repertoire an Differenzen zwischen Eltern und Kindern wesentlich: Was psychische Erkrankungen für viele so unverständlich – und für andere so faszinierend – macht, ist der Umstand, dass diese sich auf der Verhaltensebene manifestieren und keinen eindeutigen morphologischen, biochemi-schen oder neuronalen Substraten zugeordnet werden können – dementsprechend bauen die modernen Diagnosemanuale auch auf verhaltensorientierten Kriterien auf. Aus diesem Um-stand ergeben sich bzgl. der Differenzen zwischen psychisch kranken Erwachsenen und ihren Eltern zweierlei Besonderheiten:

(a) Zum Einen geht die psychische Krankheit mit spezifischen Verhaltenseigenheiten einher, die sich u.a. auch in der Beziehungsgestaltung niederschlagen können (Grawe, Donati & Ber-nauer, 1995). (b) Zum Anderen ist die Interpretation solchen Verhaltens schwierig, da die Grenze zwischen normalem und krankheitsbedingtem Handeln, zumal bei wenig Erfahrung und mangelnder professioneller Information, nur schwer auszumachen ist, was eine Quelle andauernder Ambiguität darstellen kann. Und der psychisch Kranke selbst wiederum schwankt möglicherweise zwischen Zuständen, in denen seine Wahrnehmung elterlichen Verhaltens krankheitsbedingt verzerrt ist und Phasen diesbezüglicher Klarheit. Diese Diffe-renzen allerdings manifestieren sich vor dem Hintergrund außergewöhnlicher Verbundenheit, die mit den tätigen und den emotionalen Anteilen elterlicher Sorge für das psychisch beein-trächtigte Kind zusammenhängen. Dies – und die generelle Unkündbarkeit der Beziehungen – erklärt, weshalb diese Differenzen Ambivalenzen generieren und nicht eine höhere Wahr-scheinlichkeit für das Aufkündigen der Beziehung zur Folge haben.

Zu (a): Die Feststellung von Differenz. Psychisch Erkrankte nehmen krankheitsbedingt die Welt anders wahr und handeln anders als gewöhnliche Mitglieder ihrer Generation, oft in einem so ausgeprägten Maße, dass ihre Eltern sich schwer damit tun, Verständnis für sie

auf-zubringen. Im Falle der Schizophrenie können diese Verhaltens- und Erlebensveränderungen u.a. in Wahnvorstellungen, Halluzinationen, unlogischem Denken mit gelockerten Assoziati-onen, oder – weniger eindrucksvoll, aber die Sozialbeziehungen umso beeinträchtigender – sozialem Rückzug und Isolation (Lefley, 1987) sowie Apathie, Inaktivität und die Vernach-lässigung persönlicher Hygiene (Koenning,1987) bestehen. Mittlerweile sind zahlreiche Selbstdarstellungen von schizophren Erkrankten und ihren Angehörigen erschienen, die an-schaulich schildern, wie sich die Betroffenen erleben und wie sie von ihren Familienmitglie-dern erlebt werden (vgl. z.B. die Beiträge in Dörner, Egetmeyer, & Koenning, 1987; Gottes-man, 1993; Katschnig, 1977).

Substanzabhängigkeit geht mit eingeengten, auf den Substanzkonsum ausgerichteten Verhal-tensmustern einher, andere Interessen werden zunehmend vernachlässigt, Angehörige werden häufig über den Substanzkonsum getäuscht oder aber in die Beschaffung der Suchtmittel und die Abwehr negativer Suchtfolgen eingebunden, woraus sich eine den Substanzmissbrauch aufrechterhaltende Co-Abhängigkeit (s. zur Übersicht Günthner, 1996; Klein, 2001; Ren-nert,1990) ergibt. Nicht zu vergessen wurde für beide Erkrankungsgruppen ein – moderat – erhöhtes Risiko zur Gewaltausübung gezeigt, wobei sich gewalttätiges Verhalten psychisch Kranker bevorzugt gegen die eigenen Angehörigen richtet (Steinert, 2001) oder in therapeuti-schen Institutionen stattfindet (Estroff, Swanson, Lachiotte, Swartz, & Bolduc, 1998; Steinert, 2002). Hinzu kommen können sozial beschämendes Verhalten in der Öffentlichkeit, das für Angehörige, die sich in der Pflicht sehen, dieses zu kontrollieren, besonders belastend ist (Tessler & Gamache, 2000) sowie Beschaffungskriminalität und Beschaffungsprostitution (s.

dazu Barsch, 1998; Dewald, 2003; Kuntz, 1993).

