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II THEORETISCHE GRUNDLAGEN

4. Gattungsfragen 1 Der galante Roman 1 Der galante Roman

4.3 Zeitgenössische Funktionszuschreibungen

4.3.2 Galante Romanpoetik

4.3.2.1 Christian Thomasius: Monatsgespräche (1690)

Auch Thomasius entfaltet seine Überlegungen zur Gattung Roman in einem fiktionalen Rahmen, wenngleich es sich bei den Monatsgesprächen um ein Rezensionsorgan handelt und der Rezipient von der Lektüre ein Urteil über literarische Texte erwartet – anders als in einem Roman. Bereits

ausgebliebene Rezeption der Poetik in Deutschland. Obwohl Huet sich im Gegensatz zu den von ihm beachteten italienischen Poetologen „nicht explizit auf Aristoteles bezieht, bewegt er sich mit seinem Romantraktat innerhalb des Diskurses der aristotelischen Poetik, der sich im Laufe des 17. Jahrhunderts in Frankreich etabliert hat“, vgl. ebd. S. 153.

458 Happel: Insulanischer Madorell, S. 622.

459 Es handelt sich dabei um die Herleitung der Tradition außereuropäischer Völker wie den Ägyptern, Arabern, Syrern und Perser, vgl. Happel: Insulanischer Mandorell, S. 577. „Ihre Wissenschaft in der Theologie, Philosophie und vornehmlich in der Staats und Sitten Lehre wird allemahl durch Fabeln und Gleichnüssen ausgedrücket.“ Ebd., S. 578.

460 Hierzu etwa Uwe Lindemann: Huet, Pierre Daniel (1630 1721). In: Monika Schmitz-Emans (Hrsg.):

Lexikon der Poetiken. Berlin, New York 2009, S. 198: „Dem moralischen Vorwurf gegenüber dem Roman, er verderbe die Sitten, weil sein hauptsächliches Thema die Liebe sei, begegnet H. mit einem wirkungsästhetisch und anthropologisch akzentuierten Argument: Indem der Roman die Irrungen der Liebe vorführe, sensibilisiere er insb. die weibliche Leserschaft für deren Gefahren. Der Roman sei gewissermaßen eine verzuckerte Pille, dem es über den Umweg der Liebesgeschichte gelinge, die bitteren Lehren der Moral zu vermitteln.“

105 im ersten Heft im Januar 1688461 geht es um die Reputation und die Verteidigung des Romans. Bei Thomasius kommen mehrere Figuren zu Wort, es werden Argumente ausgetauscht und somit ein Für und Wider transparent gemacht. Es handelt sich um eine Diskussion zwischen vier sich zufällig in der Kutsche begegnenden Herren: Kaufmann Christoph, Kavalier Augustin, Gelehrter Benedikt und Schulmann David. In Bezug auf die Frage nach dem Nutzen der Romanlektüre kommt Christoph ein großer Redeanteil zu, er ist derjenige, der die Vorzüge und die Nützlichkeit der Gattung herausstellt. Seine drei Mitdiskutanten versuchen, seine Annahmen durch Gegenargumente zu entkräften, unterstellen der Gattung vor allem einen schlechten Einfluss und weisen auf Gefahren hin, die von der Lektüre ausgingen462.

Wie Mandorell stellt Christoph ausdrücklich auf die Belustigung als wesentlichen Zweck der Romanlektüre ab und positioniert diesen Aspekt direkt an den Anfang des Gesprächs.So liegt die Schwerpunktsetzung ebenfalls grundsätzlich auf der Zweckbestimmung der Gattung, die zudem inhaltlich analog ausfällt:

Ja auch ich halte dieses fuer genugsam, warum ein Buch auch von andern Menschen aestimiret und hochgehalten werden soll, wenn es eine geziemende Belustigung […]

erwecket, in Ausehen [sic] ein Mensch unter denen zeitlichen Guetern doch eine gemaeßigte Froeligkeit fuer ein hoechstes Gut zu achten hat, messen diese ein deutliches Merckmal einer innerlichen Gemueths=Ruhe ist.463

