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Rezeptionslenkung durch die Präsenz der Erzählinstanz

III VORBEMERKUNGEN ZUR ANALYSE

2. Die Erzählsituation: Vermittlungsstrategien in den Romanexten

2.2 Die galanten Romane

2.2.2 Rezeptionslenkung durch die Präsenz der Erzählinstanz

Entscheidend in Bezug auf die Frage nach einer Vermittlung von Verhaltensweisen, die moralphilosophisch geboten oder zu vermeiden sind, sind zudem die explizite Präsenz des Erzählers und etwaige Signale der Rezeptionslenkung. Auch Gelzer sieht im „Hervortreten des Erzählers“ eine „Hinwendung zum Zuhörer“, die sich durch Anreden des Lesers, durch Kommentare oder das Dirigieren von Ortswechseln auszeichne623. Ein in den beiden zu untersuchenden galanten Texten wiederholt verwendetes Mittel der Leserlenkung ist dabei die

622 Für den galanten Roman stellt auch Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 23f. grundsätzlich fest: „Als konstitutiv (verbindlich) gilt seit 1700 […] die narrative Schreibweise. Sie integrierte vielfältige Erzählinstanzen und Sprecherrollen und ist im Roman um 1700 mit einer Betonung der Handlungsebene verbunden“. Ihre ebenfalls auf die Gattung insgesamt bezogene Erkenntnis, „das gesamte Geschehen des Romans“ werde „über die Stimme des auktorialen Erzählers“ vermittelt, wird durch die vorliegende Feststellung eines temporären Erzählerwechsels nicht unterlaufen, vgl. ebd., S. 41. Tatsächlich führt die in der Bellamira etablierte Erzählinstanz insgesamt durch das Geschehen und auch sie ist es, die das Wort abgibt. Für die Dauer der Binnennarration aber entscheidet die Figur als Erzähler, wann und wie sie welche Information erzählt.

623 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 113. Grundsätzlich sieht auch er die Hinwendung des Erzählers zum Publikum als Merkmal von „Sympathielenkung“ und begründet diese Ansicht, indem er einen Allgemeinplatz über die Konstituierung der Erzählinstanz in Romanen vor der Jahrhundertmitte als korrekturbedürftig beschreibt, ebd.: „Die in der Forschung zum Teil bis heute vertretene These, wonach erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, mit den Erzählwerken Wielands, ein ‚seiner selbst bewusster‘

(Booth) Erzähler aufgetreten sei, der sich ironisierend, unterhaltend, abschweifend an sein Publikum wendet, läßt sich so nicht aufrecht erhalten. In der galanten Erzählliteratur ist insgesamt eine verstärkte Hinwendung zum Zuhörer sowie ein zum Teil deutliches Hervortreten des Erzählers bemerkbar: Dieser wendet sich, insbesondere bei den nachgeholten Vorgeschichten, direkt an sein Publikum, führt Schauplatzwechsel ein oder leitet mit ironischen Kommentaren durch das Geschehen.“

147 Attribuierung der Figuren. Regelmäßig wird das Handeln und Denken der Figuren nicht einfach nur geschildert, sondern zumeist gleichzeitig mit einer Bewertung durch den Erzähler bedacht.

Als Beispiel mag in Bohses Text eine geplante Intrige des tingitanischen Prinzen Bogodes und seiner Verbündeten Mesilla dienen, die vom Erzähler wie folgt charakterisiert wird: „Dieses ware der Anschlag/ welchen der verliebte Bogodes und die falsche Mesilla über die schöne Bellamira und ihre Entführung aus Tingi schmiedeten“624, im Folgenden bezeichnet die Erzählinstanz Mesilla zudem als „Boßhafte“625und die „schalkhaffte Mesilla“626, während sie über Bellamira als das „arme Fräulein“627 spricht. Der Rezipient wird im Kontext dieser Episode über die Absichten des Prinzen informiert ebenso wie über die Arglosigkeit der Protagonistin, für die sich die Situation als Rettungsmaßnahme darstellt. Das Vorhaben wird eindeutig negativ bewertet durch die Attribute, mit denen der Erzähler hier arbeitet.