Jedoch nicht nur die Eltern sind über das Erleben und Verhalten ihrer erkrankten Kinder irri-tiert, auch die Patienten selbst haben auf Seiten ihrer Mütter und Väter Erlebens- und Verhal-tensweisen zu gewärtigen, die Gefühle von Verschiedenheit, Fremdheit und Unverständnis hervorrufen können. Dazu gehört erstens der Eindruck, dass das Erleben in der psychischen Krankheit nicht mit den Eltern geteilt werden kann. Zweitens fühlen sich Eltern psychisch Kranker oftmals gezwungen, Entscheidungen über die Einleitung von Maßnahmen zu treffen, welche die Freiheit ihrer Kinder beschneiden. Dazu gehören Zwangseinweisungen im Sinne

des Unterbringungsgesetzes43 oder die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung44. Auch wenn die Durchführung dieser Maßnahmen durchaus nicht der Willkür der Eltern unterliegt, sondern der Entscheidung eines Richters bedarf, wird deren Resultat häufig den Eltern zuge-schrieben.

Zu (b): Ambiguität bei der Interpretation von Symptomen und Unsicherheit bzgl. des eigenen Verhaltens. Jedoch ist es nicht dieses auf die Symptomatik zurückgehende erhöhte Potential für Differenzen allein, das Ambivalenzen zwischen psychisch Erkrankten und ihren Eltern befördert. Hinzu kommt, dass Eltern diese Differenzen nicht ohne weiteres Faktoren zu-schreiben können, die sich eindeutig als Krankheitssymptome identifizieren lassen. Vielmehr findet, wie Rose (2002) auf der Basis einer qualitativen Befragung berichtet, eine beständige Auseinandersetzung der Familienmitglieder mit mehrdeutigen Interpretationen des Verhaltens und Erlebens des Erkrankten statt.45 Es besteht eine große Unsicherheit bzgl. der Frage, wie viel Vertrauen in die Selbstverantwortlichkeit des Erkrankten gesetzt werden kann und ob das eigene Verhalten ihm gegenüber angemessen ist.

Die Hauptfrage, die sich Angehörige angesichts der psychischen Erkrankung eines Familien-mitglieds stellen, wird von Koennig (1987, S. 26) als „quälend“, „zemürbend“ und unlösbar charakterisiert: „Kann er nicht oder will er nicht?“. Jede Entscheidung für eine dieser Zu-schreibungen hat eine extreme und damit möglicherweise dysfunktionale Form der Bezie-hungsgestaltung zur Folge:

Lässt sich die Familie darauf ein zu sagen ‚er kann nicht’, führt das zu Rücksichtsmaßnahmen, die den eigenen Bedürfnissen und Wünschen kaum noch Platz lassen. Sagt die Familie ‚er will nicht’, mag das die Konflikte dramatisch zuspitzen und wiederum den Betroffenen nicht gerecht werden (S. 26).

43 Das Unterbringungsgesetz ist in der Fassung vom 02.12.1991 in den Gesetzesblättern Baden-Würtemberg, (GBl- Ba.-Wü., S. 794) festgeschrieben und durch Art. 3 des Gesetzes vom 03.07.1995 (GBl- Ba.-Wü., S.

510) geändert worden.

44 Eine gesetzliche Betreuung wird nach §§ 1896 ff des BGB eingerichtet.

45 Rose (2002) beschreibt den Prozess, mit dem Familienangehörige auf die Symptomatik des Erkrankten und die Feststellung einer Diagnose reagieren mit dem auf der Konzeption von Strauss und Glaser (1975) sowie Corbin und Strauss (1988) basierenden Begriff des Normalizing. Für die Beteiligten geht es in diesem Prozess darum, die Kontrolle über eine gemeinsame Lebensführung wiederherzustellen. Er wird begleitet durch ein ständiges Beobachten und Überwachen der Verhaltensweisen des Erkrankten, mit dem Ziel, in diesen einen Sinn ausfindig zu machen und das eigene Verhalten dementsprechend abzustimmen. Dabei wird gleichzeitig immer am Rande der Möglichkeit operiert, dass ein Vertrauen in Sinnhaftigkeit und Verantwortung nicht möglich ist.

Der Erkrankte selbst mag sich solch ambigue Fragen ebenfalls stellen und keine rechte Ant-wort auf die Frage finden, ob die Eltern zu seinem Wohl oder egoistisch, zudringlich oder schützend, vernachlässigend oder im Vertrauen auf seine Selbstbestimmung handeln.

Generationenambivalenz und die Diskrepanz zwischen Normen, Wünschen und Wirk-lichkeit. Psychisch Erkrankte und ihren Eltern können sich in ihrem Beziehungshandeln nicht ohne weiteres an dem messen, was für gewöhnliche Familien gilt, was sie bei ihren Freunden beobachten und was sie möglicherweise als normative Verpflichtung erleben: Ihr Wunsch nach einem idealtypischen Verlauf der Eltern-Kind-Beziehungen und die Anforderungen der Wirklichkeit können in besonders starkem Ausmaß auseinander klaffen. Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind in den Freiheitsgraden ihres Handelns massiv eingeschränkt.