Bemerkenswert ist hier im Hinblick auf die rezeptionsästhetische Perspektive der Kausalzusammenhang zwischen Belustigung und Gemütsruhe: Zentral ist das menschliche Gemüt, das über die belustigende Lektüre eine gemäßigte Fröhlichkeit erfährt464, die wiederum notwendig ist für die Gemütsruhe. Thomasius lässt seine Figur in der Verteidigung des Romans einen Zweck benennen, der vier Jahre nach diesem Monatsgespräch das zentrale Thema seiner Sittenlehre sein wird. Gemütsruhe wird dort als Idealzustand beschrieben, in dem das Gemüt ohne außerordentliche Bewegung durch Affekte zur Glückseligkeit gelangt, die er als das höchste

461 Christian Thomasius: Schertz= und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, über allerhand Lustige und nützliche Buecher und Fragen Erster Monat oder JANUARIUS, in einem Gespräch vorgestellet von der Gesellschafft derer Müßigen. Franckfurt und Leipzig 1688. In: Ders.: Freymüthige Lustige und Ernsthaffte iedoch Vernunfft= und Gesetzmäßige Gedancken Oder Monats=Gespräche über allerhand, führnehmlich aber Neue Bücher, Durch alle zwölff Monate des 1688. und 1689. Jahrs durchgeführet von Christian Thomasius. Halle 1690. Im Folgenden zitiert als „Monatsgespräche“.

462 Der Roman erhält in diesem Rahmen schon allein dadurch einen gewissen Wert, dass er als Diskussionsgegenstand dient, über den sich alle Anwesenden äußern können, vgl. Thomasius:

Monatsgespräche, S. 1f. Denn lange Zeit entsteht kein Gespräch, an dem alle vier beteiligt sind, „weil keiner dem andern trauete, noch sich bald auf einen Discurs besinnen kunte, woran sie allerseits ein Vergnuegen gehabt haetten, und es wuerde es vielleicht nicht einen ieden leicht ankommen, dergleichen Personen geschicklich in ein anmuthig Gespraech zu verwickeln“ (S. 2), bis sich Herr Christoph vornimmt, „einen Discurs anzuwerffen, in welchen sie sich insgesamt einmischen koennten“ (S. 3). Der Roman wird als das Thema eingeführt, zu dem nicht nur alle etwas sagen können, sondern das zugleich alle vergnügt.

Grundsätzlich wird das delectare mithin durch die Konstruktion der Situation zur Anschauung gebracht.

463 Thomasius: Monatsgespräche, S. 22.

464 Eybl sieht in dieser Textstelle eine „neue Definition des prodesse“, durch die Thomasius „eine frühaufklärerische Neubegründung der delectatio“ geliefert habe. Vgl. Eybl: Einleitung. Unterhaltung zwischen Barock und Aufklärung, S. 17.

106 irdische Gut proklamiert. Obgleich eine Verbindung von Roman und Sittenlehre von Christoph hier nicht hergestellt wird465, ist diese Zweckbestimmung der auf Gemütsruhe zielenden Belustigung im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit auffällig, ist das Endziel der Romanlektüre doch mit dem der Sittenlehre identisch.

Die Wirkung der Romanlektüre auf den Leser ist auch für die Mitdiskutanten ein zentraler Aspekt, die durch die Darstellung von Wollust und Liebe etwa einen negativen Einfluss befürchten. Auf diese von den Romangegnern formulierte Zuschreibung läuft das Gespräch später hinaus, nachdem Christoph sich für die Bevorzugung von erdichteten Geschichten gegenüber den