Ähnlich verfährt auch die Erzählinstanz in Hunolds Roman, um dem Rezipienten die Einordnung der jeweiligen Figur zu ermöglichen. Rosantes wird als „artige[r] Prinz“628 eingeführt, Brion als

„gütiger und verständiger Vater“629– Figuren hingegen, die sich durch eine mangelnde Fähigkeit zur Affektkontrolle auszeichnen, werden durch Attribute deutlich als negativ und somit nicht nachahmungswürdig markiert. So werden etwa die beiden Figuren, die angetrieben durch ihre Wollust (und teils durch ihren Ehrgeiz) die weibliche Unschuld gefährden, beispielsweise als

„verwegen“630oder ihre Liebe als „unsinnige“631 bezeichnet. Das durch sie dargestellte Verhalten wird durch diese eindeutige Leserlenkung bewertet und umso nachvollziehbarer als zu vermeiden dargestellt. Dies mag dem heutigen Leser zwar holzschnittartig, da schematisch vorkommen, hat aber den Effekt, dass der Rezipient zu keiner Zeit eine falsche Einschätzung über die jeweilige Figur vornehmen kann. Positive Figuren und Handlungen werden stets als gut – und im Endergebnis durch das Roman- oder Episodenende –, als nachahmungswürdig lesbar.

Umgekehrt verurteilt der Erzähler intrigantes und bedrängendes Verhalten, so dass ein von zeitgenössischen Romankritikern angenommenes Identifikationspotenzial für den Leser erst gar nicht geschaffen wird.

Ein weiteres Signal der Leserlenkung ist insbesondere bei Hunold an denjenigen Stellen zu beobachten, in denen der Erzähler den Leser mehr oder weniger direkt anspricht und ihn etwa durch rhetorische Fragen in das Geschehen mit einbezieht632. Auffällig ist vor allem die

624 Bohse: Bellamira, S. 360.

625 Bohse: Bellamira, S. 361.

626 Bohse: Bellamira, S. 365.

627 Bohse: Bellamira, S. 361.

628 Hunold: Adalie, S. 10.

629 Hunold: Adalie, S. 5.

630 Vgl. Hunold: Adalie, S. 86.

631 Hunold: Adalie, S. 121.

632 In seinen Thesen zum galanten Roman vertritt Gelzer die Annahme, im galanten Roman werde „eine Erzählsituation entworfen, bei der Erzähler, intendierte Leser und Romanfiguren dieselben Verhaltensnormen teilen.“ Gelzer: Thesen zum galanten Roman, S. 384. Diese Annahme fußt auf seiner

148 Verwendung des Personalpronomens „wir“, wenn der Erzähler etwa den Privatraum für die gerade ‚beobachtete‘ Figur einfordert und/oder sich einer anderen dezidiert zuwendet, um nachzusehen, wie es ihr ergangen ist und wie es jeweils in ihrem Inneren aussieht. So beschreibt er den Moment nach dem Abschied von Adalie und Rosantes (also die syntagmatisch konstitutive Trennung nach der Annäherung) und richtet den Fokus auf Adalies Gemütszustand, der sich durch einen Tränenausbruch als Verräter ihrer „hefftigen Liebe“ und durch „eusserste[] Wehmuth“

auszeichnet633, um dann mit folgenden Worten zur nächsten Begebenheit überzugehen: „Wir wollen Adalien alle Augenblicke nach Bosardens zurückkunfft in gröster Betrübnis allein zehlen lassen/ weil doch verliebte in ihren Klagen nicht gerne gestöhret seyn/ und sehen, wie Renard seiner zweyfelhafften Vergnügung zu helffen gesonnen ist.“634 Obgleich diese Aussage grundsätzlich als Ausdruck des narrativen Modus gesehen werden kann, bedeutet sie jedoch nicht schlichtweg die Evokation einer Distanz zwischen Leser und Erzähltem. Vielmehr bezieht der Erzähler den Rezipienten in die Geschichte mit ein und konstruiert einen Anschein von Realität, wenn er Ruhe für die Protagonistin einfordert und den Rezipienten regelrecht zu einem anderen Schauplatz ‚mitnimmt‘. Bewirkt wird dieser Effekt durch die Verwendung des Personalpronomens „wir“ – es entsteht der Eindruck einer Vergegenwärtigung und Aktualität des Geschehens, das der Rezipient gemeinsam mit dem Erzähler nicht nur überblickt, sondern auch aus der Nähe betrachtet. Erzähler und Leser „wollen“ die Protagonistin allein lassen – und zwar, weil diese gerade ihren Affekten freien Lauf lassen soll. Damit formuliert der Erzähler einen Allgemeinplatz über Verliebte, der auch Relevanz hat für die Lebenswirklichkeit des Rezipienten:

Das Erleben gewisser Affekte, wie der geschilderten, ist eine gewöhnliche Konsequenz aus der Trennung. Der Einbezug des Lesers und seine indirekte Adressierung bewirken, dass er genau auf diesen inhaltlichen Aspekt aufmerksam gemacht wird, durch die Leserlenkung wird demnach ein bestimmtes Affektwissen vermittelt.

