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III VORBEMERKUNGEN ZUR ANALYSE

1. Rezeptionshinweise in den Paratexten

Während Thomasius‘ Sittenlehre als moralphilosophischer Text die Intention, ein bestimmtes Wissen vermitteln zu wollen, bereits im Titel trägt, ist für die Frage nach der Vermittlung eines bestimmten Wissens in einem Roman nach den Signalen zu fragen, die nicht nur der Romantext selbst, sondern auch die Paratexte552an etwaige Adressaten senden. Denn: „Paratexte enthalten Hinweise, die die Lektüre des Haupttextes und seine Einordnung in Diskurse steuern. Sie sind schon deshalb häufig programmatisch zu lesen.“553 Ausgehend von dieser Annahme zielt dieses der eigentlichen Romananalyse vorangestellte Kapitel darauf, den Vorreden der vorliegenden Texte programmatische Tendenzen nachzuweisen, die auf die Etablierung der weiblichen Hauptfigur als vorbildhaft abzielen und die Texte von Beginn an als nützlich in Bezug auf die Darstellung von Tugend und Laster empfehlen. Auch wenn die Romane – bis auf Bohses – nicht als „Sittenlehren“ deklariert werden, so tragen die Paratexte jedoch dazu bei, sie als solche lesbar

552 Siehe zum Begriff und zur gängigen Typologie von Paratexten: Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig.

Frankfurt am Main 1989. Titel, Vorrede und Widmung gehören nach Genettes Begriffsbestimmung gemeinhin zur Textform Paratext.

553Dirk Niefanger: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ‚Barock‘ und ‚Aufklärung‘. In: Lili 98 (1995), S. 99.

125 zu machen. Somit gilt es bereits hier, die Wesentlichkeit der Protagonistin als zentrales Strukturelement und ein ihr zugeschriebenes Verhalten respektive Handeln als unabdingbare Konstituenten dieser Lesart zu bestätigen.

Es scheint zunächst eine banale Beobachtung zu sein, dass alle vier Texte die Protagonistin ins Zentrum ihres jeweiligen Titels stellen – dabei ist diese erste Information der Lektüre entscheidend für die folgende Rezeption, wird doch das Augenmerk auf eine ganz bestimmte Figur gerichtet, die noch dazu mit bestimmten Attributen und Informationen versehen wird: Es handelt sich um die „getreue Bellamira“, die „liebenswürdige Adalie“, um das „Leben der schwedischen Gräfin“ und die „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“. Während die galanten Titel die Hauptfigur schon im Vorfeld mit positiv konnotierten Charaktereigenschaften versehen, ist aus den empfindsamen Titeln der Status der Figuren ansatzweise ersichtlich, wobei „Leben“ und

„Geschichte“ umfangreiche Einblicke für den Leser verheißen. Diesem wird jeweils eine zeitlich umfangreiche Perspektive suggeriert und eine gewisse zu erwartende Nähe zu der erwähnten Figur angedeutet, aus deren Leben anscheinend ein authentischer Bericht folgen wird. Mit dem Titel wird demnach ein klarer Fokus auf die weibliche Hauptfigur gerichtet, deren Erlebnisse der Rezipient nun zu rezipieren erwartet.

Ausgehend von der Beobachtung, dass alle vier Romane das Augenmerk vom ersten Moment der Lektüre auf die weibliche Hauptfigur legen, sind, wie Barthel festhält, insbesondere auch diejenigen „Aussagen wichtig, die in den Paratexten (Vorreden, Zuschriften) über die Protagonistin getroffen werden. Im Sinne von ‚Regieanweisungen‘ verbinden sich mit den paratextuellen Aussagen Hinweise, die die Bewertung der Figuren beeinflussen.“554 Obgleich Barthels Erkenntnis auf die Analyse galanter Texte beschränkt ist, kann sie auf das gesamte hier vorliegende Korpus übertragen werden. Denn tatsächlich äußern sich sowohl Bohse und Hunold als auch Wieland (mehr oder weniger) ausführlich über die Protagonistin, indem sie die wichtigsten Charaktereigenschaften benennen und die Figur an sich als vorbildlich deklarieren.

Diese erhält damit den Status eines Exempels, an dem die jeweils formulierten Intentionen demonstriert werden. Diese Beispielhaftigkeit wiederum ist ein wesentliches Element der hier angenommen Vermittlungsfunktion. Hinzu kommt, dass die Autoren/Herausgeber damit verbunden die Darstellung von Tugendhaftigkeit und einem entsprechenden Verhalten in Aussicht stellen.