„wahren Historien“ ausspricht. Er zielt auf das Verhältnis zwischen Lektüre und Leser, wenn er Zugänglichkeit zum Gelesenen und Anteilnahme als Argumente anführt. Romane forderten weniger Kopfzerbrechen und zeitlichen Aufwand, riefen aber gleichzeitig eine Begierde hervor, den Ausgang „einer durch allerhand Zufälle in einander gemischten artigen invention“ zu erfahren, der Leser verspüre „einen innerlichen Trieb der compassion mit anderer Leuten Glück“

und freue sich mit diesem über das glückliche Ende466. Christoph charakterisiert damit die Unterhaltungsfunktion und stellt nicht nur auf den geringeren Aufwand für ein Verständnis des Textes ab, sondern auch auf das Mitfühlen oder gar Miterleben des Gelesenen. Er beschreibt damit – wie Mandorell – eine starke Verbindung zwischen Text und Leser, die der Schulmann David im Folgenden ins Negative wendet. Dieser ordnet die von Christoph beschriebene Art der Romanlektüre der Wollust und den Epikureeren zu, „welche solcher Gestalt dem Christenthum schnustracks zuwider“ seien467. David bringt die Rezeption der entsprechenden Texte mit einem negativen Affekt in Verbindung. Er ist es auch, der in diesem Zusammenhang auf die Gleichsetzung von Roman und Liebesgeschichte eingeht und damit nicht nur das gängige Sujet benennt, sondern vor allem eine Abwertung bezweckt, denn die Liebe sei nichts anderes als eine „fleischliche Lust“468.

In seiner weiteren Argumentation begründet David seinen Vorwurf genauer, indem er die Schreibart für den schlechten Einfluss auf den Leser verantwortlich macht: „[…] denn eben durch die Schreib=Art wird die boese Lust angereizet, wenn die Scribenten, sonderlich wen sie unehrliche Liebes=Haendel beschreiben, sich solcher Redens=Arten bedienen, dadurch die Umstände fein natürlich vorgebildet werden“469. Christoph allerdings setzt diesem Argument entgegen, dass er solche „Liebes=Historien“ meine, in denen „entweder zuweile unkeusche

465 Auf einen Zusammenhang zwischen Thomasius‘ Vorlesungsankündigung Discours, den Monatsgesprächen und der Sittenlehre verweist Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 73. In Bezug auf die Rekurrenz zwischen der ersten Nummer der Monatsgespräche und der Einleitung zur Sittenlehre stellt sie fest: „Ebenfalls in dieser ersten Nummer wird die ‚raisonnable Liebe‘ erwähnt, um die sich die Einleitung zur Sittenlehre drehen wird.“ Ebd., S. 73f.

466 Thomasius: Monatsgespräche, S. 23.

467 Vgl. Thomasius: Monatsgespräche, S. 24.

468 Vgl. Thomasius: Monatsgespräche, S. 24.

469 Thomasius: Monatsgespräche, S. 30.

107 Wercke mit keuschen Worten beschrieben werden, mehrentheils aber eine ehrliche Liebe mit solchen ehrerbietigen Umständen abgemahlet wird, daß aus derer Lesung wenig Aergeniß zu befahren“470. Vielmehr sei dies von manchen öffentlichen Reden zu erwarten, die „zu weilen grobe unflätige Phrases mit unterlauffen.“471 Wie auch schon bei Happel wird die Darstellung der Liebe als ein Affekt in Bezug auf den Rezipienten als problematisch thematisiert und somit als ein Hauptcharakteristikum der Gattung ausgewiesen. Durch die Stimme des Herrn David geschieht dies hier nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Beides weiß Christoph jedoch zu widerlegen.

Liebe und ihre Darstellung mit einer potenziell affizierenden Wirkung, so kann zunächst auch für die Überlegungen von Thomasius festgehalten werden, sind weiterhin ein essentielles Kriterium des Rechtfertigungsbedarfs der Gattung.

