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Abgrenzung: Forschungsansätze über die Wechselseitigkeit von Liebe, Gefühl und Abenteuer im Roman und Abenteuer im Roman

Für das vorliegend ausgewählte Korpus erweist sich der strukturalistische Zugang über das Bewährungsschema als fruchtbar, da es für den Vergleich der Texte sowohl auf das Moment der bei Thomasius beschriebenen liebesethischen Annahmen als auch das Erkennen und die Kontrolle über die Affekte ankommt: Das Vermittlungsziel der Glückseligkeit ist somit bilateral konstituiert. Dass Liebe, Gefühl und/oder die damit verbundene Bewährung nicht nur überaus präsente Topoi der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts sind, sondern auch eine strukturgebende Funktion übernehmen, ist zugegebenermaßen kein Novum in der Forschung. Ebensolche Ansätze sollen in diesem Kapitel in den Blick genommen werden, um die Leistungsfähigkeit und die Notwendigkeit des hier eigenes erarbeiteten Schemas durch entsprechende Abgrenzungen zu

23 plausibilisieren. So ist für die Frage nach der Aufnahme der Liebesbeziehung Bezug zu nehmen auf Niklas Luhmanns Liebe als Passion und Niels Werbers Liebe als Roman.

Werber, dessen Arbeit sich dezidiert „nicht allein mit der Liebe im Roman, sondern genauso mit der Liebe als Roman“52beschäftigt, formuliert als These und Ziel: „Sie stellen sich gegenseitig Strukturen zu Verfügung [sic], um ihre Semantik weiterzuentwickeln. Ich möchte in dieser Arbeit abstecken, was der Roman der Liebe und die Liebe dem Roman zu verdanken hat. Man wird sehen:

genau wie die Liebenden können beide nicht ohne einander sein.“53 Ausgehend von Luhmann, an dessen Arbeit sich Werbers Titel orientiert, lotet er aus, wie Kontaktanbahnung funktioniert und stellt insbesondere auf Kommunikationsmechanismen ab. Als die beiden grundlegenden

„Kommunikationstechniken, die gleichermaßen die Aufnahme intimer Kommunikation ermutigen und ihr etwaiges Scheitern abfedern“ erkennt Werber die „Liebe als Passion und Galanterie.“54 Während Liebe als Passion die Vorstellung der Liebe als Krankheit, als ein Erleiden bedeute55, umschreibt Werber die Galanterie durch einen in der Forschung geläufigen Sinn als Interaktionsmodell, das gelingende Kommunikation durch ein Gefallen beim Gegenüber begreift56 – damit bezieht sich auch Werber auf zwei wesentliche Bereiche, die durch die Sittenlehre abgedeckt werden.

Auch Luhmanns bekannte Studie Liebe als Passion soll hier nicht unberücksichtigt bleiben, da sie trotz einer anderen Zielsetzung und eines anderen Zugangs57 einen gemeinsamen Nenner mit dieser Studie aufweist, wenn Luhmann in seinem Vorwort darauf hinweist, es sei „seit dem 17.

Jahrhundert [bekannt], daß der Roman selbst zum Lern- und Orientierungsfaktor in Liebesangelegenheiten wird“58 und auf die Schwierigkeit aufmerksam macht, „diesen Gesichtspunkt in einzelne Thesen, Begriffe, Lehrsätze oder Erfahrungsregeln aufzulösen.“59 Auch Luhmann geht es also grundsätzlich um das Wechselverhältnis zwischen Liebe und Literatur. Er versteht Liebe dabei als ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ (und in diesem Zusammenhang nicht als „Gefühl“60), „nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen

52 Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003, S. 46f.

53 Werber: Liebe als Roman, S. 47.

54 Werber: Liebe als Roman, S. 31.

55 Vgl. Werber: Liebe als Roman, S. 32.

56 Vgl. Werber: Liebe als Roman, S. 35.

57 Luhmann erläutert seinen Ansatz im Vorwort, Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 13. Aufl. Frankfurt am Main 2015, S. 9: „Die hier vorgelegten Untersuchungen zur Semantik von

‚Liebe‘ kombinieren zwei verschiedene Theoriezusammenhänge. Sie stehen einerseits im Kontext wissenssoziologischer Arbeiten, die sich mit der Überleitung der traditionellen in moderne Gesellschaftsformen beschäftigen. […] Den zweiten Kontext gewinnen wir mit Ansätzen einer allgemeinen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien.“

