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F AMILIE ALS R ISIKOFAKTOR VS . F AMILIE ALS R ESSOURCE IM K RANKHEITSVERLAUF

2. AMBIVALENZ ALS DEUTUNGSMUSTER IM DISKURS ÜBER PSYCHISCH

2.3 F AMILIE ALS R ISIKOFAKTOR VS . F AMILIE ALS R ESSOURCE IM K RANKHEITSVERLAUF

noch. Auch andere Modelle19 und spätere Formulierungen der systemtheoretischen Schule änderten daran wenig.20 Die Geister, einmal gerufen, perpetuieren sich in jedem Rekurs auf den Begriff des Double-Bind, oder auch nur auf die durch diesen Begriff maßgeblich geprägte Vorstellung einer psychosozialen Genese psychischer Krankheiten aufs Neue. Die biogeneti-schen Forscher dagegen mussten schon früh erkennen, dass empirische Studien eine alleinige Verursachung der Schizophrenie durch Vererbung nicht nachweisen konnten21 und waren daher schon relativ früh grundsätzlich offen gegenüber Theorien, die andere ätiologische Fak-toren betonten. Jedoch verfing man sich hier lange in der Aufgabe, die Anteile von Anlage und Umwelt an der Erklärung psychopathologischer Varianz auseinander zu halten, anstatt sich der Interaktion zwischen beiden Variablen zu widmen (Meaney, 2001; Rutter, 2003).

2.3 Familie als Risikofaktor vs. Familie als Ressource im Krankheitsverlauf Während sowohl genetische als auch psychosoziale Familientheorien langsam in das Alltags-wissen einsickerten, beachtete die Wissenschaftsgemeinde kaum die Probleme der ersten Trä-ger dieses Alltagswissens – der Erkrankten und der Mitglieder ihrer Familie, allen voran der Eltern – mit diesen Erkenntnissen umzugehen und sie für sich zu nutzen.22 Die Botschaft, entweder durch „schlechte Gene“ oder „kaltes Verhalten“ bzw. „doppeldeutige Kommuni-kation“ zur Erkrankung des Kindes beigetragen zu haben, ließ Eltern gleichermaßen

schuld-19 Ähnlich bekannt wie die double-bind-Hypothese wurde z.B. die These vom Marital schism, der Charakterisie-rung der elterlichen Partnerbeziehung in Familien psychisch Kranker als gespalten und schief (Lidz, , Corne-lison, Terry, & Fleck, 1957) und der Pseudo-mutuality in diesen Familienbeziehungen (Wynne, Ryckoff, Day,

& Hirsch, 1958). Zu diesem Forschungsfeld wurden zahlreiche Übersichten veröffentlicht, z.B. von Jacob (1987). Es mangelt auch hier nicht an kritischen Betrachtungen (z.B. Cierpka, 1989; Hahlweg, 1986)

20 Weakland beispielsweise milderte später den Batesonschen Absolutismus in dieser Frage mit folgenden Wor-ten ab: „...schizophrenia ist not the main theme of ‚Towards a Theory of Schizophrenia’ and subsequent Pa-pers, nor is it the autors main interest. In spite of the title, schizophrenia provided only a most puzzling and fascinating case selected to explore a totally new perspective: the analysis of human interaction from the van-tage point of communication theory.” (Weakland, 1967, zitiert in Knellesen, 1978).

21 Schon Rüdin musste 1916 erkennen, dass seine Daten aus Erkrankungshäufigkeiten in Familien Schizophre-ner keinem eindeutigen dominanten oder rezessiven Erbgangsmodell entsprach (wie es z.B. für die neurologi-sche Erkrankung Chorea Huntington nachgewiesen wurde). Das Erkrankungsrisiko korreliert zwar eng mit dem Grad der Verwandtschaft zu einem schizophren Erkrankten, trotzdem wurde wiederholt festgestellt, dass etwa 81% der schizophren Erkrankten keinen manifest schizophren erkrankten Elternteil und keine betroffe-nen Geschwister haben (vgl. die Darstellung in Gottesman, 1993). Für psychische Erkrankungen wir heute ei-ne Interaktion von geei-netischen und Umwelteinflüssen angenommen, wobei multiple Geei-ne mit multiplen Umwelteinflüssen interagieren sollen (Rutter, 2003). Die Stärke des genetischen Einflusses wird für verschie-dene psychische Erkrankungen auch unterschiedlich hoch eingeschätzt (vgl. Cierpka, 1989).

