• Keine Ergebnisse gefunden

1. EINLEITUNG

1.1 T HEMATIK , Z IELSETZUNG UND Ü BERBLICK

In der bundesdeutschen Psychiatrie-Enquete von 1975 (vgl. Häfner, 2001) wurde als eine Leitlinie der Psychiatriereform die gemeindenahe Versorgung vorgeschlagen. Diese hat zum Ziel, die betroffenen Kranken in ihrem sozialen Umfeld zu belassen, wodurch die für Rehabi-litation und Wiedereingliederung wichtigen Sozialkontakte aufrechterhalten werden können (vgl. Pfannkuch, 1999). Die Umsetzung dieser Vorgabe in den letzten Jahrzehnten führte zu vermehrten Forderungen nach ambulanten therapeutischen Angeboten – und in geringerem Maße auch zu deren tatsächlicher Etablierung. Es sind aber auch Veränderungen im stationä-ren therapeutischen Setting zu verzeichnen: Die Verweildauern nehmen ab, jedoch wird ver-mutet, dass gleichzeitig die Zahl der Wiedereintritte steigt (Richter, 2001; vgl. für die Schweiz Brühlmann & Binswanger, 2003).

Diese Entwicklung hat für psychisch Kranke und ihre Familienangehörigen eine völlig neue Situation geschaffen (Katschnig 1977; Rose, 1996). Bei einem Teil psychischer Erkrankungen sind v.a. die Herkunftsfamilien, d.h. insbesondere die Eltern der Patienten, betroffen, weil der Krankheitsbeginn – etwa bei der Substanzabhängigkeit oder bei der Schizophrenie – in der Adoleszenz bzw. im jungen Erwachsenenalter liegt. Die Bedeutung der Unterstützung psy-chisch Kranker durch Angehörige, insbesondere Eltern, ist daher ein fester Bestandteil des professionellen Wissens psychiatrisch Tätiger geworden. Dies gilt allerdings nicht für alle Störungsbilder gleichermaßen, für schizophrene Erkrankungen ist die Angehörigenarbeit be-sonders gut etabliert, in Bezug auf die Substanzabhängigeit wird jedoch konstatiert, dass ein Angehörigenprogramm noch unzureichend vorhanden ist (Klein, 2001).

Insgesamt ist eine Entwicklung dahingehend zu verzeichnen, dass die Beziehung von psy-chisch Kranken zu ihren Eltern nicht mehr allein als Risikofaktor für den Krankheitsverlauf, sondern gleichzeitig als Ressource für Therapie und Rehabilitation gesehen wird (vgl. Dörner, Egetmeyer, & Koenning, 1987/1997; Hahlweg, 1986, 1995; Hatfield & Lefley, 1987;

Katschnig, 1977; Kirszen, 1994). Fügt man diese beiden Perspektiven zusammen, so entsteht ein doppeldeutiges Bild von Familien psychisch Kranker. Dies kann als lähmender Wider-spruch, aber auch als Chance für eine realitätsnahe Betrachtung dieser Beziehungen gesehen werden.

Verbessertes Wissen über die Familienbeziehungen psychisch Kranker ist notwenig, um die Familienbeziehungen lösungsorientiert als Ressource innerhalb eines Trialogs von Patienten, Angehörigen und Praktikern bzw. Institutionen (Amering, Hofer & Rath, 2001; Böker, 1992;

Haug, 1994) zu verstehen, ohne Patienten und ihre Angehörigen in ihren Möglichkeiten zu überfordern. Eine Abschiebung der Verantwortung an Familien ohne ein Verständnis für de-ren Problematik birgt ebenso wie die Ausgde-renzung von Familienangehörigen aus der Therapie die Gefahr, Verhältnisse herzustellen, die gelungener Rehabilitation im Wege stehen.

Es erscheint sinnvoll, sich den Generationenbeziehungen psychisch Kranker mit Konzepten anzunähern, die einseitige Vorstellungen von diesen Beziehungen als Risiko vs. als Ressource integrieren. Zu diesem Zwecke wird hier das Konzept der Generationenambivalenz beigezo-gen und empirisch eingesetzt. Dieses Konzept bietet somit den Vorteil, die Beziehunbeigezo-gen zwi-schen psychisch Kranken und ihren Eltern unvoreingenommen und realitätsnah zu betrachten.

In der soziologischen Familienforschung hat sich die Verwendung des Konzepts bereits als nützlich erwiesen, um einseitige Solidaritäts- vs. Konfliktvorstellungen vom Verhältnis der Generationen zu überwinden.

Die Idee, das Konzept der Generationenambivalenz zur Annäherung an Familien psychisch Kranker zu nutzen, verfestigte sich in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Begrif-fes Ambivalenz, der seine Wurzeln in der psychiatrischen Nomenklatur hat. Das Bestreben, diese Begriffsgeschichte und damit auch den Begriff selbst besser zu verstehen, legte nahe, den Kontakt zu psychiatrisch, klinisch-psychologisch oder psychotherapeutisch tätigen Prak-tikern zu suchen. So wurde eine Expertenbefragung durchgeführt, welche die Aspekte des Begriffes in der psychiatrischen und therapeutischen Praxis ausleuchtete (Burkhardt, 2002).

