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G ENERATIONENAMBIVALENZEN ALS G EGENSTAND DER AKTUELLEN SOZIOLOGISCHEN

3. DAS KONZEPT DER AMBIVALENZ UND SEIN NUTZEN FÜR DIE ANALYSE

3.3 G ENERATIONENAMBIVALENZEN ALS G EGENSTAND DER AKTUELLEN SOZIOLOGISCHEN

Das Konzept der Generationenambivalenz hat in den letzten Jahren in der soziologischen Familienforschung Fuß gefasst (vgl. die Debatte im Journal Of Marriage and the Family, 2002, Vol. 64 sowie den Sammelband von Pillemer & Lüscher, 2004) und wird vor allem herangezogen, um die komplexen Beziehungen zwischen älter werdenden Eltern und ihren erwachsenen Kindern zu beschreiben, aber auch um sich Familienbeziehungen anzunähern, die drei Generationen und mehr übergreifen (z.B. bei Brannen, 2003). Naheliegend, wird das Konzept manchmal explizit auf die Beschreibung generationaler Austauschbeziehungen an-gewendet, die Pflege – oder, im Englischen, Caregiving – beinhalten (Lorenz-Mayer, 2004;

Wilson, Shuey, & Elder, 2003).

Lüscher und Lettke berichten als Ergebnis ihrer Studie, dass Ambivalenzen aufgrund ihrer Häufigkeit als Alltagserfahrung bezeichnet werden können und nur von einer Minderheit der Befragten ausschließlich negativ gesehen wurden (Lettke & Lüscher, 2003, Lüscher & Lettke, 2004). Dabei wurden Zwiespältigkeiten aus Elternsicht vor allem gegenüber Kindern des an-deren Geschlechts empfunden, während Kindern vor allem gegenüber Eltern des gleichen Geschlechts hin- und hergerissen sind. Fingerman und Hay (2004) stellten fest, dass enge Sozialbeziehungen eine höherer Wahrscheinlichkeit haben, gleichzeitig als problematisch eingeschätzt zu werden und klassifizieren Familienbeziehungen häufiger als ambivalent als andere Sozialbeziehungen.

In einer qualitativen Interviewstudie von Lorenz-Mayer (2004) zeigte sich, dass viele junge Erwachsene den antzipierten Übergang zur Pflegebedürftigkeit ihrer Eltern als strukturell ambivalente Situation einschätzen, da hier zwei gegensätzliche Handlungsmöglichkeiten als gleichermaßen gut bzw. schlecht bewertet werden: Pflege der Eltern zu Hause vs. ihre Unter-bringung in einer Pflege-Institution. Willson, Shuey und Elder (2003) fanden, dass Caregiving mit erhöhtem Ambivalenzerleben einhergeht und Frauen, insbesondere wen sie Pflegeleistun-gen erbrinPflegeleistun-gen, in einer Generationenbeziehung mehr Ambivalenz erleben als Männer. In einer Studie von Pillemer und Suitor (2002) gaben Mütter, deren erwachsene Kinder keinen alters-entsprechend adulten Status erreicht hatten, ein häufigeres Ambivalenzerleben an als andere Mütter.

Aus soziologischer Sicht wurden Quellen des Ambivalenzerlebens – nicht nur in Generatio-nenbeziehungen – beschrieben, die deutlich machen, dass das Erleben von Ambivalenz nicht

allein ein individuell-psychologisches Problem ist. In seinem wegweisenden Aufsatz vertritt Smelser (1998) die Ansicht, dass soziale Strukturen Dilemmata konstruieren können, die der Handelnde auf individueller Ebene als ambivalente Gefühle oder Gedanken erlebt. Merton und Barber (1963) suchen den Kern von Ambivalenz auf der Ebene der sozial-strukturellen Erfahrung widersprüchlicher Normen und Rollenerwartungen. Insofern sind insbesondere situative Handlungsanforderungen, die sich aus der Logik der Beziehung ergeben, als Anlässe von Ambivalenzen zu nennen. Für Generationenbeziehungen lassen sich folgende spezifische Quellen von Ambivalenzerfahrung herausarbeiten:

ƒ Unkündbarkeit und Unauflöslichkeit: Familiale Generationenbeziehungen sind in gewis-sem Sinne unauflöslich. Obwohl ein vollständiger Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kindern möglich ist, bleibt ein Mensch doch stets Kind seiner Eltern und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, weshalb der im Generationenverbund Handelnde nicht einfach ausbrechen und die Beziehung samt ihren strukturellen Ambivalenzen hinter sich lassen kann.