22 Angermeyer (1998) sowie Holzinger, Kilian, Lindenbach, Petscheleit und Angermeyer (2003) konnten in einer Befragung von psychisch Erkrankten und Angehörigen zeigen, dass sowohl die genetischen wie auch die psychosozialen Familientheorien bei den Betroffenen angekommen sind und von ihnen zur Erklärung psychischer Krankheit herangezogen werden.

beladen23 wie hilflos zurück. Auch dazu äußerte sich Katschnig: „Schlimmstenfalls ist sie [die Frage nach der Verursachung der Schizophrenie, Anm. AB] schädlich, wenn etwa durch eine Vererbungstheorie ein therapeutischer Pessimismus genährt wird oder durch Familientheorien Angehörigen Schuldgefühle verursacht werden.“ (1977, S. 8).

Der psychosoziale Zweig der Familienforschung geriet zunehmend in eine Sackgasse, wofür Cierpka (1989) zahlreiche methodische und konzeptionelle Gründe analysiert.24 Längst waren jedoch am Horizont miteinander verzahnte wissenschaftlich-technische, soziale und kulturelle Neuerungen aufgetaucht. Diese führte zu neuen Handlungsanforderungen innerhalb des psy-chiatrischen Feldes und eröffneten somit neue Perspektiven. So wurde die Sicht auf bisher nicht beachtete Aspekte psychischer Krankheit in Familien frei gegeben, was das Verständnis psychischer Krankheit, den Umgang mit ihr und die Aktivitäten der familienorientierten klini-schen Forschung stark beeinflusste.

Ironischerweise sollten – neben anderen Faktoren – ausgerechnet Ergebnisse der pharmakolo-gischen Forschung die klinisch-psychosoziale Familienforschung in eine neue Richtung len-ken. 1952 kam in Europa das erste antipsychotisch wirkende Medikament auf den Markt (vgl.

Finzen, 2004). Die zunehmende therapeutische Verwendung von Psychopharmaka in den nächsten Jahrzehnten fiel in eine Zeit, die geprägt war durch Kritik an den unzeitgemäßen

23 Der beobachtende Systemtheoretiker operiert natürlich nicht mit dem moralischen Begriff der Schuld. Die Systemtheorie kann, dank ihres ausgeprägten Formalismus, solchen Vorwurf leicht von sich weisen: In ihr handelt ja ohnehin kein Subjekt mehr, da alles System ist. Angehörige psychisch Kranker nehmen dennoch Schuldzuweisungen wahr. Entsprechend beschreibt die Mutter eines schizophren erkrankten Sohnes ihre Er-fahrung in der Familientherapie Ende der 1970er Jahre: „Ein ungeheures Schuldgefühl lud sich auf mich. Die-ses ständige Suchen, ‚was ist in dieser Familie nicht intakt?’. DieDie-ses Wort ‚Überbehütung’, das in den Raum gestellt wurde. Weil ich von uns dreien die Therapie am ernstesten nahm, musste ich aber auch am meisten verkraften“ (Grober, 2001, S. 22). An diesem Beispiel zeigt sich im übrigen auch die Trivialisierung psycho-logischer Konstrukte, wie sie für die pädagogische Praxis beschrieben worden ist (Hofmann, 1999).