Bei Vertretern dieser Profession stieß das Konzept der Generationenambivalenz auf Interesse.

Therapeuten schilderten spezifische Ambivalenzerfahrungen für die Beziehung von psychisch Erkrankten und ihren Eltern. Die Experten beschrieben Familien psychisch erkrankter Men-schen als verstärkt durch Beziehungsambivalenz betroffen, wobei hauptsächlich die Gegen-sätze von Nähe vs. Distanz sowie von Abhängigkeit vs. Unabhängigkeit thematisiert wurden.

Am Anfang stand die Idee, dass etwas im Leben dieser Familien die in Eltern-Kind Bezie-hungen immer notwendige Herstellung von Nähe und Distanz oder von Kontinuität und Wan-del mit zusätzlicher Spannung füllt. Dabei ist ein Bestandteil des Konzepts, dass es für den wissenschaftlichen Zugang zu Generationenbeziehungen allgemein von Nutzen sein und nicht allein diejenigen Eltern-Kind-Beziehungen, die unter der Vorraussetzung psychischer

Krank-heit gestaltet werden, beschreiben sollte. Von besonderer Bedeutung für diese Arbeit ist viel-mehr, ob sich das soziologische Konzept der Generationenambivalenz auch für den klinischen Kontext als tragfähig erweist und ob sich aus der Betrachtungen von

Generationen-beziehungen, die unter besonderen Bedingungen gestaltet werden müssen, Anregungen für die Soziologie gewöhnlicher Familienbeziehungen ergeben.

Hier wird also eine Annäherung an Generationenbeziehungen versucht, in denen ein erwach-senes Kind als psychisch krank diagnostiziert wurde und deshalb in stationär-psychiatrischer Behandlung ist. Auf den ersten Blick scheint es, als ob dieses Thema in der Vergangenheit schon ausreichend bearbeitet wurde. Es sind zahlreiche Konzepte bekannt, die Familienbezie-hungen psychisch Kranker beschreiben. Jedoch scheinen diese Forschungsaktivitäten zu stag-nieren. Nach dem Boom der Expressed-Emotion-Forschung in den 1980er und 1990er Jahren beispielsweise hat sich das Konzept zwar etabliert, allerdings nur unter Vorbehalten. Von Seiten der Angehörigenbewegung gab es teilweise sogar Widerstand gegen diese Art wissen-schaftlicher Beschäftigung mit Familien psychisch Kranker. Möglicherweise werden die Konzepte in der klinischen Familienforschung der Lebens- und Erfahrungswelt der Betroffe-nen nicht gerecht, da zu selten versucht wird, diese Familien unvoreingenommen zu betrach-ten und das Handeln ihrer Mitglieder bei der Beziehungsgestaltung aus ihrer Situation heraus zu verstehen.

Das erste Ziel dieser Arbeit: Mittels einer problemgeschichtlichen Analyse möchte ich die Nützlichkeit einer neuerlichen Beschäftigung mit dem Thema darzulegen (Kapitel 2). Es gilt zu explizieren, inwiefern sich auf dem Gebiet der klinischen Familienforschung im Laufe der Forschungsgeschichte neue Fragen ergeben haben und warum und in welcher Form das Kon-zept der Generationenambivalenz geeignet scheint, Antworten auf diese Fragen zu entwi-ckeln. Hierbei werden zunächst Spannungen beschrieben, die diesem Forschungsfeld inne wohnen. Dazu wird nicht allein die psychiatrische bzw. klinisch-psychologische, sondern auch die pflegewissenschaftliche Literatur gesichtet. Die Grundzüge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Familien psychisch Kranker wird vor dem Hintergrund der Veränderung in Versorgung und Behandlung dargestellt und mit diesen zeithistorischen Bedingungen ver-knüpft.

Der Begriff der Ambivalenz findet in dieser Arbeit, ganz im Sinne seiner Konstanzer Konzep-tion, doppelte Verwendung: Zum Einen dient er in Kapitel 2 als Deutungsmuster, um die Spannungen im Diskurs über Familien psychisch Kranker zu beschreiben. Zum Anderen wird

in Kapitel 3 die Konstanzer Operationalisierung von Ambivalenz als Forschungskonstrukt vorgestellt. Zusätzlich werden verschiedene weitere, teilweise implizite Verwendungen von Ambivalenz als Forschungskonstrukt in der klinischen Familienforschung beleuchtet. Es be-stehen – trotz aller auf der Metaebene bebe-stehenden definitorischen Gegensätze zwischen den einzelnen Theorien, Modellen oder Sichtweisen – auf der inhaltlichen Ebene doch Gemein-samkeiten bei der Betrachtung von Familie und psychischer Krankheit, die geeignet sind, einen Weg für die zukünftige Betrachtung dieses Gegenstandes im Sinne des Ambivalenz-konzeptes zu weisen. Der problemgeschichtliche Überblick über Ambivalenz als Deutungs-muster in der Beschäftigung mit psychisch Kranken in Familien mündet also in einer Explika-tion der Konstanzer Verwendung von Ambivalenz als Forschungskonstrukt.