ƒ Beziehungshandeln im Rahmen polarer Gegensätzlichkeiten: Das Dilemma von Autono-mie und Abhängigkeit ist in die Anforderungen an die Gestaltung der Beziehung von El-tern und Kindern strukturell eingebaut (Cohler & Grunebaum, 1981; Cohler, 1983). Es ist zu vermuten, dass mit Autonomie und Dependenz ambivalente Gefühle bzgl. der Herstel-lung von Nähe bzw. Wandel einhergehen.

ƒ Beziehung trotz Differenz: Eltern und Kinder führen eine Beziehung, die wohl kaum exis-tierte, würde sie nicht von generativem Verhalten getragen, denn die Unterschiede in Al-ter, Entwicklungsstand und Status sind groß (Pillemer & Suitor, 2002). Fingerman (1996) nennt diese strukturell vorbestimmte Differenz Developmental Schism. Das Führen einer engen, vertrauten Beziehung bei gleichzeitig großen Unterschieden befördert möglicher-weise das Erleben von Ambivalenzen bzgl. Nähe und Distanz. Wenn es zu Veränderungen im Rahmen biographischer Übergänge kommt oder diese in normativer Form erwartet werden, können Differenzen zwischen Eltern und Kindern auch ein Hin- und Hergerissen-sein im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel befördern.

ƒ Caregiving als zusätzlicher Einflussfaktor: Der Zusammenhang zwischen Generationen-beziehungen und der Aufgabe, zu pflegen, sich zu sorgen und zu kümmern liegt auf der Hand. Caregiving liegt vor allem in den Händen von Familienmitgliedern (Zeman, 2000)

und wird dann als informal bezeichnet (Kahana, Biegel, & Wykle, 1994). Diese Tätigkei-ten sind ein Ausdruck von Interdependenz, können aber mit dem Wunsch nach Autonomie einhergehen, sie sind einerseits Ausdruck von Liebe und anderseits erschöpfend und der Entstehung negativer Gefühle förderlich. Pflegerische Austauschbeziehungen unterliegen entsprechend biographischer Übergänge und der Entwicklung der Beziehung steten Ver-änderungen und sind daher mit RollenverVer-änderungen verbunden. Diese Aufgaben sind zwischen Eltern und Kindern aufgrund der Unauflöslichkeit von Generationenbeziehun-gen besonders schwer aufzukündiGenerationenbeziehun-gen. VeränderunGenerationenbeziehun-gen bzgl. Aufgaben des PfleGenerationenbeziehun-gens, Küm-merns, Sorgens wirken sowohl auf das strukturelle Dilemma von Autonomie und Abhän-gigkeit als auch auf das Erleben von intergenerationaler Differenz: Durch die Notwendig-keit von Pflege kann die Autonomie beider Beziehungspartner beschnitten werden, mögli-cherweise entgegen ihren Wünschen, und zusätzlich trennt sie nicht mehr allein die Gene-rationenzugehörigkeit, sondern auch der Status als Pflegender bzw. als Gepflegter.

ƒ Familienrollen als zusätzliche Einflussfaktoren: Da Aufgaben der Familienarbeit ungleich über die Geschlechter verteilt sind und geschlechtspezifische Rollennormen bzgl. des Verhaltens in Familienbeziehungen bestehen, ist es möglich, dass auch das Geschlecht ei-nen Einfluss auf das Erleben von Generatioei-nenambivalenzen hat. Gender-spezifische Ein-flüsse könnte es sowohl in den Bereichen von Autonomie und Abhängigkeit, in den Be-reichen von Differenz und im Bereich der Pflegetätigkeiten geben. Insbesondere der ja-nusköpfige Charakter von Hausarbeit und Caregiving betrifft möglicherweise Frauen stär-ker als Männer. Außerdem sind Frauen häufiger in der Zwangslage, zwischen Familie und Berufstätigkeit wählen zu müssen (Dallinger, 1998). Andererseits sind möglicherweise Männer zunehmend durch diffuse Vorgaben, ihre Rolle in der Familie betreffend, verunsi-chert (Mintz, 1998).

Die soziologische Forschung interessiert sich vor allem für den sozialen Ursprung individuel-ler Ambivalenzerfahrungen und ist daher von großer Nützlichkeit für den hier unternomme-nen Versuch, die Qualität der Familienbeziehungen psychisch Kranker aus ihrer strukturellen Situation heraus zu verstehen.

3.4 Ambivalenzen als implizites Konzept in Theorien über Familienbeziehungen