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Während mit dem Bewährungsschema vor allem die Frage nach dem ‚Was‘ gestellt und beantwortet werden kann, ist für den Nachweis der angenommenen Vermittlung des in Rede stehenden moralphilosophischen Gedankenguts zudem die Frage nach dem ‚Wie‘, nach den konkreten Mitteln der Darstellung zu stellen. Es wird zu ergründen sein, welche Signale die Texte senden, um dem Rezipienten ein bestimmtes Verhalten als nachahmungswürdig oder zu vermeiden zu suggerieren. Der discours eines Textes umfasst nach Martínez/Scheffel (Genette) die Kategorien Zeit, Modus und Stimme.

Ausgehend vom Ziel der Analyse ist insbesondere auf diejenigen Analysekategorien zurückzugreifen, die Aussagen zulassen über das vom Text ausgehende Verhältnis zum Leser. Die Paradigmen geben der Analyse dabei ihre Struktur: In drei größeren Abschnitten werden diejenigen Textstellen in den Blick genommen, in denen die Annäherung, die Bedrängung und die Bewährung der Protagonistin geschildert werden, da gerade hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit den eigenen Affekten deutlich werden. Die eigentliche Textanalyse wird vor allem von den Kategorien Modus und Stimme bestimmt sein. So ist vor allem der Modus91 im Hinblick auf die Frage nach der (Un-)Mittelbarkeit der Affektdarstellung von Relevanz, da sich hierüber Aussagen über die Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit des dargestellten Verhaltens machen lassen. Denn ist es davon auszugehen, dass die Vermittlung eines bestimmten Wissens, das das menschliche Wesen betrifft, gerade über die potenzielle Nachvollziehbarkeit zu leisten ist, wie etwa auch das Diktum des prodesse et delectare plausibilisieren soll. Gerade also die Anschaulichkeit des Dargestellten trägt zur Unterhaltung bei und somit wiederum zur Belehrung des Rezipienten. Um dies nachweisen zu können, werden die vier Texte im Hinblick auf

91 Vgl. Martínez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 49ff.

31 die Frage nach der Distanz, also der Verwendung des narrativen oder dramatischen Modus, untersucht werden. Zudem hängt die Nachvollziehbarkeit bestimmter Verhaltensweisen zusammen mit der sichtbaren Diskrepanz (oder Übereinstimmung) zwischen Denken und Handeln der Figuren. Es wird mithin auch die Fokalisierung in den zu untersuchenden Situationen zu berücksichtigen und auf ihr Potenzial für eine Vermittlungsfunktion zu befragen sein.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Vorhandensein einer Erzählinstanz dieser auf Nachvollziehbarkeit basierenden Vermittlungsfunktion grundsätzlich entgegensteht. Vielmehr wird über die Kategorie Stimme92 herauszuarbeiten sein, welche Leistungsfähigkeit ein heterodiegetischer Erzähler im Vergleich zu einem homo- oder gar autodiegetischen Erzähler haben kann. Es wird zu zeigen sein, dass beide Formen der Beteiligung am Geschehen, zumal in Verbindung mit der Frage nach der Distanz, dazu beitragen, einen bestimmten Umgang mit Affekten für den Rezipienten als vorbildlich oder als Beispiel ex negativo darzustellen.

Diese Schwerpunktsetzung auf Modus und Stimme bedeutet allerdings nicht die Außerachtlassung der Kategorie der Zeit93, die im Hinblick auf die Erzählordnung und die Frequenz von besonderer Relevanz sein wird. Es wird danach gefragt, an welcher Stelle im Text die Ereignisse hinsichtlich des Gesamtzusammenhangs zu verorten sind und wie oft sie erzählt werden. Gerade die Momente der Bewährung werden in allen Texten wiederholt erzählt, während die Annäherung des Protagonistenpaars ein einmaliges Ereignis ist, das zudem im Gesamtzusammenhang der Erzählung als Pause anzusehen ist.

Während die bei Martínez/Scheffel beschriebenen Kategorien Zeit, Modus und Stimme ein in der Literaturwissenschaft geläufiges Instrumentarium darstellen und daher in Bezug auf die Ausgangsthese hier nicht weiter erläutert werden sollen, gab es für die Figur in Erzähltexten bisher keine feststehenden oder etablierten Analysekategorien, wie sie etwa für die Untersuchung von Figuren in Dramentexten, etwa bei Manfred Pfister94, vorgestellt werden. Die Ausführungen zur Figur bei Martínez/ Scheffel scheinen für das vorliegende Ansinnen etwas zu unterkomplex95. Ein geeignetes Instrumentarium hingegen bieten die bereits mehrmals zur Ergänzung herangezogenen Ausführungen zur Erzähltheorie bei Köppe und Kindt. Es ist differenzierter und für das vorliegende Anliegen geeigneter, da sie ihre Kategorien nicht nur auf einer weiteren Ebene unterteilen, sondern für diese Unterteilungen Fragekataloge für die konkrete Textanalyse

92 Vgl. Martínez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 70ff.

93 Vgl. Martínez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 32ff.

94 Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Aufl. München 2001, S. 220ff.