24 Die von Cierpka (1989) herausgearbeiteten Kritikpunkte lauten zusammenfassend: 1. Die

ätiologisch-psychosoziale klinische Familienforschung bedient sich bei der empirischen Überprüfung ihrer Thesen häufig unzureichender Methoden. 2. Der Geltungsbereich der erhobenen Daten ist zu wenig geklärt (gelten die Daten für Eltern, Geschwister, Partner psychisch Kranker? Handelt es sich um dyadische Daten oder beziehen diese sich auf die Gesamtfamilie etc.?). 3. Es bestehen unzureichende Verweisungszusammenhänge zwischen den unterschiedlich theoretisch gefärbten Operationalisierungen. 4. Die meisten klinischen Familientheorien ma-chen Spezifitätsannahmen, womit gemeint ist, dass angenommen wird, dass eine spezifische Form der Famili-eninteraktion ihrerseits spezifische psychische Störungen auslöst. Dies widerlegt sich aber von selbst, da mitt-lerweile bekannt ist, dass psychische Krankheiten multifaktoriell bedingt sind und daher z.B. Kinder der sel-ben Familie völlig unterschiedliche Krankheitsbilder entwickeln könnten. 5. Die Familientheorien überschät-zen den Einfluss der Familie und unterschätüberschät-zen den Einfluss der nichtgeteilten Umwelt. 6.

Klinisch-psychosoziale Familientheorien gehen meist stillschweigend davon aus, dass Familien psychisch Kranker sich digital von sogenannten Normalfamilien unterscheiden. Dementsprechend wird kaum versucht, Familien, die von psychischer Krankheit eines Mitglieds betroffen sind und sogenannte Normalfamilien anhand des selben Instruments miteinander zu vergleichen, um zu erfassen, inwieweit es Unterschiede zwischen ihnen gibt, die sich anhand „eines Kontinuums an Gestörtheit“ (S. 205) abbilden lassen.

psychiatrischen Großanstalten, Aufarbeitung der Rolle der Psychiatrie im Nationalsozialismus und durch Versuche, von einer verwahrenden zu einer therapeutisch-rehabilitativen Psychiat-rie zu kommen. Es formierte sich aber auch eine immer lauter werdende, radikale Antipsychi-atriebewegung, welche sich die Vorstellung zu Eigen machte, psychische Krankheit sei einzig und allein ein gesellschaftliches Konstrukt (s.o.; vgl. die Übersicht bei Payk, 2000).

Es begann sich abzuzeichnen, dass sich unter Einsatz von Psychopharmaka die Verweildauern der Patienten in den psychiatrischen Anstalten massiv verkürzen ließen. Die Tätigkeit einer 1971 eigens eingerichteten Psychiatrie-Enquete in Deutschland mündete 1975 u.a. in folgen-den Empfehlungen: 1. Auf- und Ausbau eines gemeinfolgen-denahen Versorgungssystems und 2.

Auf- und Ausbau ambulanter Dienste und psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkranken-häusern (vgl. Häfner, 2001). Dies ging allerdings einher mit dem Abbau stationärer psychiat-rischer Betten, deren Zahl in den Jahren 1970 bis 1994 mehr als halbiert wurde (Häfner, 2001). Enthospitalisierung, Deinstitutionalisierung und Gemeindepsychiatrie waren die Schlagworte, die diese Psychiatriereform begleiteten.25 Deren Umsetzung kam sowohl e-thisch-moralischen Forderungen als auch dem Ruf nach Kostenreduktion entgegen.

Damit kam die dauerhafte Verwahrung von psychiatrischen Patienten in psychiatrischen An-stalten langsam zu einem Ende und diese wurden bei Besserung der akuten Symptomatik aus der stationären Versorgung entlassen – die Familien hatten ihre psychisch erkrankten Ange-hörigen wieder (Häfner, 1998). Es wird allerdings vermutet, dass die kürzeren Verweildauern in der Psychiatrie mit steigenden Wiederaufnahmeraten einhergehen (Richter 2001). Dies ist vor allem für die Zeiten des Übergangs von der Verwahrung zur zeitlichen begrenzten Be-handlung zu vermuten, gilt möglicherweise aber auch für den Trend der letzten Jahre zur wei-teren Verkürzung der Verweildauern. Es entwickelte sich eine Praxis zunehmend kürzerer, aber wiederholter Aufenthalte in der Psychiatrie. Dieses häufig mit dem abfälligen Begriff der