554 Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 35. Barthel verweist zudem ebd. ihrem Untersuchungsziel gemäß vor allem auf gendertheoretische Perspektiven: „In der Gesamtheit der Romankomposition im Wechselspiel zwischen intradiegetischer Figurendarstellung, kommentierender Erzählerperspektive und paratextuellen Hinweisen generiert sich ein spezifisches Weiblichkeitsnarrativ, das Rückschlüsse auf allgemeinere Deutungsweisen zur Protagonistin und damit zu den Genderperspektiven im galanten Roman zulässt.“ Dass dieses Weiblichkeitsnarrativ allerdings auch über die angesprochenen Genderperspektiven hinaus fruchtbar gemacht werden kann, ist Anliegen dieser Arbeit hierzu dient die Untersuchung der auch von Barthel genannten Elemente.

126 Abgesehen von Barthels dezidiert gendertheoretisch orientierter Arbeit, ist grundsätzlich zu beobachten, dass gerade Untersuchungen der galanten Romane nicht selten auf Paratexte eingehen, um deren Vermittlungspotenzial hinsichtlich des galanten Verhaltensideals auszuloten und die Adressierung des Lesers in dieser Frage in den Blick zu nehmen. Olaf Simons etwa wählt Hunolds Verliebte und Galante Welt als Beispiel dafür, dass sich der Leser von vornherein als Bestandteil der geschilderten Welt verstehen soll: „Das Galante charakterisierte zuweilen die

‚galanten‘Helden, zuweilen die Qualität des Textes (‚in einer galanten Liebes-Geschicht‘), zumeist jedoch das Publikum: die ‚galante Welt‘, die Romane las.“555 Diese von Simons formulierte Ansicht ist ein Argument für das Identifikationspotenzial, das den Texten eingeschrieben ist und das den Leser insoweit mit einbezieht, dass er einen Bezug zu seiner eigenen Lebenswirklichkeit herstellen kann. Denn, so heißt es bei Simons weiter, als Hunold den Roman „auf den Markt brachte, signalisierte er mit der Titelformulierung, die das Publikum selbst in die Heldenrolle und zum Gegenstand des Romans machte, was soeben geschah: die Eroberung der europäischen Öffentlichkeit durch die private Welt des Publikums.“556 Wenn Simons Recht behält und das Publikum sich seiner potenziellen Integration in die fiktionale Welt der Romane bewusst war, dann ist es nicht fernliegend anzunehmen, dass die Rezipienten sich nicht nur in der Heldenrolle einer galant handelnden Figur wiederzuerkennen vermochten. Vielmehr ist dies ein starkes Argument dafür, dass sich auch die Rezipienten mit der Liebenswürdigkeit Adalies und der Treue Bellamiras, die in den Titeln angekündigt werden, und mit deren Tugendhaftigkeit und Beständigkeit, die sodann auch noch in den Vorreden betont werden, angesprochen fühlen (sollen). Aus dieser Argumentation wird bereits ersichtlich, dass die Romane somit durch die Paratexte ihren Anspruch formulieren, einem prodesse et delectare gerecht zu werden: zum einen durch die suggerierte Beispielhaftigkeit der Hauptfigur, zum anderen durch die Wahrscheinlichkeit, die durch einen Einbezug des Lesers erzeugt wird.

Grundsätzlicher, aber dennoch zielgerichtet, fragt jüngst Isabelle Stauffer in ihrer Studie Verführung zur Galanterie: „Was also wird den fiktiven Lesern galanter Texte versprochen, wozu werden sie aufgefordert, als was werden die Texte deklariert?“557 Diese Fragestellung lässt sich auf das in dieser Arbeit vorliegende Ansinnen übertragen: Was wird den Lesern im Hinblick auf etwaiges moralphilosophisches Wissen versprochen? Sollen die Texte über Tugend und Laster, über Affekte aufklären, werden sie vielleicht sogar als „Sittenlehren“ deklariert oder allgemeiner gefragt: Welche (Vermittlungs-)Funktionen, welcher Nutzen wird ihnen von den Instanzen der Produktionsseite zugeschrieben? Dabei geht Stauffer von folgender Prämisse aus: „Die Rahmenkompositionen der galanten Texte entwerfen fiktive Leser. Der fiktive Leser gehört zu

555 Olaf Simons: Zum Korpus ‚galanter‘ Romane zwischen Bohse und Schnabel, Talander und Gisander. In:

Günther Damman/ Dirk Sangmeister (Hrsg.): Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 21.

556Simons: Zum Korpus ‚galanter‘ Romane, S. 21.

557 Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 125.