Dies ist zum Einen Bestandteil der Krankheit selbst, zum Anderen ergibt sich dieser Umstand aber auch daraus, wie gesellschaftlich mit psychisch Kranken umgegangen wird. Für psy-chisch Kranke bestehen sowohl Einschränkungen in der Beziehungsfähigkeit als auch ein nicht unbeträchtliches Armutsrisiko. Insbesondere schizophren und abhängigkeitserkrankte Patienten sind von schlechter Integration in den Arbeitsmarkt und – im Vergleich zur Nor-malbevölkerung – niedrigen Einkommens- und ungünstigen Wohnverhältnissen betroffen (Mörchen, Pieters, Weickert, Niederle, Fähndrich, & Voigtländer, 2002).

Die durchschnittliche Behandlungsdauer über alle psychischen Krankheiten gemittelt in deut-schen psychiatrideut-schen Kliniken und Fachabteilungen lag 1996 bei durchschnittlich 29, 8 Ta-gen (Bundesministerium für Gesundheit, 1999). Nach der Psychiatriereform ist die stationäre psychiatrische Versorgung nicht mehr auf die dauerhafte Pflege psychisch Kranker ausgerich-tet. Wenn das psychische Funktionsniveau für ein selbstständiges Leben nicht ausreicht, z.B.

weil die Erkrankung chronifiziert ist, ergeben sich für entlassene Patienten zwei Alternativen:

Erste Alternative ist eine betreute Unterbringung in formal-pflegerischen Institutionen. Ein nicht unbeträchtlicher, auf etwa 100.000 Personen geschätzter Teil vor allem chronisch psy-chisch Kranker ist in Heimen oder heimähnlichen Einrichtungen untergebracht, wobei hier das Risiko unzureichender psychiatrischer Versorgung vermutet wird und adäquate Angebote fehlen (Längle, Mayenberger, & Günthner, 2001).46 47

46 Das Sächsische Staatsministerium z.B. geht allein für Sachsen von 4.926 fehlplatziert in psychiatrischen Ein-richtungen oder Altenpflegeheimen untergebrachten psychisch Kranken aus und der Landeswohlfahrtverband Sachsen berichtet, dass 1997 nur 48% der geplanten Plätze in ambulanten Wohnformen geschaffen wurden (Leiße & Kallert, 2001). Die Umschichtung von Psychiatriebetten in Pflegeheimbetten auch in den USA

Das Leben bei der (Herkunfts-) Familie ist die zweite Alternative, die psychisch erkrankten Menschen bleibt, deren Störung chronifiziert ist, die unter Folgeschäden, einer nicht unbe-trächtlichen Restsymptomatik oder häufigen Rezidiven leiden. Im Falle der Schizophrenie bleibt nicht selten nach einem Rückgang der produktiven Symptomatik wie Wahn oder Hallu-zinationen aufgrund medikamentöser Behandlung eine Minus-Symptomatik zurück, die für die Betreffenden und ihre Familie als noch stärker beeinträchtigend als die Positivsymptoma-tik beschrieben wird (Lefley, 1987) und auch stärker mit dem allgemeinen Funktionsniveau der Patienten zusammen zu hängen scheint (Green & Nuechterlein, 1999). Es ist allerdings davon auszugehen, dass nicht allein die besonders schwer erkrankten psychiatrischen Patien-ten bei ihren Eltern leben. Es liegt zwar meines Wissens keine Repräsentativbefragung vor, die zeigt, wie viele erwachsene psychisch kranke Patienten in Deutschland bzw. in der Schweiz ihren Wohnsitz bei ihren Eltern haben, ältere US-amerikanische Schätzungen gehen allerdings von 35-40% aus (Minkoff, 1978). Ein weiterer Teil der psychisch Kranken lebt zwar nicht bei den Eltern, diese fungieren aber als primäre Betreuungsperson (Cook, Cohler, Pickett & Beeler, 1997). Es ist anzunehmen, dass der Anteil der Patienten, die in besonderem Maße auf ihre Eltern verwiesen sind, umso höher liegt, je früher die Erkrankung ausbricht, so dass der Absprung in ein selbstständiges Leben und die Gründung einer eigenen Familie von Beginn an erschwert wurde. Häfner und an der Heiden (1999) fanden, dass von den 21-35-jährigen schizophren erkrankten Patienten in der ABC-Studie nur 50% einen eigenen Wohn-sitz und ein eigenes Einkommen hatten.