„Drehtürpsychiatrie“ belegte Muster ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass viele psy-chische Erkrankungen mit episodischen Verläufen verbunden sind. Andererseits erfordern gerade diese Verläufe die Umsetzung des mit der Psychiatriereform geforderten Prinzips der Gemeindenähe psychiatrischer Versorgung, um für die Patienten größtmögliche Kontinuität herzustellen. Häufig bildet die Herkunftsfamilie außerhalb formal-öffentlicher Versorgung

25 Laut Häfner setzte die Psychiatriereform in Deutschland fast 20 Jahre später ein als in den USA und Großbri-tannien (Häfner 2001). Sie nahm auch weniger große Ausmaße an als beispielsweise in Italien, wo es, beein-flusst durch die Antipsychiatriebewegung, zu deren herausragenden Figuren der Psychiater Basaglia gehörte, zu großangelegten Schließungen von Psychiatrien kam (Payk, 2000).

den einzig sicheren Lebensmittelpunkt für psychisch Erkrankte, dies gilt umso mehr, je schwächer die psychiatrische Infrastruktur ist. „Damit“, so resümiert Katschnig (1977, S. 2)

„hat die nicht mehr stattfindende Ausgrenzung psychisch gestörter Personen auch direkte und eingreifende Folgen für das Leben der Familienangehörigen“.

Im Zuge der Psychiatriereform erhielt das wissenschaftliche Interesse an den Familien psy-chisch Kranker neuen Auftrieb, in den USA und in Großbritannien früher als in Deutschland.

Dieses Interesse fand seinen Niederschlag in zwei klar voneinander abgrenzbaren For-schungsfeldern. Sie unterschieden sich vor allem dadurch, dass entweder der Patient und der Verlauf seiner Erkrankung der Mittelpunkt der Forschungsaktivitäten blieb, oder erstmals die Aktivitäten und Erfahrungen seiner Familie zum Gegenstand gemacht wurden. Im ersten For-schungsfeld blieb die Sicht auf die Familie aus klinischer Perspektive also von dem Interesse geleitet, ihre Rolle als Risikofaktor im Krankheitsverlauf zu erfassen. Die zweite Richtung an Forschungsbemühungen dagegen widmete sich den Problemen und Aufgaben von Familien-angehörigen beim Umgang mit der psychischen Erkrankung eines Mitgliedes. In beiden For-schungsfeldern wurde, als Ergebnis der vergangenen Diskurse, psychisch gestörtes Verhalten als mulitfaktoriell bedingt, mit eindeutig somatischen Anteilen und somit als Krankheit oder alternativ als Störung verstanden.

Das Interesse an der Rolle der Familie im Krankheitsverlauf entwickelte sich aus der rein ätiologischen Forschung unter dem Eindruck, dass die Ursachen psychischer Erkrankung in vielen interagierenden Faktoren zu suchen sind. Die therapeutische Wirksamkeit von Psycho-pharmaka stärkte biochemische Modelle der Krankheitsentstehung. Mit dem Ende der institu-tionalisierten lebenslänglichen Verwahrung psychisch Kranker fernab der Gesellschaft stieg das Interesse am Verlauf der Erkrankung. Die klinische Erfahrung zeigte, dass die Rückkehr psychisch Erkrankter in ihre Familien, die zunächst als Errungenschaft der Psychiatriereform angesehen wurde, nicht immer unproblematisch verlief. Es schien nicht länger sinnvoll, sich allein mit den Erfahrungen, die psychisch Erkrankte seit ihrer Kindheit mit primären familiä-ren Bezugspersonen machen, zu beschäftigen. Vielmehr wuchs das Interesse an der Frage, ob die Erfahrungen, die der Kranke bei der Rückkehr in die Familie macht, zu Rückfällen und erneuter stationärer Behandlungsbedürftigkeit beiträgt. Eine verlaufsorientierte Forschung eröffnete außerdem die Möglichkeit, den leidigen Grabenkampf mit somatisch orientierten Forschern zu beenden und Anschluss an biologische Theorien der Psychopathologie zu fin-den.