58 Luhmann: Liebe als Passion, S. 12.

59 Luhmann: Liebe als Passion, S. 12.

60 Luhmann: Liebe als Passion, S. 23.

24 kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.“61 In dieser Hinsicht geht Luhmann von einem „Verhaltensmodell“62aus, „das gespielt werden kann, das einem vor Augen steht, bevor man sich einschifft, um Liebe zu suchen; das also als Orientierung und als Wissen um die Tragweite verfügbar ist, bevor man Partner findet […].“63 An genau diesen Gedanken knüpft die vorliegende Arbeit an, indem sie versucht, nachzuweisen, dass der Rezipient in den zu untersuchenden Romantexten ein bestimmtes Wissen vorfindet. Ohne Luhmanns These von Liebe als Kommunikationsmedium zu stützen oder zu widerlegen, wird zu demonstrieren sein, dass sowohl die galanten als auch die empfindsamen Figuren tatsächlich eine „Orientierung“ haben, wenn sie die Kommunikation und Interaktion mit dem zukünftigen Partner aufnehmen – und diese Orientierung bietet ihnen eben jenes bereits erwähnte dreistufige Annäherungsschema, so die These, das in der Einleitung zur Sittenlehre bei Christian Thomasius oder eben in den Romanen nachzulesen ist.

Anders als Luhmanns und Werbers Texte allerdings begreift die vorliegende Studie die Romane auch –aber eben ‚nicht nur‘ – als Darstellungsmedien bestimmter Schemata oder Muster, die in der Anbahnung eines Liebesverhältnisses zum Vorschein kommen. Diese beiden Arbeiten werden hier herangezogen, um die grundlegende Wechselseitigkeit und die Annahme eines bestimmten Wissens in den Romanen über Liebe als Argument zu stützen und durch die Rekurrenz auf Thomasius ein konkretes Beispiel zu liefern für eine solche „Orientierung“ respektive ein

„Muster“, das sich in der Romanliteratur vom Beginn bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts trotz sich verändernder gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse tradiert. Dabei ist der Bereich erfasst, der durch die Annahmen in der Einleitung der Sittenlehre repräsentiert wird. Wie bereits angedeutet, kommt es jedoch nicht nur auf die Aufnahme der Beziehung an, sondern auch auf den Umgang der einzelnen Figuren mit ihren Affekten, wenn die gegenseitige Liebe bereits etabliert ist. Dann nämlich ist die Liebe zu einer anderen Person zwar noch immer Ausgangs- und Fluchtpunkt, doch kommt es in der Phase der vorübergehenden Trennung dezidiert auf die Zurückerlangung der Gemütsruhe an, auf die Überwindung der Passion als passivem Zustand, wie er auch bei Luhmann beschrieben wird64. Anders als bei Luhmann und Werber allerdings wird eben dieser Themenkomplex, die Darstellung und Überwindung der Affekte, einen zweiten großen Schwerpunkt der Analyse ausmachen und die Annahmen über tradierte Mechanismen der Kontaktanbahnung ergänzen.

Im Hinblick auf die Verarbeitung von Gefühlen und ihr strukturgebendes Potenzial in literarischen Texten wird zudem insbesondere für den galanten Roman unter Bezugnahme auf die französische

61 Luhmann: Liebe als Passion, S. 23.

62 Luhmann: Liebe als Passion, S. 23.

63 Luhmann: Liebe als Passion, S. 23.

64 Luhmann: Liebe als Passion, S. 30: „Das Leitsymbol, das die Themenstruktur des Mediums Liebe organisiert, heißt zunächst ‚Passion‘, und Passion drückt aus, daß man etwas erleidet, woran man nichts ändern und wofür man keine Rechenschaft geben kann.“