127 einem Kommunikationsmodell, das der eigentümlichen, über einen schriftlichen Erzähltext hergestellten Beziehung zwischen Autor und Leser Rechnung trägt.“558 Obgleich Stauffer diese Voraussetzungen speziell in Bezug auf ihr eigenes Untersuchungsanliegen (den Nachweis einer Vermittlung von respektive Verführung zur Galanterie) formuliert, ist die hier artikulierte Annahme entscheidend, aus den Texten und ihrer „Rahmenkomposition“, entstehe ein

„Kommunikationsmodell“ zwischen Autor und Leser. Diese Vorstellung wird von der Annahme getragen, der Text sei auf den Leser und seinen Lektüreprozess ausgerichtet.

Dass in den Paratexten grundsätzlich Hinweise zur Deutung der Hauptfigur gegeben werden, trifft bei Bohse deutlich erkennbar zu, wird die Zuschrift an den „Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn/ Hn. Johann Georgen“ in ihrem Zusammenhang mit dem Titel gemeinsam als erste Informationsquelle des Rezipienten in den Blick genommen. Nicht nur die Qualitäten der Protagonistin, sondern auch die finale Motivierung stehen im Zentrum der Vergabe erster Informationen über den Text, wie bereits aus dem Titel abzuleiten: Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe: Oder Die triumphierende Beständigkeit. Die direkte Zuschreibung des Attributs „getreu“ ist die erste Information, die der Leser über die Protagonistin erhält. Dass die hier erwähnte „Liebes=Probe“ „wohlbelohnt“ sein wird, lässt schon vor Beginn der Lektüre den Schluss zu, dass Bellamira in Liebesangelegenheiten geprüft werden und dabei erfolgreich sein wird. Der Grund für den Erfolg ist die Treue, die in den Mittelpunkt des Titels gestellt wird; dem Leser wird implizit eine positive Rezeptionsweise nahegelegt, da es sich um eine positiv konnotierte Hauptfigur zu handeln scheint. Der zweite Teil des Titels personifiziert die zentrale Eigenschaft der Protagonistin, die Beständigkeit, indem diese eben triumphiert. Ein Triumph setzt eine Auseinandersetzung oder zumindest eine Herausforderung, ein Hindernis voraus. Das glückliche Ende wird im Romantitel auch mit dieser zweiten Hälfte antizipiert. Dabei ist die Beständigkeit durch das „Oder“ eindeutig auf die Heldin zu beziehen, doch durch die Personifizierung auch als allgemeingültige Eigenschaft zu werten. Insgesamt lassen sich diese Beobachtungen auf eine einfache Formel bringen: Die Beständigkeit ist es, die triumphiert und Bellamira ist vorliegend das Exempel, an dem der Triumph gezeigt wird. Die Funktionalisierung der Hauptfigur ist somit bereits vor Beginn des Textes angezeigt.

Dies wird sogleich untermauert in der Zuschrift, in der Bohse unmittelbar auf Bellamira und ihr

„ausgestandene[s] Unglück“559 abstellt. Der Leser der Zuschrift erfährt bereits im ersten Satz, dass

558Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 113. Unter „Rahmenkomposition“ versteht Stauffer „die ein- und ausleitenden Elemente eines Werks, wie Titelblatt, Dedikation, Vorrede, Ehrengedichte, Register, Anmerkungen und Nachwort“, ebd., S. 111. Stauffer untersucht gezielt die Eigenschaften, die Lesern galanter Texte in solchen Rahmenkompositionen zugedacht werden. Kategorien sind Stand, Geschlecht und Eigenschaften. Freilich geht es ihr um die Vermittlung galanten Verhaltens, ohne wie bereits gesagt und wie hier aber intendiert den Fokus auf moralphilosophische Annahmen zu legen.

559 Bohse: Bellamira. Widmung, [unpag., S. 2; die Widmung und die Vorrede sind jeweils unpaginiert und hier mit eigener Zählung versehen, die mit der jeweils ersten Seite des Paratextes beginnt und, wie auch schon analog an anderer Stelle in dieser Arbeit, in eckige Klammern gesetzt wird].

128 es Verwicklungen geben wird, denen allerdings ein glücklicher Ausgang folgt. Die finale Motivierung wird nochmals indirekt aufgegriffen, am Beginn in den Vordergrund gestellt und im zweiten Satz ergänzt durch die Information, dass es die „Treue“ ist, „so sie gegen ihren Alexander in allen widrigen Zufällen erwiesen“560. Die Frage ist demnach zu keinem Zeitpunkt der Rezeption:

„Mit wem wird Bellamira zusammenkommen?“, sondern „wie kommt sie mit Alexander zusammen?“ Der Fokus wird von Anfang an eindeutig auf die Entwicklung der Liebesbeziehung sowie den Wert der Treue und Beständigkeit gelegt.