Zwei Gruppen psychisch Erkrankter, die im Hinblick auf das Erleben von Generationenambi-valenz in den Familien Erkrankter besonders interessant scheinen, wurden für diese Arbeit ausgewählt. Beide Störungsformen treffen insbesondere – aber nicht ausschließlich – Men-schen in Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter und damit vor allem auch deren Her-kunftsfamilie. Zum einen sind dies Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, die insgesamt zu den kostenintensivsten chronischen Krankheiten zählen (von der Schulenburg et al., 1999) und Ziel besonders intensiver Forschungstätigkeit sind. Im englischsprachigen Raum wird die Schizophrenie gemeinsam mit der Major Depression und Bipolaren affektiven Störungen den Major Mental Disorders, also den besonders schweren psychischen Störungen zugeordnet. Zum anderen sind Generationenbeziehungen Substanzabhängiger Gegenstand dieser Arbeit. Bis auf Literatur, die aus dem Bereich praktischer Familientherapie stammt und häufig nicht empirisch abgesichert ist, ist diese Störungsform ein Stiefkind klinischer Famili-enforschung (Krausz, Basdekis, Brückner, Farnbacher, Kleinemeier, & Kreutzfeldt, 2001) und wird außerdem in der pflegewissenschaftlichen Literatur so gut wie überhaupt nicht be-achtet. Kapitel 4 widmet sich insbesondere der Phänomenologie, dem Verlauf und den sozia-len Folgen dieser beiden Störungen.

Das zweite Ziel dieser Arbeit: Es sollen die Vorraussetzungen für die Erfahrung und Gestal-tung der Generationenbeziehungen in Familien mit einem psychisch kranken erwachsenen Kind expliziert werden. Damit möchte ich die Handlungsanforderungen verdeutlichen, denen sich Kinder, Väter und Mütter gegenüber sehen, die ihre gegenseitigen Beziehungen gestalten müssen und wollen – und zwar vor dem Hintergrund einer psychischen Erkrankung und den Versuchen, diese therapeutisch, finanziell und emotional zu bewältigen. In den Beziehungen zwischen psychisch kranken Erwachsenen und ihren Eltern sind die Voraussetzungen für

intergenerationales Handeln verändert, weil dem Umgang mit der Erkrankung und ihren Fol-geerscheinungen in spezifischer Weise Rechnung getragen werden muss. Außerdem sind auch mit der Störungsform und der Rolle die eine Person in der Familie inne hat, spezifische Anforderungen verbunden. Die grundsätzliche These dieser Arbeit lautet daher, dass sich diese veränderten Anforderungen auf das Erleben von Ambivalenz bei Eltern und Kindern auswirken und Ambivalenz somit eine relevante Beschreibungskategorie für Generationenbe-ziehungen psychisch kranker Erwachsener darstellt. Hypothesen und Fragestellungen zur Auswirkung dieser strukturellen Vorraussetzungen für die Erfahrung von Ambivalenzen wer-den in wer-den Kapiteln 6 bis 9 dargelegt und jeweils gefolgt durch die Ergebnisse ihrer empiri-schen Überprüfung durch Gruppenvergleiche.

Das dritte Ziel dieser Arbeit besteht darin, das Konzept der Ambivalenz auch empirisch auf die Generationenbeziehungen psychisch Erkrankter anzuwenden. Im empirische Teil stelle ich die Ergebnisse einer quantitativen und qualitativen Interviewstudie vor, die in weiten Tei-len explorativen Charakter hatte: Ich verwendete dabei – in teilweise modifizierter Form – einen Fragebogen, der am Forschungsbereich Gesellschaft und Familie der Universität Kon-stanz entwickelt wurde (Lüscher, Pajung-Bilger, Lettke, Böhmer, & Rasner, 2000). Mit die-sem Instrument wurden Kinder über die Beziehung zu Mutter und Vater befragt, sowie Mütter und Väter zu ihren psychisch erkrankten Kindern und deren Geschwistern interviewt. Die methodische Vorgehensweise dieser Arbeit wird in Kapitel 5 expliziert.

Kapitel 6 widmet sich Beziehungs- und Ambivalenzerfahrungen, die spezifisch für Beziehun-gen zwischen Eltern und psychisch kranken Kindern im Unterschied zu Generationenbezie-hungen ohne ein psychsich krankes Kind sind. Kapitel 7 verdeutlicht die Voraussetzungen, die spezifisch für den Umgang mit Substanzabhängigkeit im Gegensatz zur Bewältigung einer schizophrenen Erkrankung sind. Kapitel 8 beleuchtet, inwiefern verbunden mit familiären Positionen oder Rollen spezifische Ambivalenzerfahrungen generiert werden. In Kapitel 9 wird untersucht, wie die Erfahrung von Ambivalenz mit der Krankheitsschwere, dem Zu-sammenwohnen von Eltern und Kindern sowie der Einschätzung der Qualität der Generatio-nenbeziehungen und dem Umgang mit Ambivalenz zusammenhängt.