Allein der Umstand, dass eine psychische Erkrankung und die gesellschaftlichen Gegebenhei-ten ihrer Versorgung mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass PatienGegebenhei-ten länger als sonst für ihre Altergruppe üblich ihren Lebensmittelpunkt bei den Eltern behalten, macht deutlich, dass psychisch Erkrankte stärker auf ihre Eltern verwiesen sind als Kinder, die ohne solche Hindernisse den üblichen Weg der Abnabelung vom Elternhaus beschreiten. Es ist zu

anlasst Talbott (1979) zu der Aussage, im Grunde genommen habe keine Deinstitutionalisierung, sondern eine Transinstitutionalisierung stattgefunden. Gleichzeitig stellt er fest, die formal-institutionale Versorgung habe sich von einer Institution auf viele verschieden arbeitende Institutionen verteilt.

47 Das Leben auf der Straße ist für psychisch Kranke kaum als Alternative zu bezeichnen, aber vermutlich nicht selten. Über die Anzahl obdachloser psychisch Kranker in Deutschland ist wenig bekannt, die von Mörchen et al. (2002) 1998 durchgeführte Erhebung an zwei versorgungsverpflichteten Abteilungen zum Einen im klein-städtischen, zum Anderen im großstädtischen Raum, wobei die größten Untergruppen der Stichprobe schizo-phren- und abhängigkeitserkrankte Patienten waren, kommt auf 5,5 – 5,8 % Patienten ohne festen Wohnsitz.

Fichter (2000) bezifferte die Lebenszeitprävalenz von Schizophrenie oder affektiven Störungen bei Obdachlo-sen auf 15-30%, von Abhängigkeitserkrankungen auf 60-70%, womit sich unter ObdachloObdachlo-sen ein weit größe-rer Teil psychisch Erkrankter befindet als in der Normalbevölkerung.

vermuten, dass die Sozialkontakte schizophren Erkrankter Patienten außerhalb der Familie deutlich eingeschränkt sind. Gleiches sollte, zumindest bzgl. hilfreicher, sozial unterstützen-der Netzwerke, für Suchterkrankte gelten. Die generationale Abhängigkeit ist daher von grö-ßerem Ausmaß als von beiden Generationen für den betreffenden Lebensabschnitt erwartet, und dies geht vermutlich mit entgegengesetzten Wünschen und Vorstellungen der Beteiligten einher (Kane, 1994).48 Die Verpflichtung von Eltern, gegenüber einem erwachsenen Kind Fürsorge zu leisten, ist außerdem normativ wenig klar definiert und von Ambiguität begleitet (Tessler & Gamache, 2000): Eine Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, die von intensiver, einseitiger Fürsorge der Eltern strukturiert wird, gilt als abweichend und einer Beziehung unter Erwachsenen nicht angemessen. Die gleiche Unsicherheit sollte für das Ak-zeptieren von Hilfe auf Seiten der Kinder gelten.

Generationenambivalenz, Beziehungs-Diskontinuitäten und Zieharmonikabeziehungen.

Die Beziehung zwischen psychisch Erkrankten und ihren Eltern ist durch besondere krank-heits- und versorgungsbedingte Diskontinuitäten geprägt, die ihrerseits ein spannungsgelade-nes Pendeln zwischen Nähe und Distanz wahrscheinlich machen. Bei schizophren- und ab-hängigkeitserkrankten Patienten sind Rückfälle und episodische Verläufe nicht selten. In einer repräsentativen Studie von Sheperd, Watt, Faloon und Smeeton (1989) erlitten 43% der unter-suchten schizophren Erkrankten innerhalb eines 2-Jahreszeitraums ein Rezidiv, 35% zeigten eine kontinuierlich floride Symptomatik. Auch bei den Störungen durch psychotrope Sub-stanzen wurden Rückfälle ins alte Konsummuster (Marlatt & Gordon, 1985) sowie wellen-förmige oder progredient chronifizierende Verläufe beschrieben (für die Opiatabhängigkeit vgl. z.B. Ladewig, 2000; für die Alkoholabhängigkeit vgl. die Typen der Alkoholabhängigkeit nach Jellinek, 1947, 1960 und die Phasen der Alkoholabhängigkeit nach Feuerlein, 1975; allg.

für Suchterkrankungen Tretter, 1998). Es ist also erstens zu erwarten, dass in der Beziehung von psychisch kranken Kindern und ihren Eltern Phasen relativer Gesundheit und Hoffnung auf Besserung mit Zeiten schwerer Belastung alternieren. Zweitens werden sich häufig Episo-den großer räumlicher Nähe, Verantwortlichkeit für- und Abhängigkeit voneinander mit Pha-sen räumlichen Getrenntseins abwechseln, in denen professionelle Helfer die Verantwortung für den Patienten übernehmen, weil ein Klinikaufenthalt notwendig wird.

48 „ . . . the parents, who were expecting freedom from direct parenting responsibilities, find themselves coping

48 „ . . . the parents, who were expecting freedom from direct parenting responsibilities, find themselves coping