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I. Einkommen, Vermögen und Überschuldung

I.1 Die Verteilung von Einkommen auf Personen und Haushalte

I.1.3 Relative Einkommensarmut

I.1.3.1 Zur Interpretation des Konzepts der relativen Einkommensarmut

Im Zusammenhang mit der Einkommensverteilung sind auch die Ränder der Verteilung zu beachten. Die ent-scheidende Frage ist dabei die nach den Schwellen, die Armut bzw. Reichtum abgrenzen. So könnte Armut über eine bedarfsorientierte Einkommensgrenze definiert wer-den, die sich nicht unbedingt in fester Relation zum Durchschnittseinkommen entwickeln muss. Wie bereits in der Einleitung beschrieben, werden in diesem Bericht aber relative Armuts- bzw. Reichtumsmaße verwendet.

Wird Armut als relativer Anteil zum Einkommensmittel-wert definiert, so impliziert dies, dass ein gesamtwirt-schaftliches Wachstum und eine damit verbundene

ma-kroökonomische Wohlstandsmehrung nicht unbedingt zu einem Rückgang des Anteils des unteren Einkommensbe-reichs führen. Ausschlaggebend ist, wie dieser Zuwachs verteilt wird. Da bei diesem Konzept immer die Einkom-menspositionen relativ zum Mittelwert betrachtet werden, kann dieser Anteil nur sinken, wenn Personen unterhalb des Mittelwertes prozentual überdurchschnittlich von der Wohlstandsmehrung profitieren.

I.1.3.2 Relative Einkommensarmut

Zur Analyse der Entwicklung relativer Einkommensar-mut werden vier Schwellen definiert, und zwar wird die 50 %- und die 60 %-Grenze jeweils auf das arithmetische Mittel sowie auf den Median der Nettoäquivalenzein-kommen bezogen. Unter Berücksichtigung der zwei al-ternativen Äquivalenzskalen ergeben sich daraus acht Be-rechnungsvarianten zur relativen Einkommensarmut (siehe Tabelle I.2). Für die Stichproben nach der Vereini-gung (1993 und 1998) ist darüber hinaus zu berücksichti-gen, dass weiterhin beträchtliche Unterschiede im Ein-kommensniveau zwischen Ost und West bestehen (siehe z. B. Anhangtabelle I.12). Deshalb erfolgt die Betrachtung für diese Jahre sowohl für Gesamtdeutschland als auch für West- und Ostdeutschland getrennt.

Dementsprechend ergaben sich unterschiedliche Quoten (siehe Tabelle I.3), wenn die Einkommenspositionen mit dem jeweiligen Mittelwert oder dem gesamtdeutschen in Relation gebracht wurden. Das Ausmaß relativer Ein-kommensarmut nahm im früheren Bundesgebiet seit

Be-Ta b e l l e I.2

Alternative Armutsgrenzen (in DM / Monat) 1973 bis 1998

1) 1993 und 1998: die Werte in den Spalten „West“ und „Ost“ beziehen sich auf die jeweiligen Mittelwerte, die in der Spalte „Ges.“ auf die ge-samtdeutschen Mittelwerte

2) Mittel: arithmetisches Mittel

Quelle: Hauser, R. und Becker, I.: Einkommensverteilung im Querschnitt und im Zeitverlauf 1973 bis 1998

ginn der 80er-Jahre kontinuierlich zu. Allerdings bestan-den abhängig von bestan-den jeweiligen Annahmen deutliche Unterschiede im Niveau. Bei Bezugnahme auf die Alte OECD-Skala lebten 1998 ungefähr 20 % der westdeut-schen Bevölkerung von weniger als 60 % des durch-schnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens, aber nur 7 % von weniger als der Hälfte des Median. Für die neuen Länder zeigten sich wesentlich geringere, aber tendenzi-ell steigende Werte, wenn die Grenzen auf die jeweiligen ostdeutschen Mittelwerte bezogen wurden. Demgegen-über war bei Bezugnahme auf gesamtdeutsche Mittel-werte das Ausmaß relativer Einkommensarmut in den neuen Ländern deutlich größer als im früheren Bundesge-biet, wegen der Angleichung der Einkommensniveaus al-lerdings tendenziell rückläufig.