25 Romantradition jüngst wiederholt auf Analogien mit der sog. carte de tendre aus Madeleine de Scudérys Roman Clélie verwiesen65. So schreibt etwa Florian Gelzer in seiner Dissertation Konversation, Galanterie und Abenteuer: „Das Muster des allegorischen Wegs, auf dem eine Figur gegen verschiedene Gefahren den richtigen Mittelweg finden muss, gehört überhaupt zu einem noch wenig beachteten Grundmodell der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts“66. Einen Versuch, eben diesen allegorischen Weg in galanten Romanen nachzuvollziehen, hat Katja Barthel in ihrer Arbeit Gattung und Geschlecht an Texten von August Bohse und Leonard Rost unternommen und kann als Ergebnis vorweisen: „Die Text- und Erzählstrukturen des galanten Romans zeigen formale Ähnlichkeit zu den visuellen Strukturen der preziösen Carte de Tendre von Madeleine de Scudéry.“67Dabei handele „es sich um eine kartografische Visualisierung oder eine ‚allegorische Landkarte‘ der preziösen Affekten- und Liebeskasuistik, die dem ersten Teil von Scudérys Roman Clélie (1654) als Kupferstich beigefügt ist.“68 Konkret macht Barthel durch diese Bezugnahme folgende Beobachtung:

Stellt man sich die Plotstruktur des Romans bildlich vor und verfolgt die Reisehandlung der Protagonistin als räumliche Bewegung auf einer Landkarte, so wären, wie in der Carte de Tendre, verschiedene Stationen eingezeichnet, an denen Constantine mit unterschiedlichen Figurenkonstellationen, Konflikten, Affektlagen und Erfahrungen konfrontiert ist.69

Die ausgewählten galanten und auch empfindsamen Romane als eine Umsetzung der carte de tendre zu lesen, würde bedeuten, wie Barthel den in der Karte verzeichneten allegorischen Weg innerhalb der Texte nachzuvollziehen. In Anbetracht der hier formulierten Zielsetzung ist jedoch zu beachten, was jüngst Isabelle Stauffer über den Zusammenhang zwischen der Karte und der

65 Siehe etwa Isabelle Stauffer: Verführung zur Galanterie. Benehmen, Körperlichkeit und Gefühlsinszenierungen im literarischen Kulturtransfer 1664 1772. Wiesbaden 2018; Katja Barthel:

Gattung und Geschlecht. Weiblichkeitsnarrative im galanten Roman um 1700. Berlin/Boston 2016;

Burkhard Meyer-Sickendiek: Zärtlichkeit. Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit. Paderborn 2016; Steigerwald: Galanterie (2011); Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007. Interessant werden diese Beobachtungen nun für die hier zu bearbeitende Fragestellung, die auch auf den Zusammenhang zwischen Galanterie und Empfindsamkeit abstellt, werden etwa die Überlegungen Burckhard Meyer-Sickendieks berücksichtigt. In seiner hier zitierten Habilitationsschrift ist es ihm zwar um die Gattung des Dramas bestellt. Allerdings unternimmt Meyer-Sickendiek unter Bezugnahme auf die carte de tendre bei Madeleine de Scudéry den Versuch, die Ursprünge der Empfindsamkeit am Ende des 17.

Jahrhunderts zu verorten. Meyer-Sickendiek liefert zudem einen Abdruck und eine Beschreibung, vgl. a.a.O., S. 15 17. Gleiches gilt für folgende Aufsätze: Meyer-Sickendiek: Zärtlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der bürgerlichen Empfindsamkeit. In: DVjS 88, Jg. 2 (2014), S. 206 233 (mit Erläuterungen und Abdruck der carte de tendre S. 211ff.); ders.: Die ‚tendresse amoureuse‘. Zur Liebesdidaktik des empfindsamen Theaters. In: Weimarer Beiträge 60 (2014), S. 521 536 (ebenfalls mit Erläuterungen zur carte de tendre, die sich größtenteils mit denen aus dem bereits zitierten DVjS-Beitrag wörtlich decken, S.

522f.) Eine Abbildung bietet zudem Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 319.

66 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 64.

67 Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 318. Ihr Hauptanliegen besteht dabei allerdings nicht in einem Nachweis eines Bezugs auf die Carte de Tendre, sondern in der Beschreibung der Weiblichkeitsnarrative in galanten Romanen.

68 Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 318.

69 Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 321.

26 Einleitung zur Sittenlehre festgestellt hat. Stauffer kommt in ihrer Untersuchung der Einleitung als

„Performanz der Carte de Tendre“ zu dem Ergebnis, dass „die Liebe in Thomasius‘ Ethik stärker noch als auf Scudérys Karte als ‚zielgerichtete und geordnete Durchführung bestimmter Verhaltensweisen und als kontrollierte und kontrollierbare Performanz affektiver Zustände“70 erscheine. Vielmehr handele es sich auch laut Gelzer um eine „Transformation der Liebeskonzeption Scudérys in eine deutschsprachige systematisch-philosophische Abhandlung“71, die als „Umformung der französischen preziösen Konzeptionen in ein deutsches Galanterieideal“72 zu verstehen sei. Genau auf diesen Aspekt zielt auch die vorliegende Untersuchung ab: Es soll gezeigt werden, dass die Romane nicht ‚einfach nur‘ Ähnlichkeiten zu den visuellen Strukturen aufweisen, es ist nicht Ziel, raumsemantische Analogien nachzuweisen.