95 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 148f. So sprechen auch Martínez/ Scheffel davon, Figuren könnten „unterschiedlich konzipiert“ sein und führen den Begriff der

„Figurencharakterisierung“ ein. Während in der ersten Kategorie, wie auch bei Pfister, gefragt wird, welche Eigenschaften eine Figur besitzt oder welche Informationen über sie vergeben werden, wird in der zweiten von figuraler oder auktorialer, impliziter oder expliziter Informationsvergabe gesprochen. Martínez und Scheffel erläutern am Beispiel von Thomas Manns Tod in Venedig zwar nachvollziehbar, wie diese Kategorien anzuwenden sind, doch scheint diese Differenzierung für die genaue Analyse von Affekten und der Darstellung von inneren Vorgängen der Figuren nicht weitreichend genug.

32 vorschlagen. Die grundlegende Differenzierung wird zwischen „Figur als Person“ und „Figur als Artefakt“ gemacht96. Während die Kategorie der „Figur als Person“ nach den Eigenschaften der Figur fragt, also gewissermaßen nach ihrer Anlage und als „diegetische Figurenanalyse“97 bezeichnet wird, konzentriert sich die Kategorie „Figur als Artefakt“, als „Charakterisierung“ auf die Mittel der Darstellung.

Als Kriterien für die diegetische Figurenanalyse werden genannt98: Psychische Konstitution/

Charakter, Mentales sowie Soziale Beziehungen und sozialer Status. Dabei ist u.a. zu fragen nach der „Persönlichkeitsstruktur“ oder nach „Bedürfnissen“ der Figur, ebenso werden Angaben zur Beschreibung des Äußeren in die Analyse mit einbezogen. Für die Frage nach der Vermittlung einer Sittenlehre über das Textelement Figur scheint vor allem die Kategorie Mentales besonders einschlägig, denn mit ihr wird ergründet: „Was glaubt, denkt, fühlt, plant, wünscht, fürchtet usw.

die Person in Bezug auf sich selbst und die Welt? Warum verfügt sie über diese Einstellungen?

Was hält sie für wichtig, richtig, normal, geboten?“99Zudem wird hier der Blick gerichtet auf „das Verhältnis von bewussten und unbewussten Anteilen im Mentalen“100. Dies sind genau diejenigen Fragen, die im Hinblick auf die literarische Vermittlung einer Sittenlehre zu stellen sind, geht es doch um persönliche Grundüberzeugungen, die Diskrepanz zwischen Äußerungen gegenüber anderen Figuren und die nur für den Rezipienten erkennbaren eigentlichen Absichten respektive Wünsche oder auch das Beherrschtsein einer Figur von ihren Affekten. Zu berücksichtigen sind zudem „Selbst- und Fremdzuschreibungen“. Da es dieser Arbeit besonders um die Darstellung von Affekten und Verhaltensweisen bestellt ist, stehen die Kategorien Mentales und Psychische Konstitution/Charakter im Vordergrund. Das Augenmerk wird darauf liegen, zu zeigen, was die Figuren in welcher Situation denken und nach welchen Grundsätzen sie Entscheidungen treffen.

Damit in engem Zusammenhang stehen auch Fragen nach der sozialen Verortung der jeweiligen Figuren, da diese nicht unerheblich ist in Bezug auf die Möglichkeit, ungezwungen handeln zu können.

Um diese Konzeption herausarbeiten zu können, ist immer danach zu fragen, wie die Figur

„gemacht bzw. gestaltet“101ist. Auch für die „Figur als Artefakt“ bieten Köppe und Kindt weitere Unterscheidungen an, so dass etwa nach elementaren sprachlichen Mitteln der Figurendarstellung, nach übergreifenden Strukturen (Grade der Direktheit, Ausführlichkeit oder Verteilung/Dichte und Reihenfolge der Informationen) sowie nach Komplexität gefragt wird. So ist für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung, wann eine Figur im Text auftaucht und wie häufig. Es ist zu bestimmen, ob sie viele Merkmale aufweist und somit als komplex gelten kann oder ob sie eher

96 Vgl. Köppe/ Kindt: Erzähltheorie, S. 120ff.

97 Köppe/Kindt: Erzähltheorie, S. 121.

98 Köppe/Kindt: Erzähltheorie, S. 121f.

99 Köppe/Kindt: Erzähltheorie, S. 121.

100 Köppe/Kindt: Erzähltheorie, S. 121.

101 Köppe/Kindt: Erzähltheorie, S. 128.

33 über einen kleinen Satz an Merkmalen verfügt und somit als Typ eingeordnet werden kann, wie für die meisten der vorliegend in Frage kommenden Figuren zu konstatieren. Eine Zuordnung der weiblichen Hauptfigur zu den Annahmen über die vernünftige Liebe und eine Zuordnung der Widersacher zu denen über die unvernünftige Liebe lässt sich mit diesem Instrumentarium plausibel aus den Texten herauszuarbeiten.

3. Forschungsüberblick

Im Folgenden gilt es jedoch zunächst, den Kontext für die angestrebten Analysen zu konturieren, indem ein Überblick gegeben wird über die bereits bestehende Forschung sowohl den Zusammenhang zwischen galanter und empfindsamer Literatur als auch die einzelnen Texte des Korpus betreffend.

3.1 Literaturgeschichtlicher Zusammenhang zwischen galanter und empfindsamer

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