Betrachtet man die Nettorealeinkommen (siehe Tabelle I.4), also alle nominalen Nettoeinkommen ausgedrückt in Preisen von 1995, so stellt man fest, dass auch die durch-schnittlichen Einkommen der untersten 10 % der Ein-kommensverteilung von 938 DM (1973) auf 1 124 DM (1998) wuchsen, was einem Anstieg von (preisbereinigt) 20 % entsprach. Dabei betrug der entsprechende durch-schnittliche Anstieg des Nettorealeinkommens aller Per-sonen rd. 38 %. Diese Werte beziehen sich nur auf das

frühere Bundesgebiet, weil hier zum einen längere Zeit-reihen von Interesse sind, als es Daten für die neuen Län-der gibt. Zum anLän-deren erschweren die umfassenden Än-derungen im Preisgefüge, die in den neuen Ländern mit der Vereinigung einhergingen, den Vergleich.

I.1.3.3 Gruppenspezifische relative Einkommensarmut

Hinter dem kontinuierlichen Anstieg der für die Gesamt-bevölkerung ermittelten relativen Einkommensarmut ver-bargen sich unterschiedliche gruppenspezifische Betrof-fenheiten, die sich im Zeitablauf verändert haben.

Tendenziell wurden Thesen über einen Rückgang der Al-tersarmut und eine zunehmende „Infantilisierung“ der Armut bestätigt (siehe Anhangtabellen I.13 bis I.20).

Letzteres betraf insbesondere Paarhaushalte mit mehre-ren Kindern sowie allein Erziehende (siehe Anhangta-bellen I.21 bis I.24). Der zwischen 1973 und 1993 in Fünfjahresabständen festgestellte Trend setzte sich aller-dings von der EVS 1993 auf die EVS 1998 nicht mehr fort, was auf vielfältige gesamtwirtschaftliche und insti-tutionelle Entwicklungen zurückzuführen ist; die verän-derte Methodik der EVS 1998 wirkte sich auf der Ebene der Nettoäquivalenzeinkommen – im Gegensatz zur Ta b e l l e I.3 Alternative Armutsquoten (in v. H.) 1973 bis 1998

1) jeweilige Mittelwerte: die Mittelwerte sind die der jeweiligen Landesteile

2) gesamtdeutsche Mittelwerte: die jeweiligen Verteilungen der Landesteile sowie die Gesamtverteilung werden am gesamtdeutschen Mittelwert gemessen

3) Mittel: arithmetisches Mittel

Bei einer Fallzahl zwischen 30 und 100 werden die Werte in Klammern ausgewiesen

Quelle: Hauser, R. und Becker, I.: Einkommensverteilung im Querschnitt und im Zeitverlauf 1973 bis 1998

Ta b e l l e I.4

Nettoäquivalenzeinkommen nominal und real 1973 bis 1998 (in DM/Monat)

1) Anteil des untersten Dezils am Gesamtnettoäquivalenzeinkommen

Quelle: Hauser, R. und Becker, I.: Einkommensverteilung im Querschnitt und im Zeitverlauf 1973 bis 1998 sowie eigene Berechnungen

Ebene einzelner Markteinkommensarten – eher geringfü-gig aus (siehe Materialband Kap. I.1.2). Die nachfolgen-den genaueren Betrachtungen der Kinder- und Altersar-mut basieren nur auf den Daten der EVS 1998 für das frühere Bundesgebiet.

Im Einzelnen ergab die EVS 1998 – ungeachtet ihrer me-thodischen Besonderheiten und Probleme – in den alten Ländern von 1993 auf 1998 einen leichten Rückgang der Betroffenheit von Kindern bis 6 Jahre, nachdem die Quo-ten von 1973 bis 1993 deutlich gestiegen waren. Zurück-führen lässt sich dies vermutlich auf Verbesserungen des Familienleistungsausgleichs. Ältere Kinder und Jugendli-che bis 17 Jahre waren allerdings fast unverändert stark betroffen. Wegen der erheblichen Heterogenität der be-troffenen Gruppe hinsichtlich des Haushaltskontextes las-sen sich keine monokausalen Zusammenhänge, jedoch mittels der 50 %-Armutsgrenze des arithmetischen Mit-tels (Alte OECD-Skala) einige typische Konstellationen herausfiltern. Erwerbsstatus der Bezugsperson, ggf. auch des Ehepartners, und Familientyp waren wesentliche Determinanten für das Armutsrisiko von Kindern. Erwar-tungsgemäß zeigte sich bei der Untersuchung nach Er-werbsstatus der Bezugsperson ein deutlicher Zusammen-hang mit Arbeitslosigkeit: Fast ein Sechstel der Kinder in relativer Einkommensarmut in Westdeutschland lebte 1998 in einem Haushalt mit arbeitsloser Bezugsperson.