Der Schwerpunkt der Konzepte der psychopathogenetisch, also verlaufsorientierten Familien-forschung lag auf relativ einfachen Operationalisierungen der Kommunikation, Interaktion oder des emotionalen Klimas in Familien (vgl. zur Übersicht Hooley & Hiller, 2001). Das bekannteste Konstrukt dieser Richtung ist das der Expressed Emotion (EE, Brown, Monck, Carstairs, & Wing, 1962; Brown, Birley, &. Wing, 1972; Vaughn & Leff, 1976). Es wurden Verfahren zur Bewertung des emotionalen Klimas in Familien entwickelt und diese Daten mit dem Rückfallrisiko korreliert, wobei sich signifikante positive Zusammenhänge ergaben. Da-bei erwiesen sich vor allem die kritische Einstellung von Familienangehörigen gegenüber dem erkrankten Mitglied und übermäßige emotionale Einbindung als zentrale Faktoren.

Zunächst allein zur Erforschung des Verlaufs schizophrener Störungen entwickelt, fanden diese Konzepte bald Anwendung auf eine breite Palette psychischer Störungen, insbesondere solcher mit episodischem und chronischem Verlauf. Butzlaff und Hooley (1998) stellten in eine Metaanalyse fest, dass sich mit dem EE-Maß bei anderen psychischen Störungen als der Schizophrenie größerer Effektstärken in Bezug auf relevante Outcomes finden ließen. Trotz-dem blieb die Schizophrenie das Hauptziel der EE-Forschung. Nur vereinzelt wurden sie auf die Familienbeziehungen Suchtkranker angewendet (Fichter, Glynn, Weyerer, Liberman, &

Frick, 1997; O’Farell & Hooley, 1998; Schwartz, Dorer, Beardslee, Lavori & Keller, 1990).

Relativ rasch fand auch eine Einbindung dieses Konzepts in die etwas später entwickelten Vulnerabilitäts-Stress-Modelle (u.a. Zubin & Spring, 1977) statt (z.B. bei Kavanagh, 1992).

Ebenso wurde festgestellt, dass das beeinträchtigte emotionale Klima in der Familie und die Symptomatik sich wechselseitig aufschaukeln, die Entwicklung von Kritik und emotionaler Verstickung also nur als transaktionaler Prozess zu verstehen ist (Miklowitz et al., 1989; Stra-chan, Feingold, Goldstein, Miklowitz, & Nuechterlein, 1989). Basierend auf der verlaufs-orientierten klinischen Familienforschung wurden später therapeutische und edukative Ansät-ze entwickelt, die zur Prävention von Rückfällen beitragen sollten (z.B. Falloon, 1984). Diese laufen vor allem darauf hinaus, Angehörige über die Krankheit zu informieren und ihre Prob-lemlösefähigkeiten zu verbessern.

Dennoch war das empirische Interesse psychopathogenetischer Forscher nicht auf die Lage der Angehörigen psychisch Kranker ausgerichtet. Damit blieb ein wichtiger Aspekt des Prob-lemkomplexes zu psychischer Krankheit und Familie weitgehend ausgeblendet: Die Frage nach dem Handeln von Menschen im familiären Verbund in Auseinandersetzung mit Anfor-derungen, die sich aus chronischer psychischer Erkrankung und den gesellschaftlichen