Vielmehr ist Grundlage der Untersuchung die Systematik der Sittenlehre mit ihrer Zweiteilung von positiver Herstellung und aktiver Beherrschung bestimmter Gemütslagen.

Zuletzt sei eine mögliche Bezugnahme auf das sogenannte „Heliodor-Schema“ diskutiert, das mit seiner Grundstruktur von der Trennung eines sich liebenden jungen Pärchens und der Wiedervereinigung nach bestandenen Treue-Prüfungen große Ähnlichkeiten zum hier erarbeiteten Bewährungsschema aufweist. Es handelt sich dabei um ein Handlungsschema, das aus dem hellenistischen Roman Aithiopika von Heliodor abgeleitet wird. Das junge Paar Charikleia und Theagenes muss einige Abenteuer bestehen und andere Bewerber um Charikleias Liebe abwehren, um letztlich wieder miteinander vereint zu werden. Vor allem die ältere Forschung zum galanten Roman hat das Heliodor-Schema über eine Ableitung des galanten Romans vom höfisch-historischen als grundlegendes Strukturmuster postuliert73. Gerade jüngere Arbeiten relativieren diese Annahme jedoch mit Blick auf die Heterogenität des Korpus. Für Florian Gelzer etwa stellt das Heliodor-Modell bisweilen ein „Prokrustesbett“74 dar; seiner Ansicht nach ließen sich der „hellenistische Liebesroman und das Modell der Galanterie nicht so mühelos verbinden, wie es scheinen mag.“75. Ähnlich argumentiert Steigerwald, wenn er darauf hinweist, dass

70Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 106. „[A]uffällige Parallelen“ zwischen der „preziösen Liebesethik“

der carte de tendre und der „Ethik der Naturrechtslehre“ in der Einleitung zur Sittenlehre stellt auch Gelzer:

Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 64f., fest.

71 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 67.

72 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 67.

73 So etwa Herbert Singer, auf dessen Studie Der galante Roman die Forschung stets rekurriert, Singer: Der galante Roman. 2. durchgesehene Aufl. Stuttgart 1966. Das seiner Ansicht nach grundlegende Schema fasst er in seiner Arbeit: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln, Graz 1963, S. 6, zusammen:

„Die Handlungsführung dieser Romane läßt sich […] doch auf ein sehr einfaches Grundschema zurückführen: auf die von Heliodor her fortgeerbte Geschichte von dem edlen, standhaften Jüngling und der schönen, tugendhaften Jungfrau, die einander lieben, getrennt werden und nach mannigfachen Irrfahrten, Anfechtungen, Bedrohungen und Abenteuern, die ebenso viele Proben ihrer Tapferkeit, Treue und Keuschheit sind, durch glückhafte Vereinigung belohnt werden.“

74 Gelzer: Thesen zum galanten Roman. In: Ruth Florack/ Rüdiger Singer (Hrsg.): Die Kunst der Galanterie.

Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2012, S. 387.

75 Gelzer: Thesen zum galanten Roman, S. 387. Während Gelzer sich in seinem Thesen-Aufsatz (2012) gegen die unüberlegte Unterstellung der Übernahme des Musters wendet, sieht er es in einem früheren Aufsatz über einen Roman Bohses durchaus als Grundlage: „Die Grundstruktur von plötzlicher Verliebtheit eines

27 Hunolds Romane in ein Schema gepresst würden, „in das sie nicht passen können, da sie dem apuleischen Modell folgen, das zeitgenössisch impulsiv diskutiert wurde“76. Inwieweit eine Rekurrenz auf das Heliodor-Schema für die vorliegenden galanten Romane – von den empfindsamen ganz zu schweigen – tatsächlich vorliegt, wäre demnach zunächst zu überprüfen.

Bei einem positiven Befund allerdings wäre noch nichts über die Qualifizierung der Romane als Sittenlehren ausgesagt.