Für die Vermittlungsfunktion wesentlich sind dabei etwa Textstellen wie folgende, in der die Erzählinstanz ihren Überblick nicht nur zu erkennen gibt, sondern auch hier den Rezipienten aktiv in diese Vogelperspektive mit einbezieht, um die Liebesbeziehung zwischen der Protagonistin und ihrem Geliebten näher zu beschreiben. Zunächst schildert der Erzähler wiederholt die Gemütslage Adalies, die ihren Rosantes vermisst und der ihr Zimmer wie „eine betrübte Wüsteney/ welches sie ehemals vor ein irdisches Paradieß geschätzet“635 vorkommt. Weiter heißt

Beobachtung, dass sich „die Erzählsituation des galanten Romans analog zum geselligen Erzählen in einer idealen Konversationsrunde“ verhalte. Ebd., S. 382. Dies wird für die beiden vorliegenden Texte nicht postuliert, doch trifft die Beobachtung Gelzers den Kern des hier ebenfalls angeführten Arguments: Erzähler und Rezipient bilden eine Gemeinschaft, in der sie gewissermaßen gleichberechtigte Partner in einer Kommunikationssituation sind. Diese ‚Gleichberechtigung‘ kommt vorliegend durch das Personalpronomen ‚wir‘ und den gemeinsamen Wissensvorsprung zur Geltung.

633 Hunold: Adalie, S. 58.

634 Hunold: Adalie, S. 59.

635 Hunold: Adalie, S. 101.

149 es: „ja gantz Paris schiene ihr ein finsterer Kercker zu seyn/ da ihr Gemüth die Sonne ihrer Vergnügung verlohren.“636 Aufgrund dieser Gefühlslage entschließt sich Adalie, mit der Gräfin Mommarancy fortzugehen. Der Erzähler kommentiert dies wie folgt: „Wir wollen sie eine Weile ziehen lassen/ und sehen/ wie sehr ihr annoch ihr Printz Rosantes sein Hertz gewiednet. Diesen finden wir gleich auf der Rückreise nach Franckreich.“637 Durch die vorliegend gewählte Formulierung wird der Leser gewissermaßen mit auf die Reise genommen, auch er erhält den Vorzug vor allen anderen beteiligten Figuren, nicht nur Einblick in Adalies Gedanken zu bekommen, sondern auch zu erfahren, was Rosantes fühlt und macht. Der Überblick ermöglicht hier die Zusammenschau der beiden Figurenperspektiven, der Leser weiß, dass die Liebe und Sehnsucht zwischen Adalie und Rosantes noch immer auf Gegenseitigkeit beruht, dass sie einander treu sind. Der Rezipient kann damit annehmen, dass beide ihr Handeln auch weiterhin auf die Vereinigung ausrichten, seine Aufmerksamkeit wird einmal mehr auf die Frage nach dem

„Wie“ gerichtet. Erneut ist die Erzählhaltung auf Vergegenwärtigung und Aktualität des Geschehens ausgelegt, das geknüpft ist an die Gefühlsdarstellung der Figuren638.

Bohses Roman arbeitet zudem mit dem Wechsel von Erzählinstanzen und Ebenen. So gibt es, wie bereits erwähnt, drei recht zügig aufeinanderfolgende Binnenerzählungen von weiblichen Figuren, die mit eigener Stimme aus eigener Perspektive von ihrer jeweiligen Liebesgeschichte berichten. Sie vertrauen sich dabei jeweils einer anderen Figur oder einem begrenzten Kreis Gleichgesinnter an, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Hier spricht sodann jeweils ein ‚Ich‘

in einem vertrauensvollen Rahmen über eigene Erfahrungen, die somit auch dem Rezipienten des Romans unvermittelt – also unmittelbar – geschildert werden. Auch hier arbeitet der Roman mit der Etablierung einer Gemeinschaft unter denjenigen, die ein exklusives Wissen miteinander teilen. In diesen Binnenerzählungen geht es stets um die geglückte oder missglückte Anbahnung einer Liebesbeziehung und somit auch um die jeweilige Gemütsverfassung der Erzählerin. Eine Innensicht ist demnach in Bohses Roman sehr wohl schon gegeben.

