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Die „Bewegung“ als Grundkonzept und die Vorstellung von der Gemütskrankheit Gemütskrankheit

II THEORETISCHE GRUNDLAGEN

3. Christian Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre und Ausübung der Sittenlehre 1 Die Sittenlehre: Vermittlungsabsicht und Programm 1 Die Sittenlehre: Vermittlungsabsicht und Programm

3.3 Die „Bewegung“ als Grundkonzept und die Vorstellung von der Gemütskrankheit Gemütskrankheit

Denn wie dieses „Thun und Lassen“ im Einzelnen aussieht, beschreibt Thomasius jeweils in den Kapiteln über die drei Hauptlaster. Als Ausgangspunkt für dieses Verständnis des Zusammenhangs zwischen Passivität und Aktivität ist die Diagnose anzusehen, die Thomasius über den Menschen an sich stellt und die im Kontext mit dem bereits mehrmals in den Zitaten präsenten Begriff „Bewegung“ steht. Er geht davon aus, dass „des Menschen Natur und Wesen von seiner geburt an in der grösten Unvollkommenheit stecke“356. Die Grunddisposition des Menschen ist nach dieser Vorstellung per se mit einem Mangel behaftet, den es auszugleichen oder zu überwinden gilt – damit begründet Thomasius das menschliche Bedürfnis eines Strebens nach einem Zustand der Vollkommenheit, also der Glückseligkeit, und somit die Notwendigkeit der Sittenlehre. Bereits in der Einleitung zur Sittenlehre formuliert Thomasius die Ansicht, der Mensch könne sich grundsätzlich in zwei verschiedenen Zuständen befinden: entweder in einem

„ordentlichen Zustand und seiner Natur/ den er von GOtt empfangen hat“oder in einem „ausser ordentlichen/ ausser natürlichen Zustand/ indem er sich durch die Gewohnheit selbst gesetzt

354 Catherine Newmark: Weibliches Leiden männliche Leidenschaften. Zum Geschlecht in älteren Affektenlehren. In: Sabine Flick/ Isabelle Hornung (Hrsg.): Emotionen in Geschlechterverhältnissen.

Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel. Bielefeld 2009, S. 45. Newmark rekurriert in ihren Ausführungen auf den Begriff der passiones animae, mit dem sie genau das beschreibt, was vorliegend zu ‚Affekt‘ und ‚Passion‘ geschildert wurde.

355 Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 76f. [3/9].

356 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S, 14 [1/30].

83 hat/ oder darin er von andern Menschen gesetzt worden“357. Dieses bipolare Modell beschreibt er weiter, indem er den ordentlichen und außerordentlichen Zustand jeweils dem Guten und Bösen zuordnet und genauer charakterisiert. Während der ordentliche Zustand derjenige sei, in dem „die Bewegung aller Teile des menschlichen Leibes/ in der von Gott geordneten proportion/ und Masse“ verbliebe und innerlich die Waage gehalten werde358, beschreibt er den

„außerordentlichen“ Zustand konträr:

Der außerordentliche Zustand ist derjenige/ wenn diese Bewegung von der von GOtt geordneten Masse abweichet/ und entweder den Wachstum allzumercklich befördert/ oder das Abnehmen unmittelbar und empfindlich beschleuniget/ und wenn der Verstand und Wille zum Guten träge und zum Bösen munter ist/ auch seines Weges eine ruhige Bewegung empfindet/ sondern von allen äusserlichen Dingen bald da bald dorthin gerissen wird.359

Erstrebenswert ist demnach ein Zustand, in dem möglichst wenig Bewegung innerhalb des menschlichen Gemüts herrscht. Jegliches Übermaß wird abgelehnt; eine ‚empfindliche‘, also zu starke Bewegung, eine Beschleunigung der vorher noch „geordneten Masse“ und die Trägheit des Verstandes und Willens in Bezug auf das Gute führen zu einem abzulehnenden Extrem. Deutlich formuliert er hier erneut die Vorstellung von der Passivität, die sich nicht nur in der Grammatik spiegelt, sondern auch in der weiteren Wortwahl, werde der Mensch doch „bald da hin bald dorthin gerissen“. Evoziert wird eine Vorstellung von der Wehrlosigkeit des Menschen, der diesem Extrem ausgeliefert scheint. Wie fatal dieser Zustand ist, erläutert der Philosoph im Folgenden: „In diesem Zustande leben dem Leibe nach die Krancken/ und nach der Seele[] die in Unwissenheit und Irrthümern/ Eitelkeit und Lastern stecken. Dieser Zustand ist böse.“360 Durch die Krankheitsanalogie wird die Notwendigkeit einer Heilung, einer Therapie evoziert und zugleich näher definiert, welche Formen der außerordentliche Zustand aufweist: Unwissenheit und Irrtümer auf der einen Seite und Eitelkeit und Laster auf der anderen. Damit werden dem Leser die Elemente genannt, gegen die es anzugehen gilt und für die insbesondere der zweite Teil der Sittenlehre Mittel bereitstellt, denn hier liest der Rezipient – das wird zu zeigen sein –, wie er Kenntnis über die eigenen und fremde Affekte sowie die Aktivität zur Überwindung dieser erhält.

