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I. Einkommen, Vermögen und Überschuldung

I.3 Überschuldung privater Haushalte

Die Aufnahme von Krediten gehört zu den normalen Handlungsweisen von privaten Haushalten in einer Marktwirtschaft. Bestimmte Lebenslagen machen das Eingehen von Kreditverpflichtungen erforderlich. Mün-det jedoch Verschuldung in Überschuldung, bedeutet dies Armut. Im Rahmen des Armuts- und Reichtumsberichts kommt daher der Frage nach den Ursachen und Wirkun-gen von Überschuldung besondere Bedeutung zu.41 I.3.1 Überschuldung als Armutskrise

Unter Überschuldung wird die Nichterfüllung von Zah-lungsverpflichtungen verstanden, die zu einer wirtschaft-lichen und psychosozialen Destabilisierung der Betroffe-nen führt. Überschuldung ist ein Ausdruck von Armut.

Besonders häufig ist dabei die primäre Verschuldung (z. B. Miet-, Energie- und Telefonschulden) und die Kre-ditverschuldung (insbesondere bei Kreditinstituten und im Handel). Überschuldete Haushalte können mit ihren laufenden Einkommen (nach Auflösung ihrer Reserven) den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr vollständig nachkommen, selbst wenn sie ihre Lebenshaltung ein-schränken. Sie geraten in eine ernste

Unterversorgungs-lage, sind im alltäglichen Leben eingeschränkt und Stress sowie psychischem Druck ausgesetzt. Finanzielle und psychosoziale Destabilisierung verstärken sich oft gegen-seitig.42 Diese Situation belastet auch die Kinder, er-schwert deren Erziehung und beeinträchtigt deren Ent-wicklung. Für eine wirksame Überschuldungsprävention und -bekämpfung ist es wichtig, die materielle und im-materielle Seite der Überschuldungssituation zu berück-sichtigen und im Rahmen der Schuldnerberatung zu sta-bilisieren.

Im Mittelpunkt einer wirksamen Strategie der Vermei-dung und Bekämpfung von ÜberschulVermei-dung steht die Schuldnerberatung, Schuldenbereinigung und Entschul-dung ohne gerichtliches Verfahren. Allerdings ist in der Diskussion der letzten Jahre das neue Verbraucherinsol-venzverfahren mit der Möglichkeit der Restschuldbefrei-ung in den Vordergrund gerückt.

I.3.2 Zahl der Überschuldungsfälle

Die GP Forschungsgruppe hat in den 90er-Jahren mehrere Gutachten zur Überschuldung und zur Schuldnerberatung vorgelegt. Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende Entwicklung (Schätzungen):

Die Überschuldung hat offenbar in Westdeutschland 1997 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht und ist seitdem in Zusammenfassung

Die Privatvermögensbestände, die Vermögenseinkommen und die Vermögensbildung privater Haushalte in Deutschland sind ungleichmäßig verteilt. Vom Privatvermögen, das verzinsliches Geldvermögen und Immobilien abzüglich Bau- und Konsumschulden umfasst, entfielen nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 (EVS) in Westdeutschland 42 % auf die vermögendsten 10 % der Haushalte, während nur 4,5 % den unteren 50 % der Haushalte gehörten. Der Durchschnitt je Haushalt in den neuen Ländern (88 000 DM) belief sich auf 35 % des westdeutschen Durchschnitts (254 000 DM). Die Summe (8,2 Billionen DM) sowie die Durchschnittsbeträge lä-gen höher und die Ungleichmäßigkeit der Verteilung würde sich noch größer darstellen, wenn die reichsten Haus-halte statistisch einbezogen werden könnten.

Aus der seit 1962 nachgewiesenen zunehmenden Verbreitung der Vermögensformen kann geschlossen werden, dass die Verteilung des Privatvermögens in Westdeutschland langfristig tendenziell gleichmäßiger geworden ist.

Hierzu hat vor allem die gestiegene, staatlich geförderte Verbreitung des Immobilien-Eigentums geführt.

