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III. Lebenslagen von Familien und Kindern

III.4 Soziale Notlagen von Familien und Kindern

Armut von Familien hat viele Gesichter.86Armut belastet die gesamte Familie und fordert die Kräfte von Eltern und Kindern heraus. Die meisten Eltern stellen eigene Be-dürfnisse im Interesse ihrer Kinder zurück und „sparen“

nicht als erstes an ihren Kindern. Dadurch können in ar-men Familien unterschiedliche Versorgungsniveaus für Kinder und Jugendliche entstehen. Kinderarmut steht demzufolge zumeist erst am Ende einer von Eltern nicht mehr bewältigten Unterversorgungslage der Familie. Ein-kommensarmut ist für den größeren Teil der Betroffenen

84 Andreß, H.-J. und Lohmann, H.: Die wirtschaftlichen Folgen von Trennung und Scheidung, 2000.

85 Zur Überschuldung im Einzelnen siehe Bericht Teil A Kap. I.3.

86 Insbesondere die umfangreichen Armutsuntersuchungen des Deut-schen Caritasverbandes und des DeutDeut-schen Gewerkschaftsbundes in Kooperation mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, die Untersu-chung des Deutschen Caritasverbandes und des Diakonischen Werks in den neuen Ländern, sowie das im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik durchgeführte Forschungsprojekt „Armut bei Kindern und Jugendlichen“ haben für neue Erkenntnisse gesorgt. Auch ohne quantitative Messung eröffnet das Wissen über die Entstehung sozialer Notlagen und ihre konkre-ten Auswirkungen auf Familien die Möglichkeit, Maßnahmen der Armutsprävention und Strategien der Armutsbekämpfung zu planen.

ein vorübergehender Zustand und nur für einen kleineren Teil eine dauerhafte Lebenslage. Die Mehrheit der von Armut betroffenen Kinder durchläuft eine oder mehrere kürzere Phasen von Armut, die negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung haben können.

Entwicklungs-, Sozialisations- und Lernprozesse können nur erfolgreich verlaufen, wenn Kinder und Jugendliche in das Leben ihrer Familie und ihrer sozialen Umwelt einbe-zogen sind. Insbesondere in Familien mit vielschichtigen Problemlagen, etwa bei Vorliegen von Sucht oder Über-schuldung, kann Armut – unbeschadet der angesprochenen Gesamtbelastung der Familie – zu schlimmen Mangella-gen bei Kindern führen. Kinder erleben in dieser Lebens-lage nicht nur ihre Unterversorgung, sondern auch die Ohnmacht der Eltern, die Probleme zu meistern, was auch die Kinder entmutigt und in ihrer Entwicklung schwächt.

Es besteht die Gefahr, dass die Beschädigung des Selbst-wertgefühls und der eigenen Identität dauerhaft wirkt.

Ein Armutsrisiko insbesondere für Frauen und ihre Kin-der ist Gewalt im sozialen Nahbereich. Schätzungen zu-folge kommt es in jeder dritten Partnerschaft zu Gewalt – genaue Daten werden erst vorliegen, wenn eine von der Bundesregierung hierzu geplante Untersuchung vorliegt.

Betroffene Frauen und ihre Kinder haben oft keine andere Möglichkeit als die Flucht aus der Wohnung ihres Miss-handlers. Hierfür stehen ihnen in der Bundesrepublik über 400 Frauenhäuser zur Verfügung, die jährlich von etwa 45 000 Frauen mit ihren Kindern aufgesucht werden.

Wenn Frauen zum Zeitpunkt des Verlassens der Haus-haltsgemeinschaft nicht erwerbstätig sind, ist die eigene wirtschaftliche Basis und die der Kinder gefährdet.

Bei Einkommensarmut müssen Familien mit zu knappen Mitteln den täglichen Lebensunterhalt bestreiten. Mög-lichkeiten und Fähigkeiten der Familienhaushalte hierzu nehmen mit der Dauer und Tiefe der Armutslage (Kumu-lation) ab. Armut führt in der Konsequenz zu sozialer Aus-grenzung von Menschen, weil sie von Angeboten der Bil-dung, der Freizeit und des Konsums ausgeschlossen bleiben. Dauernde finanzielle Einschränkungen werden als emotional belastend erlebt und können zu Problemen im Verhalten und im Umgang mit anderen führen. Kinder insbesondere in Familien mit Langzeitarmut und kumu-lierenden negativen Lebenslagenmerkmalen sind häufi-ger sozial auffällig als andere Kinder.87

Für Kinder hat die Teilhabe an der modernen Markt- und Konsumgesellschaft eine besondere Bedeutung. Sie wer-den als Zielgruppe des Konsumgüter- und Dienstleis-tungsmarketings zunehmend umworben. In den meisten Familien artikulieren Kinder nicht nur ihre eigenen Kon-sumbedürfnisse und Konsumwünsche, sie nehmen auch Einfluss auf die Konsumentscheidungen der Eltern. Vor allem bei Familien mit niedrigerem wirtschaftlichem und sozialem Status stehen Marktteilnahme und soziale Inte-gration in einem engen Verhältnis. Die daraus

resultieren-den Einschränkungen beim Konsum können Kinder und Jugendliche bei Aktivitäten, Erfahrungen und möglicher-weise auch bei der Kommunikation mit Gleichaltrigen be-einträchtigen.