Welch entscheidende Bedeutung der Begriff der „Bewegung“ für Thomasius hat, offenbart sich zudem in der Annahme, alle Dinge auf der Welt seien in einer stetigen Bewegung:

Also bestehet nun auch des Menschen seine Natur in eine dergleichen Bewegung/ der GOtt/ wie bey andern Dingen/ gewisses Maß/ Ziel und Weise vorgesetzet/ nach welcher der Mensch aus einen unvollkommenen Wesen in ein vollkommenes/ und von dar wieder bis auff sein Alter in ein unvollkommenes gesetzt wird.361

357 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 41f. [1/111].

358 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 42 [1/112].

359 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 42 [1/113].

360 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 42 [1/113].

361 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 14 [1/31].

84 Bewegung ist demnach nicht immer schlecht und zu vermeiden – wenn sie maßvoll ist, dient sie dazu, von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit zu gelangen. Alle Objekte der Sinnlichkeiten, die beim Menschen keine neuen außerordentlichen Zustände durch die erwähnten empfindlichen Bewegungen hervorriefen und lediglich die natürliche Bewegung in einem

„ruhigen Zustande“ hielten, seien gut362. Hiermit korrespondiert sodann auch eine ausführlichere Beschreibung der Gemütsruhe, in der das Konzept der Bewegung deutlich erkennbar wird:

Und ob wir schon gesagt/ daß die Gemüths=Ruhe trachte sich mit andern ruhigen Gemüthern zu vereinigen/ so ist doch dieses trachten keine, unruhige Begierde/ oder ein solch Verlangen/ daß den Menschen unglücklich machte/ wenn es nicht erfüllet würde/ sondern ein ruhiges Bemühen/ und folglich eine Continuirung der einmal erlangten Gemüths=Ruhe/ als welche durch dergleichen Vereinigung entstehet/ oder vielmehr deutlicher zu reden/ eine stetswehrende Würckung dieser Gemüths=Ruhe/

umb dadurch anzuzeigen/ daß diese Ruhe nicht in einer Trägheit und Faulheit oder Mangel aller Bewegung/ als welches alles böse Dinge seyn/ sondern die munter aber proportionirlichen Bewegung bestehe. Und das ist es eben/ wenn wir kurz zuvor erwehnet haben/ daß die Gedancken des Menschen/ wenn sie seine Glückseligkeit machen sollen/ auch mit einer mässigen Veränderung sollten vergesellschafftet werden.363

Die „proportionirliche Bewegung“ ist es, die Bedingung ist nicht nur für das Erreichen des Zustands der Glückseligkeit, sondern auch für dessen Erhaltung. Abgegrenzt wird sie explizit von einer Faulheit und Trägheit, es wird mithin ein Mitwirken des Menschen selbst an seiner inneren wohlproportionierten, langsamen Bewegung gefordert, also ein Aktivwerden. Wesentlich ist zudem der Hinweis, dass mit dem hier beschriebenen Streben nicht nur ein Erreichen, sondern auch ein Erhalten des positiven Zustands postuliert wird. Hieraus ergibt sich die Konsequenz, dass der Mensch die Bewegung unter Kontrolle halten muss, sie nicht ausschweifen lassen darf. Denn demgegenüber steht die Beschreibung der Bewegung, die das Gebot der Maßhaltens nicht beachtet: „Und alle Bewegungen derer Sinnligkeiten die gar zu empfindlich sind/ oder die die Sinnen gar zu starck bewegen/ verderben die Senn=Adern der sinnlichen Gliedmassen/ und derhalben sind sie böse.“364 Wesentlich ist hier also, dass die zu starke Bewegung auch physische Auswirkungen hat – befindet sich ein Mensch in einem außerordentlichen Zustand, wird er übermäßig von etwas bewegt, was sich sodann in einem krankhaften Zustand äußern kann. Dieses Austarieren zwischen einer unter Kontrolle gehaltenen, maßvollen einerseits und der zu starken extremen Bewegung andererseits veranschaulicht Thomasius in der Ausübung der Sittenlehre im 6. Hauptstück durch eine Kreis-Metapher:

Die erste Regel ist folgende: alle Gemüths=Neigungen die den Menschen ausser sich selbst (von dem Mittelpunkt) führen/ und ein ander Ziel haben/ als die Vereinigung mit anderen Menschen/ die nach der Gemüthsruhe trachten/ (dessen Ziel nach dem

362 Vgl. Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 21 [1/52].

363 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 87f. [2/70].Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine falsche Tugend auch keine wahre Gemütsruhe bewirke, vgl. ebd., S. 99 [2/97].

364 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 21 [1/52].

85 Creyse zugehet) ist böse. Und: alle Gemüths=Neigungen/ die den Menschen in sich selbst führen/ und mit anderen ruhigen Menschen vereinigen/ sind gut.365

Es ist von einer inneren Mitte die Rede, in der der Mensch seine Gemütsruhe gefunden hat und in der wenig oder nur mäßig Bewegung herrscht. Sobald die Gemütsneigungen von dieser Mitte wegführen, werden die Bewegungen intensiver und unkontrollierbarer, wie auch der Radius eines Kreises sich vergrößert. Im Wesentlichen heißt einem Affekt zu unterliegen, in einer starken Bewegung begriffen zu sein, die einen Menschen von seiner inneren Mitte, dem Punkt der größten Ausgeglichenheit und Ruhe, entfernt. Dies korrespondiert mit der bereits erläuterten Vorstellung, dass die vernünftige Liebe lediglich eine ruhige Bewegung bedeute.

Seine zumeist recht abstrakten Ausführungen konkretisiert Thomasius durch alltagstaugliche Regeln und macht damit Vorschläge für die Umsetzung seiner Lehre im Alltag: „Und endlich/ so ist wohl aus gemacht/ daß derjenige/ so wenig isset und trincket/ auch die Belustigung der Sinnen mäßiglich braucht/ an justesten und accuratesten zu gedencken geschickt sey.“366 Deutlich wird die Verbindung von Gemüt und Körper durch das Handeln des Menschen erkennbar: Das Maßhalten in alltäglichen Dingen bedingt die ruhige Bewegung im Inneren. In diesem Zusammenhang artikuliert der Philosoph zudem einige wesentliche Charakterzüge der Affekttypen:

Ein Tugendhaffter ist ruhig/ wenn er alleine ist/ wenn er wenig hat/ wenn er wenig isset und trincket. Ein Wollüstiger stirbet für Verdruß/ wenn er keine Gesellschafft hat/ und ein Geitziger hänget sich/ wenn man ihm seinen Schatz nimmt; Ein Trunckenbold wird kranck/ wen man ihm 8. Tage allen Wein entziehet.367

Genügsamkeit wird hier als das richtige Maß beschrieben, das eben ein Wollüstiger, ein Geiziger und ein „Trunkenbold“ nicht haben – und an dem sie letztlich auch erkennbar werden. Um vom Übermaß zu diesem Maß, also vom außerordentlichen zum ordentlichen, ruhigen Zustand zu kommen, empfiehlt Thomasius folgerichtig eine langsame Bewegung, die „Stuffen=weise“ und demnach nicht plötzlich und schnell erfolgen sollte: „Und wie dannenhero der mensch sein natürlich Gutes Stuffen=weise gleichsam erhält/ also muß er sich auch Stuffen=weise das Böse wieder abgewöhnen.“368 Mit anderen Worten: Ein Lasterhafter kann nicht auf einen Schlag tugendhaft werden, sondern muss kontinuierlich – und aktiv – daran arbeiten.

Die mehrmals erwähnte Idee von der Gemütskrankheit entwickelt Thomasius auf Grundlage der Vorstellung von den maßlosen Bewegungen, denn: „Hieraus wird endlich eine Gemüths=Krankheit oder das Laster/ wenn der Affekt lange continuiret worden.“369 Erneut

365 Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 150f. [6/19].

366 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 24 [1/61].

367 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 44f. [1/120].

368 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre, S. 43 [1/118].

369 Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 48 [2/15].