Die Ungleichmäßigkeit der Verteilung des Privatvermögens beruht zu einem erheblichen Teil auf der ungleich-mäßigen Einkommensverteilung und auf den unterschiedlichen Positionen der Haushalte im Lebens- und Famili-enzyklus. Von der Einkommenshöhe hängt die Sparfähigkeit ab, die zusammen mit der Sparneigung das Sparen bestimmt. Das Sparen ergibt neben Erbschaften und Wertzuwächsen die Entwicklung der individuellen Vermö-gensbestände im Lebensverlauf. Wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Maßnahmen, die die privaten Realein-kommen erhöhen, und staatliche Anreize für das private Sparen wirken deshalb der Ungleichmäßigkeit der Ver-mögensverteilung entgegen.

Vom Produktivvermögen waren 1995 schätzungsweise 1,3 Billionen DM privates Betriebsvermögen, das nicht Ak-tiengesellschaften gehörte und statistisch nicht im Privatvermögen erfasst ist. Das Humanvermögen ist aufgrund der Bildungspolitik verhältnismäßig gleichmäßig verteilt. Bildungsaufwendungen und entgangene Einkommen beliefen sich 1995 zusammen auf 29 Billionen DM, das sind im Schnitt pro Person 370 000 DM.

41 Der Bericht zur Überschuldungssituation stützt sich auf ein Gutach-ten zur „Überschuldung in Deutschland zwischen 1988 und 1999“, das von der GP Forschungsgruppe – Institut für Grundlagen- und Programmforschung – unter Leitung von Dr. Dieter Korczak im

Auf-trag der Bundesregierung im September 2000 erstellt wurde. 42 Korczak, D. u. a.: a. a. O.

der Tendenz leicht rückläufig, bewegt sich aber immer noch auf einem hohen Niveau. In Ostdeutschland hat sich die Situation weiter verschärft und 1999 mit 870 000 Haushalten ihren vorläufigen Höchststand erreicht.

I.3.3 Überschuldungsstrukturen

Unter den Überschuldeten, die Schuldnerberatung nach-suchten, befanden sich 1999 rund 2,0 % unter 20 Jahren, 20 % zwischen 20 und 30 Jahren, 36 % zwischen 30 und 40 Jahren, 25 % zwischen 40 und 50 Jahren und 17 % über 50 Jahren. Überschuldung tritt also besonders im Alter zwischen 20 und 50 Jahren auf. Im Zeitvergleich von 1994 bis 1999 ist in Ost- wie Westdeutschland eine deut-liche Verschiebung der Altersstruktur der Überschul-dungsfälle in die älteren Jahrgänge festzustellen (deutlich weniger Fälle unter 30 Jahren, deutlich mehr Fälle über 40 und 50 Jahren). Der geringe Anteil von Jugendlichen an der Klientel der Schuldnerberatungsstellen täuscht aber. Der Weg in die Überschuldung beginnt oft in sehr jungen Jahren.

Heute haben bereits 20 % der Jugendlichen im Westen und 14 % der Jugendlichen im Osten Schulden. Bei Ein-tritt in die Berufstätigkeit und Vollendung des 18. Le-bensjahres steigt die Schuldenhöhe junger Menschen, da sie nun auch von den Banken Kredite erhalten.

Auch hinsichtlich des Familienstands überschuldeter Menschen gibt es in den 90er-Jahren Veränderungen. Ein-personenhaushalte haben Familien als stärkste Gruppe der überschuldeten Haushalte abgelöst. Während 1994 noch in gut der Hälfte der überschuldeten Haushalte Kin-der lebten, belief sich 1999 Kin-der Anteil Kin-der überschuldeten Haushalte mit Kindern in Ost- wie Westdeutschland auf rund 43 % (siehe Anhangtabelle I.67). In den 90er-Jahren zugenommen hat insbesondere der Anteil der Einperso-nenhaushalte; dieser Anteil belief sich 1999 auf rund 45 % (West 44,5 %, Ost 46 %).