636 Hunold: Adalie, S. 101.

637 Hunold: Adalie, S. 102.

638 Diese Konstellation lässt sich auch an weiteren Stellen des Romans beobachten, etwa kurz darauf, als sich die Magd Doris aufgrund Adalies Zustand sorgt und sie durch die Erwähnung des Namens „Bosardo“

etwas aufheitern kann, Hunold: Adalie, S. 118f.: „Sie [Doris, S.Z.] fuhre also in diesen erdichten Troste so wohl fort/ daß Adalie durch diese Gemüths=Artzeney nebst den trefflichsten Stärckungs=Mitteln in kurtzer Zeit wieder gantz lebhafft wurde, […]. Wir wollen sie zwar bis dahin begleiten, allein so müssen wir unsere Gedancken auf die entführte Barsine wieder wenden umb neben Renarden einen so unverantwortlichen Fräuleins=Raub zu verfolgen.“ Zunächst beschreibt der Erzähler den Gemütszustand der Protagonistin, um sodann gemeinsam mit dem Leser einen anderen Teil der Geschichte „zu verfolgen“. Wieder ist diese Erzählhaltung deutlich verknüpft mit der Darstellung von Affekten, die durch eine Beschreibung des Inneren einer Figur geleistet wird.

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2.2.3 Zwischenergebnis

Von Beginn an bildet die Erzählinstanz in den beiden vorliegenden galanten Romanen jeweils eine Wissensgemeinschaft mit dem Rezipienten, der stets den gleichen Informationsvorsprung vor den einzelnen Figuren hat. Dies ist eine zentrale Erkenntnis in Bezug auf die Vermittlungsfunktion, denn dieser Überblick ist nicht im Sinne einer Distanzierung zum Geschehen zu lesen, sondern vielmehr eminent wichtig für die Kontrastierung der unterschiedlichen Verhaltensweisen und den Verlauf des Romans. Während die Figuren einander unter Umständen für tot oder untreu halten, weiß der Leser durch die Nullfokalisierung der Erzählung diese Einschätzungen stets vor dem Hintergrund seiner eigenen Informationen zu relativieren. Der Rezipient ist sich über den gesamten Verlauf des Romans hinweg im Klaren darüber, dass die beiden tugendhaften Protagonisten am Ende zusammenfinden werden und kann sich somit auf die jeweils dargestellten Gefühle, Gedankengänge und daraus resultierende Handlungen konzentrieren. Die Anwesenheit des Erzählers dient also gerade dazu, den Leser in das Geschehen mit einzubeziehen – im Sinne der romantheoretischen Forderungen, die Wahrscheinlichkeit des Erzählten zu evozieren – und kann somit vorliegend nicht allein als Mittel der Distanzierung gelesen werden.

Darüber hinaus wird in Hunolds Roman die Präsenz des Erzählers dazu genutzt, den Rezipienten direkt anzusprechen und ihn in den Erzählprozess mit einzubeziehen. Dabei wird die Illusion geschaffen, die geschilderte Situation finde tatsächlich gerade statt, wenn die Ruhe für eine Figur eingefordert oder das Augenmerk bewusst auf eine andere gelenkt wird, die sich in einem bestimmten Gefühlszustand befindet. Mithin wird der Forderung nach Wahrscheinlichkeit bzw.

Nachahmung der Wirklichkeit Rechnung getragen. Es sind ebensolche Momente, in denen der Leser ‚nahe‘ bei der Figur ist, Momente, die als „Abbildungen der Wahrheit“ (Happel) verstanden werden. Ähnliches ist für Bohses Roman zu konstatieren. In der Bellamira kommen einige Figuren selbst über einen geraumen Zeitraum zu Wort und erzählen unmittelbar in einer Art Erfahrungsbericht, was ihnen passiert ist. Dabei findet eine Konzentration auf ihre Perspektive statt, für den Moment wird die überblickende Erzählhaltung jeweils zugunsten der Figurenperspektive aufgegeben. Es sind eben diese Binnenerzählungen, die in verschiedener Hinsicht Parallelen zur Sittenlehre aufweisen.

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