86 verweist diese Annahme auf antike Vorstellungen von Emotionen als Krankheiten370, insbesondere der Stoiker371, und überdies auf Descartes, der von einem direkten Einfluss des Seelischen auf das Körperliche ausging, „zunächst als Krankheitsursache, dann als Heilungsfaktor“372. Es gibt zudem einen weiteren für Thomasius relevanten Traditionszweig, der sich dezidiert der Gefährdung der Gesundheit des Gemüts widmet, vor allem aber in der bereits erwähnten Aufteilung in vier Hauptaffekte eine Ähnlichkeit aufweist. Denn es gebe von der

„Antike bis weit in die Neuzeit eine ärztlich-medizinische Beschäftigung mit Passionen, welche diese in den Kontext der Temperamentenlehre oder Humoralpathologie stellt, diätisch-therapeutisch damit umgeht und zum Teil auf die stoische Identifizierung der Passionen mit Krankheiten“373 verweise. Zu nennen ist hier der antike Mediziner Galen, der in seiner Schrift De Temperamtis in systematischer Form die Idee dargestellt habe, „dass der menschliche Körper, wie andere natürliche Entitäten, unter dem Gesichtspunkt ihrer ‚Mischungen‘ (kraseis) aus den vier Elementen oder Qualitäten heiß, kalt, trocken und feucht analysiert werden sollten.“374 Seiner Auffassung nach bestehe „der bestmögliche körperliche Zustand“ in „eine[r] ausgewogenen Mischung dieser vier Qualitäten, was zumindest die Grundlage für den bestmöglichen seelischen Zustand schafft.“375. Eine Bezugnahme auf die Temperamentenlehre macht Thomasius an wenigen Stellen explizit, prominent aber bereits in der Zuschrift zur Einleitung376. Entscheidend an dieser Zuordnung ist für den in Rede stehenden Zusammenhang, dass die Affekte, wie auch Bernhard Jahn herausstellt, immer von einer physiologischen Basis her gedacht werden, wobei die bei Thomasius beschriebene Kombination „die in den galanten Philosophiae practicae in der

370 Vgl. Landweer/ Renz: Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien. In: Dies. (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien, S. 7. Ebd. heißt es weiter: „Auch wenn die Unterschiede in der Konzeption solcher Maßnahmen sowie in der Bestimmung des Therapieziels beträchtlich sind, so kennzeichnet es doch sämtliche Affektenlehren, dass sie die philosophische Reflexion auf menschliches Fühlen als therapeutische Praxis begreifen.“

371 Vgl. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 46f. [2/15]. Catherine Newmark bezeichnet die Rede von den Krankheiten als spezifisch stoische Idee; vgl. Newmark: Passion Affekt Gefühl, S. 9. Siehe hierzu auch Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 187, der diese Idee genauer beschreibt: „Nach Meinung der Stoiker sind die Gemütsbewegungen die wider die Vernunft vom Willen gebilligten perturbationes aninmi, die durch den Leib bewirkt werden. Der Affekt ist eine Art krankhefte Meinung (prava opinio), d.h. ein

‚Gemütsleiden‘.“

372 Vgl. Newmark: Passion Affekt Gefühl, S. 108f.

373 Newmark: Passion Affekt Gefühl, S. 17.

374 Christopher Gill: Die antike medizinische Tradition. Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen. In:

Landweer/ Renz (Hrsg.): Klassische Emotionstheorie, S. 104. Gill referiert in diesem Beitrag zudem die hippokratische Theorie der Säftelehre, S. 98ff.

375 Vgl. Gill: Die antike medizinische Tradition, S. 105.

376 Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre. Zuschrifft an Johann Georg zu Anhalt [unpag., S.6.]: „Man kan dieses gar artig aus denen Vier Temperamenten der Menschen und der Natur=Kunst sehen. Wer ein recht Phlegma hat/ ist der vernünfftige Mensch/ und muß nothwendig auch der grösten Glückseligkeit und der vernünfftigen Liebe fähig seyn. Diesem Temperament ist ein Sangvineus am nächsten/ bey deme [sic] die Wollust die oberste Gemüths=Neigung ist. Ein Cholericus ist schon weiter vom Phlegma entfernet/ und bey demselben raget die Ehrbegierde über die andern Affecten empor. Die Melancholici, gleich wie sie die wunderlichsten sind; Also ist der stärckste Trieb bey ihnen zu der Geld=Liebe.“ Zudem benennt Thomasius im siebten Hauptstück der Ausübung Salz, Quecksilber und Schwefel als Verursacher der Affekte, vgl.

Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 161 [7/5].