Der relativ größte Anteil überschuldeter Personen bezieht Erwerbseinkommen (siehe Anhangtabelle I.68). Dies er-höht die Chancen der Einigung mit Gläubigern sowohl bei der Schuldenbereinigung durch Schuldnerberatungsstel-len als auch im Verbraucherinsolvenzverfahren. Das

Aus-maß der Erwerbsbeteiligung überschuldeter Personen fällt in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich aus. Über die Hälfte der Überschuldeten in Westdeutsch-land bezieht Lohn oder Gehalt (von 1988 bis 1999 stieg der Anteil von 49 % auf 52 %), in Ostdeutschland nur et-was mehr als ein Viertel (von 1994 bis 1999 stieg der teil von 26 % auf 27 %). Dementsprechend liegt der An-teil der Überschuldeten, die Lohnersatzleistungen erhielten, in Ostdeutschland vergleichsweise höher. Der Anteil überschuldeter Rentenbezieher nahm im Verlauf der 90er-Jahre in Ostdeutschland (Vergleich 1994 bis 1999) deutlich ab (16 % auf 9 %), in Westdeutschland (Vergleich 1988 bis 1999) deutlich zu (3 % auf 11 %).

Die Entschuldungschancen hängen auch von der An-zahl der Gläubiger ab. So ist beispielsweise das Ver-braucherinsolvenzverfahren mit vielen Gläubigern sehr aufwendig und die Schuldenregulierung schwierig und langwierig.431999 hatten 8 % der überschuldeten Haushalte einen Gläubiger, 40 % bis zu fünf, 67 % un-ter zehn und 33 % zehn und mehr Gläubiger. In Ost-und Westdeutschland ist bei überschuldeten Haushal-ten die Kreditverschuldung bei KreditinstituHaushal-ten und im Versandhandel dominierend. Telefonschulden gewin-nen insbesondere aufgrund der steigenden Verbreitung des Handys an Bedeutung. In Ostdeutschland sind Haus-halte doppelt so häufig von Miet- und Energieschulden betroffen wie in Westdeutschland.

Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Beschreibung der Überschuldungssituation ist die Höhe der Zahlungsver-pflichtungen, denen ein Haushalt zu Beginn der Beratung gegenüber steht (siehe Anhangtabelle I.70). Die Ent-schuldungschancen werden wesentlich vom Verhältnis der verbliebenen finanziellen Leistungsfähigkeit zu der Schuldenhöhe beeinflusst. Bei den Klienten der Schuld-nerberatungsstelle ergab sich 1999 folgende Auffäche-rung der Schuldenhöhen: Über ein Drittel der Überschul-deten (37 %) hatte Schulden unter 20 000 DM, über zwei Drittel (68 %) unter 50 000 DM und 17 % der Überschul-deten hatte Schulden über 100 000 DM.

Ta b e l l e I.16

Entwicklung der Überschuldungsfälle

Quelle: Korczak, D. u. a.: Überschuldung in Deutschland zwischen 1988 und 1999

43 Korczak, D. u. a.: a. a. O.

I.3.4 Anpassungsverhalten der Haushalte Die Alltagsbewältigung erfordert den Einsatz humaner, materieller und sozialer Ressourcen. Humane Ressourcen nehmen dabei insoweit eine Schlüsselrolle ein, als sie an-dere Ressourcen erschließen. Auf der Seite der materiel-len Ressourcen der privaten Haushalte spiemateriel-len Einkom-men, Vermögen und Kredite eine zentrale Rolle. Die Zunahme des bargeldlosen Zahlungsverkehrs erfordert von Haushalten und deren Mitgliedern eine höhere Wach-samkeit, um die Kontrolle über die Konsumausgaben und den Überblick über den sich verändernden Liquiditätssta-tus zu behalten. Die Nutzung von Kreditkarten oder auch neueren Formen der bargeldlosen Bezahlung per Handy oder per Internet bergen Risiken hinsichtlich der Ein-schätzung der noch vorhandenen Liquidität.

Haushalte geraten vorübergehend oder anhaltend in Pro-blemlagen, wenn sie sich veränderten Lebensbedingun-gen nicht rasch Lebensbedingun-genug anpassen können. Dann entstehen prekäre Lebensverhältnisse, die in Verarmungsprozesse übergehen können. Kritische Lebensereignisse mit einem starken Rückgang des Haushaltseinkommens und/oder ei-nem Anstieg der zu deckenden Bedarfe sind vor allem Ar-beitslosigkeit, Trennung und Scheidung oder die Geburt eines Kindes. Es hängt von der Anpassungsfähigkeit der Haushalte ab, ob nur eine vorübergehende Phase mit Kre-diten überbrückt werden muss oder ob ein fortschreiten-der Verschuldungsprozess entsteht.