Kinder erleben, dass die Einschränkung in Konsum und die Ausgrenzung von (Bildungs-) Angeboten daraus re-sultiert, dass den Eltern die Möglichkeiten fehlen, ihre Wünsche und Interessen zu unterstützen. Armut bedeutet dann für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen Einschränkung und Ausgrenzung als funda-mentale Erfahrung des Aufwachsens. Die möglichen Konsequenzen für die Kinder sind geringes Selbstwertge-fühl, Depressivität, Einsamkeit, Misstrauen, Nervosität, Konzentrationsschwäche und Resignation in Bezug auf berufliche Chancen.

Die Beratungsstellen für Probleme der Partnerschaft und Erziehung registrieren ebenfalls die Folgen für die betref-fenden Familien. In der Ehe-, Familien- und Lebensbera-tung sowie der ErziehungsberaLebensbera-tung nannten bundesweit ca. ein Drittel der Ratsuchenden als direkten Anlass zum Aufsuchen der Beratung finanzielle Probleme.

Angesichts der relativ hohen Mietbelastung kommt es vor allem in Ballungsgebieten zu einer anhaltenden Verdrän-gung dieser Familien in schlechtere Wohnverhältnisse.

Trotz insgesamt positiver Tendenzen in der Wohnraum-versorgung sind daher in den letzten Jahren vor allem in Großstädten Problemgebiete entstanden.88 Charakteris-tisch war ein eher kinderfeindliches und ungesundes Wohnumfeld mit einer schlechteren Infrastrukturausstat-tung, insbesondere mangelhaften oder fehlenden Bil-dungs-, AusbilBil-dungs-, Arbeits-, Förder- und Unterstüt-zungsmöglichkeiten. Führt Einkommensschwäche zu einem Mangel an Wohnraum, weichen Kinder und Jugend-liche zudem häufig in den öffentJugend-lichen Raum aus. Sind dort keine entwicklungsfördernden Bedingungen, z. B. Ange-bote der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit vor-handen, kann das Wohndefizit nicht kompensiert werden.

Es entsteht Aggressivität, häufig verbunden mit zerstöreri-scher Gewalt an öffentlichen Einrichtungen. Armut und Ausgrenzung gefährden hier die Chancen von Kindern bei der Ausbildung ihrer Fähigkeiten und ihrer persönlichen Autonomie. Sie gefährden das Niveau ihrer Schulbildung und ihrer beruflichen Ausbildung. Die Beeinträchtigung der Entwicklung im Kindesalter kann bewirken, dass sich Kinder später keinen befriedigenden Platz im beruflichen, sozialen und privaten Leben sichern können, weil ihnen wichtige Voraussetzungen fehlen. Sie sind im Hinblick auf ihre Bildungs- und Berufschancen und damit ihre gesell-schaftliche und berufliche Integration benachteiligt.

Nach dem Gesundheitsbericht für Deutschland89besteht bei Kindern ein Zusammenhang zwischen dem Sozialsta-tus der Eltern und dem Gesundheitsverhalten bzw. der Krankheitsanfälligkeit. Benachteiligte Kinder sind häufi-ger ungesund ernährt, häufihäufi-ger übergewichtig und kör-perlich weniger aktiv, was weitere gesundheitliche Folgen

87 Gesundheitsbericht für Deutschland hrsg. vom Statistischen Bun-desamt, 1998.

88 siehe Bericht Teil A Kap. VI.4.

89 siehe hierzu auch Bericht Teil A Kap. VII.

nach sich zieht. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Ernährungsverhalten. Ergebnisse zum Ernährungsverhal-ten bei Sozialhilfe beziehenden Familien in sozialen Brenn-punkten westdeutscher Großstädte verdeutlichen, dass äußere Rahmenbedingungen (begrenztes Einkommen, ein-geschränkte Mobilität beim Einkaufen sowie kleine Woh-nungen mit geringen Lagermöglichkeiten) das Ernährungs-verhalten ebenso prägen wie fehlende Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Nahrungszubereitung und mangelndes Ernährungswissen. Dennoch können auch Handlungsmus-ter identifiziert werden, durch die einkommensschwache Haushalte ihre Einkommen verbindlich und planvoll re-geln. Dazu gehört Vorratshaltung zur Absicherung der Ernährungsversorgung in der problematischen letzten Wo-che vor der nächsten Geldüberweisung. Hier ergeben sich Aufgaben für die Bildungs- und Beratungsarbeit, die bisher noch zu wenig Berücksichtigung finden.

Armut von Kindern bedeutet eine Einschränkung ihrer Erfahrungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten, ins-besondere dann, wenn belastende Faktoren kumulieren.