87 ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland absolut dominierende“377 gewesen sei. Trotz dieser expliziten Rekurrenz scheint die Temperamentenlehre in der Sittenlehre selbst eine eher untergeordnete Rolle zu spielen und wird auch für die Untersuchung der vorliegenden vier Romantexte von geringer Bedeutung sein. Dennoch ist sie als ein Bestandteil der Grundvorstellungen Thomasius‘ gerade vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen Körper und Gemüt nicht gänzlich zu übergehen, sondern als eine der Traditionslinien aufzuzeigen.

An dieser Feststellung ist somit einmal mehr bedeutsam, dass die Gemütskrankheit sich grundsätzlich auch in einem körperlichen Leiden äußert. Denn die Rede von den Krankheiten taucht als Analogie in der Ausübung immer wieder auf, vor allem im 14. Hauptstück, in dem Thomasius die einzelnen Schritte der Therapie der Affekte näher ausführt. Diese Grundannahme vom Zusammenhang zwischen Gemütsverfassung und körperlicher Verfassung ist ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Romananalyse. So wird insbesondere die Untersuchung der weiblichen Hauptfigur zeigen, dass Vorbildlichkeit, Tugendhaftigkeit und damit Gemütsruhe auch durch eine besondere Schönheit nach außen hin sichtbar werden. Durch die Bedrängung, die eine Trennung vom Geliebten zur Konsequenz hat, so kann vereinfacht gesagt werden, wird mit Verzweiflung und Trauer eine Gemütsunruhe bewirkt, die auch einen Verlust der weiblichen Schönheit bedeutet. Mehr noch, dieses Einbüßen an äußerlichen Vorzügen ist als Symptom einer Gemütskrankheit zu verstehen, die in den Texten mit einem desolaten körperlichen Zustand verbunden ist.

Für die Analyse der Romane als Sittenlehren ist neben den in den Kapiteln zu leistenden konkreten Nachweisen einzelner Lehrsätze und Annahmen zunächst das Grundkonzept Thomasius‘ bedeutsam. Dieses gründet einmal auf der Annahme der Dichotomie zwischen vernünftiger und unvernünftiger Liebe und zum anderen auf der Vorstellung von den Affekten als außerordentliche Bewegungen im Gemüt, die zugleich eine Passivität des Menschen gegenüber diesen bedeutet. Diese Unterlegenheit hat nicht nur körperliche Auswirkungen, wie anhand der einzelnen Figuren in den Romanen gezeigt werden kann, sondern kann sich zuspitzen zu einer Gemütskrankheit, die durch die Lehrsätze aus der Sittenlehre überwunden werden kann. Auf dieser konzeptionellen Basis wird sich die Erzähltextanalyse auf die konkreten Annahmen über

377Vgl. Jahn: Die Sinne und die Oper, S. 280. So verweist beispielsweise Friedrich Vollhardt auf Thomasius‘

Zeitgenossen Christian Weise und seine „moralische ‚Artzney=Kunst‘“, Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 118: „Als Romanautor vergleicht er sich mit einem Arzt. Ein ‚Ethicus‘ sei ‚gleichsam ein Medicus des Gemüths‘, der sich darum zu sorgen hat, wie die ihm Anvertrauten ihre ‚innerliche Gewissens -Gesundheit erlangen.“ Ein Beispiel für den Einfluss der Affektenlehren im Allgemeinen und Thomasius im Besonderen auf die Literatur der ersten Jahrhunderthälfte lieferten die Moralischen Wochenschriften, wie Vollhardt ausführt, ebd. S. 228: „Die Wochenschriften haben das Schema der schlechten Affekte, das Thomasius im praktischen Teil seiner Sitten=Lehre ausgearbeitet und in seinem Kurtzen Entwurff der Politischen Klugheit in einem ‚Spiegel der Erkäntnüß seiner selbst und anderer Menschen‘ übersichtlich zusammengefaßt hat, mit Vorliebe in moralische Porträts übertragen.“ Vollhardt verweist mit Blick auf Thomasius‘ Einfluss zudem auf Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg und den Patrioten, vgl. ebd. S.

235.

88 die Erlangung bzw. Erhaltung der vernünftigen Liebe zwischen zwei Menschen (genauer der Annäherung) sowie die Darstellung der Zustände der Gemütsunruhe und Gemütskrankheit der Protagonistin und der Ausprägungen der Affekte Wollust und Scheintugend beim Widersacher konzentrieren. So ist es nur konsequent, dass diejenigen Figuren, an denen die vernünftige Liebe sowie die Widererlangung derselben bestimmten Hindernissen zum Trotz demonstriert wird, am Ende auch mit der Glückseligkeit belohnt werden und somit der Zielsetzung des Moralphilosophen Thomasius Rechnung getragen wird.

4. Gattungsfragen

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