Mit anderen Worten: Das Heliodor-Schema als Vergleichsbasis für die Analyse der Texte in Betracht zu ziehen, wäre im Hinblick auf die vorgelegte Fragestellung mit einigen Konsequenzen verbunden, die durch das hier vorgeschlagene Bewährungsschema von vornherein zu vermeiden sind. Denn – und dies ist ein wesentlicher Aspekt, der gegen eine Rekurrenz auf das Heliodor-Schema spricht – die vorliegende Studie untersucht eine Form der Bewährung, die mit der Überwindung sowohl der äußeren als auch der inneren Hindernisse (s.o.) zwei wesentliche Implikationen hat, die für die Vergleichbarkeit der beiden Romangattungen zentral ist. Innere Hindernisse allerdings sind im Heliodor-Schema nicht vorgesehen, wie etwa Isolde Stark in ihrer Untersuchung Strukturen des griechischen Abenteuer- und Liebesromans77 erläutert:

Dieses zentrale, gesamtstrukturbildende Element ist das Motiv der unwandelbaren, ewigen Liebe und Treue. Wenn sich aber Liebe und Treue als unwandelbar bewähren sollen, dann müssen sie notwendigerweise der Prüfung unterzogen werden. Ein ständiger Wandel von Prüfungssituationen ist die Folge. Unter solchen verstehen die Autoren des griechischen Abenteuer- und Liebesromans die äußere Gefährdung ihrer Helden – oft gepaart mit existentieller Bedrohung –, nicht etwa die innere Gefährdung des Gefühls durch eine charakterlich-psychische, intellektuelle oder emotionale Veränderung im Wesen der Helden als Reaktion auf äußeres Geschehen.78

Stark hebt damit auf die eindimensionale Funktionalisierung des Abenteuers auf die Prüfung der Treue ab, die aber explizit keine weiteren Auswirkungen auf die Darstellung des Innenlebens der Figuren hat, eine „innere Gefährdung“ ist damit gerade nicht verbunden. Stattdessen sind die Prüfungssituationen festgelegt auf ihre Funktion als „handlungsauslösende und die Handlung episodisch strukturierende Elemente“79. Die Überwindung der inneren Hindernisse, die eine Schilderung des Gefühlslebens der Figuren impliziert, wird in dieser Studie jedoch als wesentliches Element der Handlung angesehen: Ohne die Überwindung auch der inneren Hindernisse kann die Protagonistin nicht zu ihrer Gemütsruhe zurückgelangen und

Paares, Trennung, Abenteuer und endlichem Wiedersehen mit Hochzeit, das ‚Heliodor-Schema‘, ist das Grundrezept beinahe aller höfisch-historischen und galanten Romane in ihren verschiedenen Ausprägungen.“ In: Ders.: Nachahmung, Plagiat und Stil. Zum Roman zwischen Barock und Aufklärung am Beispiel von August Bohses Amazonninen aus dem Kloster (1685/96). In: Daphnis 34 (2005) S. 263.

76 Steigerwald: Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt um 1700: eine Problemskizze. In: Fulda, Daniel (Hrsg.): Galanterie und Frühaufklärung. Halle 2009, S. 64.

77 Isolde Stark: Strukturen des griechischen Abenteuer- und Liebesromans. In: Heinrich Kuch u.a.: Der antike Roman. Untersuchungen zur literarischen Kommunikation und Gattungsgeschichte. Berlin 1989, S.

82 106.

78 Stark: Strukturen des griechischen Abenteuer- und Liebesromans, S. 83.

79 Stark: Strukturen des griechischen Abenteuer- und Liebesromans, S. 83.

28 dementsprechend auch nicht die Glückseligkeit in der Vereinigung mit ihrem tugendhaften Partner erfahren.

Was hier für den galanten Roman gilt, gilt für die ausgewählten empfindsamen Romane allemal.