Kinder werden vor allem dann als arm bezeichnet, wenn folgende Kriterien zutreffen:

– wenn die für ein einfaches tägliches Leben erforderli-chen Mittel unterschritten werden,

– wenn es an unterstützenden Netzwerken für ihre so-ziale Integration mangelt,

– wenn sie von den für die Entwicklung von Sozial-kompetenz wichtigen Sozialbeziehungen abgeschnit-ten bleiben,

– wenn Bildungsmöglichkeiten für ihre intellektuelle und kulturelle Entwicklung fehlen,

– wenn sie in ihrem Umfeld gesundheitlichen Beein-trächtigungen ausgesetzt sind,

– wenn Kinder in Familien vernachlässigt werden, – wenn Kinder in Familien Gewalt ausgesetzt sind.

Ein besonderes Problem ist die Situation von Kindern und Jugendlichen, die auf der Straße leben (Straßenkinder).

Nach Expertenschätzungen verbringen in Deutschland ca.

7 000 Jugendliche einen erheblichen Teil ihres Lebens auf der Straße. Sie werden von ihren Sorgepflichtigen ver-nachlässigt oder entziehen sich deren Aufsicht. Ihren Le-bensunterhalt bestreiten sie oftmals durch Bettelei, Dieb-stahl, Prostitution oder Drogenhandel.

Obwohl dem Leben auf der Straße gegenüber eine starke Ambivalenz vorherrscht und für viele der Wunsch besteht, ein „ganz normales Leben“ (Partner, Wohnung und Arbeit) zu führen, ist ein Ausstieg für die Jugendlichen oftmals schwierig. Für Minderjährige fehlen angemessene Thera-piemöglichkeiten u. a. zum Drogen- oder Alkoholentzug.

Klassische Jugendhilfemaßnahmen mit ihren strengen Vorgaben führen häufig zu einem Scheitern, weil sie An-forderungen stellen, die von den Kindern und Jugendli-chen schon vorher nicht erfüllt werden konnten.

Generell sind für die Betreuung von Straßenkindern die örtlichen Jugendämter zuständig, denen ein breites Spek-trum an Hilfen zur Erziehung sowie an vorläufigen Maß-nahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen zur Verfügung steht, wie z. B. Vollzeitpflege, Heimerziehung, betreutes Wohnen oder intensive sozialpädagogische Ein-zelbetreuung. Darüber hinaus bestehen in den meisten Großstädten inzwischen so genannte niedrigschwellig orientierte Einrichtungen.

Zusammenfassung

In Deutschland gab es 1998 rd. 13 Mio. Haushalte mit Kindern, in denen insgesamt 46 Mio. Menschen lebten. Le-benslagen und Lebensformen dieser Familien erwiesen sich als sehr unterschiedlich. Mehr als drei Viertel der Haushalte von Familien waren verheiratete Paare mit Kindern, annähernd ein Fünftel allein Erziehende, deren An-teil in der Vergangenheit aufgrund der Zunahme von Trennung und Scheidung kontinuierlich gewachsen ist.

Das Rollenverständnis von Frauen und Männern hat sich in den letzten Jahrzehnten spürbar gewandelt. Vor dem Hintergrund gestiegener schulischer und beruflicher Bildung betrachten Frauen heute die Erwerbsarbeit als selbst-verständlichen Teil ihrer Lebensplanung. Demzufolge ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen kontinuierlich ge-stiegen. Wesentliche Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind jedoch familienfreundli-che beruflifamilienfreundli-che Arbeitsbedingungen und ein bedarfsgerechtes Kinderbetreuungssystem. Hier gibt es bei der Tagesbetreuung in den alten Ländern noch erhebliche Defizite.

Die meisten Familien bewältigen ihr Leben selbst und leben in sicheren materiellen Lebensverhältnissen. Es gibt jedoch auch Lebensereignisse, die dazu führen, dass Familien in Armut geraten. Einkommensarmut ist für den größeren Teil der Betroffenen ein vorübergehender Zustand und nur für einen kleineren Teil eine dauerhafte Le-benslage. Vor allem junge Familien mit kleinen Kindern tragen ein erhöhtes Armutsrisiko. Die Einkommensposi-tion von allein Erziehenden hat sich in den 90er-Jahren relativ verschlechtert. Auslösende Faktoren für Verar-mungsprozesse von Familienhaushalten sind in erster Linie Arbeitslosigkeit und Niedrigeinkommen, Probleme des Konsum- und Marktverhaltens sowie besondere Lebensereignisse, vor allem infolge von Trennung bzw. Schei-dung oder infolge von Schwangerschaft und Geburt eines Kindes.

Armut von Kindern ist vielfach eine Folge geminderter Erwerbs- und Einkommenschancen. Allein erziehende Müt-ter und Mehrkinderfamilien weisen sowohl ein erhöhtes Zugangs- als auch ein höheres Verbleibensrisiko in Armuts-lagen auf. Kinder sind vor allem hohen Entwicklungsrisiken ausgesetzt, wenn belastende Faktoren kumulieren.