Herr Augustin geht gegen Ende des Gesprächs über den Roman ebenfalls dezidiert auf den Affekt Liebe und seine Wirkung ein, der von den Herren als Sujet bereits herausgearbeitet wurde. Er sieht die Gefahr der Romane darin, dass durch diese der Affekt Liebe „ein wenig zusehre angefeuret wird/ welchen man doch/ weil ohne dem wir Menschen darzu mehr als zu viel incliniret/ vielmehr etwas dämpfen solte“472. Zudem befürchtet er, dass Lasterhaftes als Tugend getarnt wird und die „artigen inventiones“ missbraucht werden. Das Erhitzen der Gemüter durch die „Verliebten Redens=Arten“ könne bewirken, dass der Rezipient nicht mehr an den tugendhaften Beispielen interessiert sei. Dies formuliert Augustin als ein Hintergehen der Eltern und Ehegatten potentieller Leser, die in der Lektüre dieser Bücher gerade das Gegenteil, nämlich das Auslöschen der verbotenen Liebe suchen473. Augustin argumentiert hier ähnlich wie zuvor schon David, wenn er beim Leser eine fehlende Distanz und eine mangelnde Reflexionsfähigkeit befürchtet474. Durch diese Perspektive wird nicht nur ein gängiger Einwand gegen die Romanlektüre berücksichtigt, vielmehr kann daraus implizit eine Empfehlung für den Umgang mit dem Roman herausgelesen werden. Der Leser des Monatsgesprächs wird aufmerksam gemacht auf die „Gefahren“, die hier beschrieben werden, und könnte diese für die eigene Romanlektüre im Blick behalten. Letztlich nimmt Augustin gewissermaßen eine mittlere Position ein, wenn er sagt:

470 Thomasius: Monatsgespräche, S. 31f.

471 Thomasius: Monatsgespräche, S. 32.

472 Thomasius: Monatsgespräche, S. 59f.

473 Vgl. Thomasius: Monatsgespräche, S. 60.

474 Herr David beschreibt den durch Romanlektüre entstehenden Schaden wie folgt: „Nun bedencke aber der Herr/ wie viel das lesen der Liebes=Geschichte etwas Unfug angerichtet/ und wie mancher Kerl darüber zum Narren worden/ daß er sich beredet/ er sei ein Heros einer Liebes=Geschichte“. Herr Christoph hält dagegen und schreibt solchen Unfug „albernen“ Romanen zu, die er eben nicht meine. Auch ein falsches Verständnis des Gelesenen hält er für möglich und führt hierzu Texte (La fausse Clélie und Comoedie, les Precieuses Ridicules von Moliere) an, die sich eben darüber lustig machen. Vgl. Thomasius:

Monatsgespräche, S. 58.

108 [o]b nun wohl dieses alles von mir nicht zu dem Ende angeführet wird/ daß ich die Romanen gäntzlich verwerffen/ oder den Nutzen und die geziemende Belustigung so fuernehmlich Leuten/ so ihrer selbst mächtig sind/ daraus schöpffen tadeln wolte“475. Herr Augustin sieht demnach von einer gänzlichen Ablehnung ab, wenn er einräumt, es gebe Leser, die „ihrer selbst mächtig sind“, sich also vom Gelesenen nicht einfach beeinflussen lassen.

Diese Erwägungen könnten als impliziter Hinweis an den Leser gedeutet werden, von vornherein eine Lektürehaltung einzunehmen, mit der die formulierten Gefahren obsolet werden. Im Ergebnis jedenfalls findet sich bei Thomasius insgesamt die Diskussion um die affizierende Wirkung der dargestellten Affekte, die entweder im Hinblick auf den Nutzen gelesen oder eben abgelehnt wird.

Der Rechtfertigungsgestus bleibt auch weiterhin zentral. Der Gelehrte Benedict leitet die Frage nach der Nützlichkeit ein, indem er auf Horaz rekurriert. Er stellt zur Diskussion, dass „weder die allein lustigen, noch die allein nützlichen Bücher, sondern diejenigen, so zugleich nützen und belustigen, den Preiß für allen andern meritiren“476, und stellt bereits bei dieser Frage in Aussicht, dass sich unter den Anwesenden wahrscheinlich kein Konsens darüber finden lassen wird477. Es ist erneut Herr Christoph, der sofort für die Bestätigung des prodesse et delectare argumentiert und damit seine ausführlichen Erläuterungen einleitet:

[I]ch halte dafür, daß man nichts nützlichers und zugleich anmuthigers schreiben könne/ als wenn man in teutscher Sprache ehrliche Liebes=Geschichten nach dem Muster etlicher dißfals berühmten Romane beschriebe. Daß solche Schrifften belustigen/ wird mir niemand verneinen/ und werde ich nur vonnöthen haben darzu thun/ daß sie grossen Nutzen schaffen.478