Auch hier ist der Grund die Betonung der speziellen Bestimmung der Bewährung, die auch in der Forschung bisweilen auf die Überwindung innerer Hindernisse abstellt (wenngleich ohne einen Bezug auf Thomasius‘ Sittenlehre). Einige Arbeiten etwa, die sich mit Gellerts Roman auseinandersetzen, verweisen bis heute auf die Tradition abenteuerhafter Elemente aus dem galanten oder höfisch-historischen Roman. Stellvertretend sei hier auf Eckhard Meyer-Krentler verwiesen, der in seiner Untersuchung zur Schwedischen Gräfin gerade von einer Übernahme der Struktur des galanten Romans ausgeht, um eine Abgrenzung Gellerts von diesem zu verdeutlichen. Er erkennt grundsätzlich eine Parallele mit Elementen, die dem Schema inhärent sind: „Trennung der Liebenden, Verfolgung, Verführung, Rache, Flucht, Inzest, Eifersuchtsmord, Rückkehr des schon Totgeglaubten – all dies sind Motive, die zum elementaren Bestand des

‚Romans‘ gehören und darüber hinaus oft auf ein biblisches oder homerisches Alter zurückblicken können.“80 Die Instrumentalisierung dieser strukturellen Analogie besteht für Meyer-Krentler in der „moralischen Bewährung“: „Zielpunkt ist jedes Mal die moralische Bewährung der Person gemäß dem anfangs proklamierten Programm des Romans“81. Auch Bernd Witte geht von einer Übernahme von „extremen Situationen“82aus dem Barockroman aus und erörtert: „Indem er sie jedoch zu Bewährungsproben seines Ideals der vernünftigen Liebe macht, wertet er sie um. Sie sind nicht mehr äußere Stationen, die die Helden auf ihrer Irrfahrt möglichst unberührt durchlaufen, sondern werden in Anfechtungen der Gelassenheit und seelischen Gefährdungen verwandelt […].“83 Und auch in der jüngeren Forschungsgeschichte versteht etwa Volker Meid die Rekurrenz auf Abenteuerhaftes in Gellerts Roman lediglich als Vehikel dafür, das Innere der Figuren schildern zu können: „Abenteuerliches stellt Gellert nur indirekt und im distanzierenden Rückblick dar, entscheidend sind die seelischen Regungen und Reaktionen der auf die Probe

80 Eckhard Meyer-Krentler: Der andere Roman. Gellerts ‚Schwedische Gräfin‘: Von der aufklärerischen Propaganda gegen den ‚Roman‘ zur empfindsamen Erlebnisdichtung. Göppingen 1974, S. 40.

81 Meyer-Krentler: Der andere Roman, S. 42. Von einer Übernahme der Handlungselemente aus dem Roman der Jahrhundertwende um 1700 spricht u.a. auch Hans Edwin Friedrich: „Ewig lieben“, aber zugleich

„menschlich lieben“? Zur Reflexion der empfindsamen Liebeskonzeption von Gellert und Klopstock zu Goethe und Jakobi. In: Karl Eibl (Hrsg.): Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18.

Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Themenschwerpunkt Empfindsamkeit. Bd. 13. Hamburg 2001, S. 154f.

82 Bernd Witte: Die andere Gesellschaft. Der Ursprung des bürgerlichen Romans in Gellerts Leben der Leben der Schwedischen Gräfinn von G… In: Ders. (Hrsg.): „Ein Lehrer der ganzen Nation“. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990, S. 69.

83Witte: Die andere Gesellschaft, S. 69f. Witte spricht hier von einem „Ideal der vernünftigen Liebe“, das er allerdings nicht auf die Sittenlehre von Christian Thomasius bezieht. Siehe hierzu auch den Forschungsüberblick zu den Romanen in dieser Arbeit, Teil I, Kap 3.2.2.

29 gestellten Menschen: Gellerts Roman ist wie der höfisch-historische Barockroman Prüfungsroman.“84

Auch Arbeiten zu La Roches Text stellen noch Bezüge zum antiken Muster her, wie etwa Peter Rau, der feststellt: „Struktur und Stationen der ‚Weltfahrt‘ der Protagonistin verweisen auf die Gestaltung der Irrfahrten im barocken und frühaufklärerischen Roman.“85 Häufig betont die Forschung das Moment der Prüfung, wie etwa Sven Jørgensen, der Die Geschichte des Fräuleins

Auch Arbeiten zu La Roches Text stellen noch Bezüge zum antiken Muster her, wie etwa Peter Rau, der feststellt: „Struktur und Stationen der ‚Weltfahrt‘ der Protagonistin verweisen auf die Gestaltung der Irrfahrten im barocken und frühaufklärerischen Roman.“85 Häufig betont die Forschung das Moment der Prüfung, wie etwa Sven Jørgensen, der Die Geschichte des Fräuleins

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