Betrachtet man die Kinder in relativer Einkommensarmut aus einem anderen Blickwinkel, nämlich nach dem Fami-lientyp, so waren Kinder von allein Erziehenden mit

ei-nem Viertel überproportional häufig unter den Kindern einkommensarmer Eltern vertreten, wobei zwei Drittel dieser allein erziehenden Bezugspersonen nicht erwerbs-tätig waren. Kinder in Ehepaarhaushalten bildeten die Mehrheit, wobei auch hier das Fehlen einer Erwerbstätig-keit bei der Bezugsperson oder dessen Ehepartner für das Armutsrisiko ausschlaggebend war. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bei fehlender Erwerbstätigkeit – infolge von Arbeitslosigkeit oder wegen der Betreu-ungspflichten gegenüber Kindern – der bestehende Fami-lienleistungsausgleich häufig nicht ausreichte, um Kin-derarmut zu verhindern.

Auf der anderen Seite scheint nach den Ergebnissen der EVS 1998 das in den 70er- und 80er-Jahren rückläufige Problem der Altersarmut in Westdeutschland wieder zu-genommen zu haben. Allerdings spiegelte sich dies nicht in den Quoten der Empfänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt der über 65-Jährigen wider (siehe An-hangtabellen II.8 und II.12). Die Vergleichbarkeit von So-zialhilfebezug und relativer Einkommensarmut ist jedoch eingeschränkt, da die Gewährung von Sozialhilfe eine Be-darfsprüfung voraussetzt und sich die Höhe der Sozial-hilfe an Regelsätzen orientiert, die unabhängig sind von den hier aufgeführten alternativen relativen Armutsgren-zen. Mögliche Ursachen des Anstiegs der relativen Altersarmut könnten die infolge der lang anhaltenden Ar-beitslosigkeit verbreiteten Brüche in der Erwerbsbiogra-fie der jüngeren Rentnergeneration sein. Insbesondere im

rentennahen Alter trat in den 90er-Jahren häufiger Ar-beitslosigkeit ein. Bei einer genaueren Betrachtung der westdeutschen Rentner äußerte sich dies in einer höheren Betroffenheit von relativer Einkommensarmut der 65- bis 70-Jährigen im Jahr 1998 gegenüber der Betroffenheit dieser Altersgruppe fünf Jahre zuvor (5,8 % auf 9,6 %, 50 % des westdeutschen arithmetischen Mittels, Alte OECD-Skala).

Eine Strukturanalyse der Personen ab 65 Jahren unterhalb der 50 %-Armutsgrenze – wieder bezogen auf das arith-metische Mittel und die Alte OECD-Skala – für West-deutschland im Jahr 1998 hat gezeigt, dass es sich dabei zur Hälfte um Alleinstehende handelte; in der Vergleichs-gruppe oberhalb des Grenzwertes lebte nur gut ein Drittel alleine. Aus der Differenzierung nach Geschlecht und Fa-milienstand wird deutlich, dass in der Gruppe der über 65-Jährigen unter dieser Schwelle Frauen einen größeren Anteil (63,8 %) ausmachten als darüber (58,1 %) und dass dies insbesondere auf die überproportionale Betroffenheit geschiedener Frauen zurückzuführen war. Hinsichtlich des beruflichen Ausbildungsgrades als Indikator für die im Erwerbsleben erreichte Einkommensposition, die we-sentlich für die Alterssicherungsansprüche ist, zeigten sich strukturelle Unterschiede: Fast die Hälfte der von re-lativer Einkommensarmut Betroffenen hatte nur einen Anlernberuf u. Ä. oder überhaupt keinen Berufsab-schluss, während es in der Vergleichsgruppe oberhalb der relativen Armutsgrenze nur ein gutes Viertel war (Werte wieder für Westdeutschland 1998).

An dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass die gruppenspezifische Analyse einen wesentlichen Einfluss der jeweiligen Äquivalenzskala auf die Rangfolge der Ri-siken offenbart hat. Die Richtung des Effekts war zwar wegen unterschiedlicher Annahmen über Haushalts-größenersparnisse der beiden hier verwendeten Skalen zu erwarten, die Stärke des Einflusses der Äquivalenzge-wichte auf gruppenspezifische Risiken aber teilweise überraschend. So ergaben sich 1993 bei Verwendung der Alten OECD-Skala für verwitwete Alleinstehende gerin-gere Quoten als für Ehepaare mit zwei Kindern, während auf der Basis der Neuen OECD-Skala die Betroffenheit von relativer Einkommensarmut der Verwitweten unge-fähr doppelt so groß war wie die der Paarhaushalte mit zwei Kindern. Die oben erwähnte Zunahme relativer Ein-kommensarmut sowie die Richtung der strukturellen Ver-schiebungen während des Beobachtungszeitraums blie-ben aber von der Wahl zwischen den beiden hier verwendeten Skalen unberührt.