Christoph verwendet hier Superlative, um den Roman zu beschreiben – nichts könne so nützlich und anmutig sein, wie diese Texte, die er zugleich als „Liebesgeschichten“ bezeichnet. Somit stützt er sein vorangegangenes Argument. Für den erforderlichen Nachweis der Nützlichkeit macht er zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Liebesgeschichte eines einzigen Paares, die nach dem Vorbild der französischen Literatur geschrieben sei, und den Staatsgeschichten, den „Historien einer gantzen Nation unter den Deckmantel vieler in einander gemischten und mit rechter Kunst verwirrten Geschichten“479. Beide Alternativen hätten gemein, dass die darin zu lesenden Erfindungen nicht nur das Gemüt belustigen, sondern, dass „bey vielfältiger Lesung etwas kleben“ bleibe, „so man zu gemeiner Zeit im gemeinen Leben und Wandel wieder anbringen/ und sich öffters zu Nutze machen könne.“480 Es handelt sich Christoph zufolge nicht einfach um einen Zeitvertreib, vielmehr gewährleiste die Art der Darstellung, die

475 Thomasius: Monatsgespräche, S. 62.

476 Thomasius: Monatsgespräche, S. 40f.

477 Vgl. Thomasius: Monatsgespräche, S. 41.

478 Thomasius: Monatsgespräche, S. 42f.

479 Thomasius: Monatsgespräche, S. 43.

480 Thomasius: Monatsgespräche, S. 43.

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„mit Kunst verwirrten Geschichten“, dass der Leser das Gelesene nicht nur im Gedächtnis behalte, sondern ebenso „im gemeinen Leben und Wandel wieder anbringen könne“. Auch in Thomasius‘

Text wird abgestellt auf die unmittelbare Übertragbarkeit des Gelesenen auf die eigene Lebenswirklichkeit des Rezipienten. Romane dienen demnach dem Erwerb eines alltagspraktischen Wissens.

Ähnlich wie bei Happel wird das menschliche Wesen als Begründung für die Notwendigkeit fiktionaler Wissensvermittlung angeführt. Da der Mensch mehr durch Beispiele als Regeln lerne, könne es nicht anders sein, als dass er „mehr Nutzen aus Lesung dergleichen Liebes=Geschichte/

als aus andern“ ziehe481. Christoph geht sogar noch weiter, indem er behauptet, junge Menschen würden ohne die literarische Gestaltung des Wissens wahrscheinlich überhaupt nichts lernen. Er spricht von politischen, moralischen und philosophischen Diskursen, die mit den wahrhaften Geschichten verflochten werden und

welche sodann ein junger Mensch/ der auff Lesung solcher Geschichten erpicht ist/

mit grosser Begierde lieset/ und in sein Gedächtnüß schliesset/ die er wohl sonsten/

wenn sie bloß und ohne Vermischung der anmuthigen Umstände wären vorgebracht worden/ würde ungelesen gelassen/ und einen Eckel davor empfunden haben.482

Wissensvermittlung wird überhaupt erst durch die Vermischung mit Erdachtem gewährleistet, so dass das Unterhaltungskriterium als notwendig anzusehen ist. Ähnlich wie bei Happel wird erkennbar, dass durch den hier gewählten fiktionalen Rahmen der Forderung nach unterhaltender Wissensvermittlung im Verhältnis zum Leser des Gesprächs Rechnung getragen wird. Der Roman wird als einziges Instrument zur Belehrung gesehen, da andere Texte ob ihrer fehlenden Unterhaltungsfunktion vom jungen Publikum gar nicht gelesen würden. Der Mensch braucht laut Christoph einen Anreiz, das Wissen aufzunehmen, es darf keine Mühe kosten.