Bedin-gungen ihrer Bewältigung ergeben, wurde höchstens am Rande gestellt. Dies gilt auch für andere pathogenetische Ansätze, die hier nicht diskutiert werden können. Weiter mangelte es an Verweisungszusammenhängen zwischen der klinisch-psychopathologischen und der sozi-alwissenschaftlichen Familienforschung, was darauf hinauslief, dass Familien psychisch Kranker mit anderen Konzepten untersucht wurden als sogenannte Normalfamilien und meist ein direkter empirischer Vergleich zwischen diesen Familien unterblieb. Dennoch wurde im-plizit und wie selbstverständlich dichotom zwischen sogenannten normalen und gestörten Familien unterschieden (s. zur Kritik an diesem Umstand vgl. Cierpka, 1989; Cierpka &

Nordmann, 1988). Es ist zu fragen, ob nicht, einhergehend mit der Pathologisierung der kon-fliktbehafteten Familien psychisch Kranker, eine idealisiertes Bild der harmonischen „Nor-mal“-Familie aufrecht erhalten wurde.

Mit der Umsetzung der reformerischen Bemühungen auf dem Gebiet der psychiatrischen Ver-sorgung wurden den Erkrankten und ihren Angehörigen, seien es Partner, Geschwister oder, wie wohl in den häufigsten Fällen, Eltern (vgl. Koenning, 1987b), Rechte zugewiesen, die sie zuvor nicht besaßen. Damit wurden aber auch Pflichten von der Institution Psychiatrie an die Institution Familie weitergegeben, deren Erfüllung im Spannungsfeld zwischen formeller und informeller Fürsorge keineswegs einfach zu leisten war. Hinzu kam eine zunehmend schwie-rige finanzielle Lage der Träger staatlicher Gesundheitsversorgung. Für psychiatrisch Tätige bestand das Dilemma darin, dass die faktische Lage in der psychiatrischen Versorgung auf der einen Seite eine Zusammenarbeit mit Angehörigen von Patienten erforderte, auf der anderen Seite aber deren Einbindung durch die Zentrierung der Institution Psychiatrie auf das erkrank-te Individuum strukturell unerkrank-terbunden wurde (vgl. Koenning, 1987b).

Dazu kam, dass die Perspektive von Psychiatern, Psychologen und auch des Pflegepersonals häufig vor allem zu einer Sichtweise der Familie als Risikofaktor führte, während gleichzeitig immer deutlicher wurde, dass psychiatrische Patienten dringend der Ressourcen bedurften, welche ihre Familien anzubieten hatten. Dieses Dilemma ihrer Integration in die Pflege des Erkrankten übertrug sich eins zu eins auf die Angehörigen selbst (vgl. auch Becker & Katz-mann, 2001), die noch dazu zwischen den Ansprüchen der Institution Psychiatrie auf Ordnung und Kontrolle und den Ansprüchen des psychisch Erkrankten auf Freiheit und Selbstbestim-mung zu vermitteln hatten.

Es formierten sich Angehörigenbewegungen und formulierten die Ziele, stärker in ärztliche Entscheidungsprozesse bei Therapie und Rehabilitation mit einbezogen zu werden, die

Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken voranzutreiben und Stigmatisierung und Diskriminierung entgegen zu wirken.26 Hinzu kamen Verbände, die eher der Seite der professionell in der Psychiatrie Tätigen zuzuordnen sind sowie Gemeinschaften politisch Ver-antwortlicher. Auch wenn die Angehörigenverbände mittlerweile alle Mitglieder der betroffe-nen Familie, einschließlich des psychisch Erkrankten selbst, repräsentieren wollen, gibt es verschiedene Verbände Psychiatrie-Erfahrener, die mitunter völlig andere Standpunkte ein-nehmen als die Angehörigenverbände.27 Es organisierten sich also Anspruchsgruppen, der Umgang mit psychisch Kranken und den Mitgliedern ihrer Familie war nicht mehr allein Sa-che der Fachleute aus Psychiatrie und Politik.28 Dieses Empowerment (Chamberlin, 1993) der von der Psychiatriereform betroffenen Personen wird in der Literatur verschiedentlich als essentiell für die Implementierung gemeindepsychiatrischer Prinzipien angesehen (Keupp, 1998).