Die Weichenstellung für den einen oder anderen Weg wird stark von der Rationalität der Haushaltsführung und des Marktverhaltens beeinflusst. Bildung und die Fähigkeit der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung sowie ein kontrolliertes Verhalten (kognitives Involve-ment) der Haushaltsmitglieder bei Marktentscheidungen (hinsichtlich Konsum und Verschuldung) entscheiden we-sentlich über die Bewältigung kritischer Situationen und ihre Überwindung. Dabei stellt sich die Aufgabe, kogni-tiv und emotional einen zumindest zeitweisen Abstieg auf ein niedrigeres Lebenshaltungsniveau und ggf. einen ver-minderten sozialen Status mit geringerem Prestige zu be-wältigen und einen neuen Haushaltsstil zu finden. Wirt-schaftliche Beratung und Bildung (z. B. durch Schuldner-und Verbraucherberatung oder hauswirtschaftliche Schu-lung und Familienbildung) sind wichtige Hilfen. Deren Inanspruchnahme ist für die Betroffenen jedoch nicht selbstverständlich. In einer labilen Situation, die leicht zu Rückzug aus und Partizipationsverlust an Gesellschaft führen kann, unterbleiben häufig die notwendigen Infor-mations- und Kommunikationsschritte.

Leben Menschen über längere Zeit in Einkommensarmut, ohne dass Änderungen der Umstände oder des Verhaltens gelingen, suchen sie mit Kreditaufnahmen und Vorrats-einkäufen oder einer tageweisen Bewirtschaftung der ge-ringen, diskontinuierlich zufließenden Mittel ihren Le-bensbedarf notdürftig zu decken. Das Risiko einer anhaltenden Überschuldung ist hier hoch.44

Einer Überschuldung liegen zumeist mehrere Ursachen zugrunde. In erster Linie sind Arbeitslosigkeit und Nied-rigeinkommen (Erwerbsbeteiligung und Einkommens-erzielung) zu nennen, danach Probleme der Haushalts-führung und des Marktverhaltens (Haushalt, Konsum und Kredit) sowie Änderungen der Lebensbedingungen, insbesondere infolge von Trennung bzw. Scheidung oder aufgrund der Geburt eines Kindes. Auslösende Faktoren sind auch Erkrankung und Unfall. Bildungsdefizite können diese Faktoren verstärken. Familienrelevante Ereignisse wie Trennung oder Scheidung, Krankheit, Unfall, Tod oder der Wegfall eines Verdienstes bei Ge-burt eines Kindes sind insgesamt für mehr als ein Drittel der überschuldeten Haushalte die Gründe für diese Ent-wicklung.

Arbeitslosigkeit war in den 90er-Jahren das wesentlichste auslösende Moment für Verschuldungsprozesse. Ihre Dauer, der Umfang der Erwerbsbeteiligung anderer Haus-haltsmitglieder und das Vorhandensein von finanziellen Reserven und/oder Wohneigentum sind mitentscheidend, ob Verschuldung zu Überschuldung führt. In Ost- und Westdeutschland bestehen jedoch wesentliche Unter-schiede. Für Ostdeutschland trifft Arbeitslosigkeit nach wie vor als primärer Auslöser zu. In Westdeutschland hat der Anteil der Erwerbstätigen unter den Überschuldeten deutlich zugenommen, die Überschuldung von Arbeitslo-sen ist dagegen im Verlauf der 90er-Jahre relativ zurück-gegangen.

Die Eindämmung der Armutskrise „Überschuldung“ ist möglich, insbesondere bei einem Rückgang der Arbeits-losigkeit und einer Zunahme der Beschäftigung. Die Viel-falt der Überschuldungsanlässe und das Auftreten neuer Risiken machen aber deutlich, dass Überschuldungspro-bleme auch in Zukunft virulent bleiben werden. Deshalb darf bei Maßnahmen zur Armutsprävention und Über-schuldungsbekämpfung nicht nachgelassen werden.

44 Sozialbericht NRW 1998, Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport (Hrsg.), Düsseldorf, 1998.

II. Soziale und ökonomische Situation von