Eine weitere Parallele zu den romantheoretischen Überlegungen bei Happel zeigt sich in der Benennung des Gegenstands der Wissensvermittlung: Auch für Christoph steht der Mensch mit seiner Gemütsbeschaffenheit im Zentrum der Romane,

in denenselben der Character eines und andern gewissen Affects, er sey nun tugend- oder lasterhafft geschicklich angeführet wird/ welches nicht allein den guten Verstand und weltkluge Erfahrung des Verfertigers andeutet, sondern auch denen Lesenden Gelegenheit giebet die Kunst derer Leute Gemüther zuerforschen/ welches meines erachtens vor den Grund der wahren Politic zu halten/ ist gleichsam spielende und in Müßiggang zu erlernen.483

Zunächst ist festzuhalten, dass der „Charakter“, also die Eigenschaften tugend- und lasterhafter Affekte, geschildert wird und der Leser somit durch die Lektüre zunächst einmal etwas in Erfahrung bringt. Des Weiteren soll der Mensch durch die Romanlektüre eine Kunst erlernen,

481 Vgl. Thomasius: Monatsgespräche, S. 44f.

482 Thomasius: Monatsgespräche, S. 45.

483 Thomasius: Monatsgespräche, S. 49f.

110 nämlich diejenige „derer Leute Gemüther zuerforschen“. Grundsätzlich ließe aus diesem Argument eine Befürwortung der Annahme, Romane selbst seien Sittenlehren, schließen, doch der Verweis auf die „Politic“ lenkt die Auslegung in eine andere Richtung: „All diese Erziehungs- und Bildungsfunktionen (Anleitung, wie Welterfahrenheit und soziales Einfühlungsvermögen im Sinne einer galanten Conduite auszuprägen seien) sind über den Roman ‚gleichsam spielend und in Müßiggang zu lernen.‘“484 Das heißt mit anderen Worten: Aus der Romanlektüre erfährt der Rezipient, wie er andere Menschen richtig einschätzen kann, was wichtig ist speziell für das galante Verhalten im Umgang mit anderen Menschen. Der Bezug auf die Lebenswirklichkeit des Rezipienten wird demnach vor allem im Hinblick auf das Potenzial der Romane, galantes Verhalten als nachahmenswert zu vermitteln, konkretisiert. Der „pragmatische Nutzen“, der den Texten von Thomasius hier zugesprochen wird, „erscheint dort keinesfalls als aufdringliche, ostentativ eingesetzte Didaktik, sondern als unmerkliches Wirken der Texte, als Einübung durch Identifikation mit dem faktual wirkenden Fall.“485Das Stichwort „Identifikation“ ist demnach ein zentraler Aspekt, auf den die Begründung der Nützlichkeit, der Belehrung des Rezipienten aufgebaut wird. Dies impliziert die Forderung danach, dass das Gelesene zwar nicht wahr, aber doch wahrscheinlich zu sein hat, da sich der Leser grundsätzlich identifikatorisch in die gelesene Situation hineindenken kann.

Die Tatsache, dass Thomasius dieses Gespräch über den Nutzen der Romane an den Beginn seiner monatlichen Unterredungen stellt, weist darauf hin, dass zum einen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden sollen, was der Leser des Rezensionsorgans unter einem Roman zu verstehen hat. Die Parameter der Bewertung der der Gattung zugehörigen Texte werden hiermit abgesteckt.

Zum anderen spricht sie aber auch dafür, dass der zeitgenössische Stand der Diskussion um die Gattung wiedergegeben wird. Wesentlich ist erneut die Debatte um die Wirkung der Romane, die von den Gegnern im Hinblick auf die angenommene Affizierung als negativ eingestuft und von Christoph als Befürworter ins Positive gewendet wird. Als förderlich wird die Darstellung von Affekten für die Kenntniserlangung über das menschliche Gemüt herausgestellt, wenngleich dies hier vor allem auf die Vermittlung galanten Verhaltens zu beziehen ist. In Bezug auf dieses Argument, so wird in der Analyse der Romane zu zeigen sein, offenbart sich ein zentraler Schnittpunkt zwischen Romanen als Verhaltenslehre und Romanen als Sittenlehre, da für beide das Erkennen der Gemütszustände essentielle Voraussetzung menschlichen Handelns ist. In dieser Hinsicht gilt: Erst die Fiktion macht die Wissensvermittlung möglich.

484 Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 174.

485 Niefanger: Romane als Verhaltenslehren, S. 345.

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4.3.2.2 Erdmann Neumeister und Hunold: Raisonnement über den Roman (1708)

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