Diese politische Entwicklung trug maßgeblich dazu bei, dass zunehmend Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen von Familie als Rehabilitationsinstanz aufgeworfen wurden. Am größten war der Widerhall auf diese Fragen in der sozialwissenschaftlichen Pflegeforschung, aber auch Teile der klinisch-psychologischen und psychiatrischen Forschung befassten sich mit der Lage von Menschen, die gemeinsam mit einem psychisch Kranken eine Familie bil-den. Gegenstand waren vor allem, aber nicht ausschließlich, die Angehörigen von schwer psychisch kranken Menschen – im Englischen etablierte sich für diese Teilmenge aller psy-chischen Erkrankungen der Begriff Major Mental Illness. Meist sind damit schizophren oder

26 Der Zusammenschluss einer Angehörigenbwegung datiert sich in etwa auf Anfang der 1970er Jahre in den USA und in Großbritannien, Mitte der 1980er Jahre in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

27 Meinungsverschiedenheiten bestehen v.a. bezüglich der Frage, wie psychische Störungen zu definieren sind:

ob als bloßes gesellschaftliches Etikett oder als Krankheit, vergleichbar somatischen Krankheiten. Einige Psy-chiatrie-Erfahrene machen sich weiterhin die aus der Antipsychiatriebewegung stammende Sichtweise zu ei-gen, psychiatrische Diagnosen seien nichts weiter als ein Mittel zur Ausgrenzung, während die Verbände der Politik, der Angehörigen und der Professionellen die Ansicht vertreten, psychische Krankheiten seien als Be-hinderungen zu verstehen, die sich auf der Verhaltensebene manifestieren, dabei allerdings weit mehr als so-matische Erkrankungen stigmatisiert werden. Der Trend geht mittlerweile dahin, die verschiedenen An-spruchsgruppen zusammen zu bringen und vor allem in der Öffentlichkeitsarbeit tätig zu werden, um der ge-sellschaftlichen Ausgrenzung psychisch Kranker entgegen zu wirken.

28 In den USA etablierte sich für solche Anspruchsgruppen der Begriff Stakeholder: Als Stakeholder werden alle Individuen oder Gruppen bezeichnet, welche die Ziele einer Organisation beeinflussen können und/oder wel-che von deren Zielerreichung betroffen sind (vgl. Freeman & Reed, 1983, S. 89). Verschiedentlich wurde für die Idee, dass Patienten und ihre Angehörigen gegenüber der öffentlichen Gesundheitsversorgung den Status von Konsumenten innehaben, auch der Begriff Consumerism geprägt.

affektiv Erkrankte gemeint, Krankheitsbilder werden in diesem Zusammenhang allerdings selten spezifiziert und differenziert.

Umrahmt wurde diese Literatur vielfach von der Kritik, die klinisch-psychopathogenetische Familienforschung habe ihren Blickwinkel zu sehr darauf beschränkt, Familien psychisch Kranker als „Vermittler von Schaden“ (Kane, 1994, S. 217, Übersetzung AB) und in ihrer Rolle als Verursacher oder Verlängerer der psychischen Krankheit zu betrachten (Hatfield, 1987). Die Vertreter dieser Richtung entwickelten damit in Abgrenzung zu klinischen Fami-lienforschern die Zielsetzung, die Leistungen und Bedürfnisse von Angehörigen psychisch Kranker zu identifizieren, um eine Grundlage für eine gelingende Integration von Angehöri-gen psychisch Kranker in die Gesundheitsfürsorge zu schaffen.

Von Interesse waren dabei folgende Themen: (1) die Anforderungen an Angehörige psy-chisch Kranker und ihre Tätigkeiten und Leistungen – zusammengefasst unter dem

Von Interesse waren dabei folgende Themen: (1) die Anforderungen an Angehörige psy-chisch Kranker und ihre Tätigkeiten und Leistungen – zusammengefasst unter dem