Zuschrift und Vorrede sind (wie auch theoretische Auseinandersetzungen mit der Gattung) zudem unter dem Vorzeichen der Rechtfertigung der Form und des Themas zu lesen. Um die Wahl der Textsorte Roman – oder mit Bohse ausgedrückt „Liebes=Geschichte“561 – zu legitimieren, bedient sich der Verfasser eines Bescheidenheitsgestus gegenüber dem adressierten Fürsten und arbeitet mit der Autorität antiker Autoren. So schreibt er, der Fürst wisse sicherlich Besseres mit seiner Zeit anzufangen, als eine Liebesgeschichte zu lesen und greift damit die Bedenken gegen die gewählte Textform auf, um sie sodann zu entkräften. Denn, so der Autor, „gleichwohl ist auch bekannt/ daß in dieser Schreibart viel gutes verborgen/ und daß die Alten die Welt=Weißheit unter diese Schrifften eben so geschickt verstecket als die Aertzte die besten Mittel zur Gesundheit mit Golde überzogen […].“562Mit dem Verweis auf die „Alten“ schreibt er sich in eine Tradition ein, die bis zur Antike zurückreicht, wie durch eine Bezugnahme auf Aristoteles deutlich wird. Bohse zielt mit diesem Traditionsbezug jedoch nicht allein auf das Diktum des prodesse et delectare ab, sondern baut hierauf die Begründung für die Vermittlungsfunktion des Romans auf, wie sich im nächsten Satz zeigt: „Die Sitten=Lehre kleidet sich viel artiger mit dem Gewand der Liebe/ als mit dem philosophischen Mantel des allzu ernsthaffte[n] Aristoteles.“563 An dieser Stelle qualifiziert Bohse selbst seinen Roman wörtlich als „Sitten=Lehre“ und knüpft mit der Nennung des Philosophen Aristoteles an hierdurch abrufbares Wissen an. Bohse argumentiert dabei auf Höhe der zeitgenössischen Romanpoetologie (Huet/Happel usw.), wenn er die Stärke der gewählten Textkategorie gerade in der Einkleidung in das „Gewand der Liebe“ sieht, das vice versa eine Abkehr von bloßen Lehrsätzen bedeutet. Verstärkt wird diese Bezugnahme in thematischer Hinsicht durch die Krankheitsanalogie, die erst vor dem Hintergrund des vermittelten Inhalts, in dem Figuren an der Gemütskrankheit darniederliegen und auf ihrem Weg der Genesung durch Affektkontrolle gezeigt werden, an Bedeutung gewinnt.

Stauffer indes mahnt grundsätzlich, das Aufgreifen des „Topos der Sittenlehre, […] insofern mit Vorsicht zu genießen, da dies nur ein Vorwand für die Darstellung des Lasters sein könnte.“564

560 Bohse: Bellamira. Widmung, [S. 2].

561 Bohse: Bellamira. Widmung, [S. 3].

562 Bohse: Bellamira. Widmung, [S.3f.].

563 Bohse: Bellamira. Widmung, [S. 4].

564 Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 140. Stauffer verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass diese Klassifizierung keine Neuheit ist, sondern bereits im höfisch-historischen Roman zu finden ist:

129 Inwieweit diese Ansicht in Bezug auf andere Texte der Gattung haltbar ist, kann vorliegend nicht entschieden werden – allerdings trifft der Einwand genau den Kern der vorliegenden Untersuchung, die ja gerade versucht, die Romane als Sittenlehren lesbar zu machen. So ist hier zunächst festzuhalten, dass Bohse mit der Qualifizierung seines Textes als „Sitten=Lehre“ auf bestimmte Erwartungen rekurriert und bei seinen Lesern womöglich bestehendes moralphilosophisches Vorwissen abruft oder zumindest die Erwartung auf den Erwerb eines solchen Wissens schürt. Dass es ihm nicht allein um die Darstellung von Lastern bestellt ist, wird nicht nur durch den Hinweis auf die dem Zuschriftsadressaten zugedachte Fähigkeit, Tugend und Laster unterscheiden zu können, erkennbar, sondern auch durch die prominente Stelle des Werts der Treue. Einen fundierten und differenzierten Nachweis dafür, dass Bohse seinen Text zurecht und nicht nur pro forma als „Sitten=Lehre“ bezeichnet, werden die Einzelanalysen erbringen. An dieser Stelle wird die Klassifizierung als „Sittenlehre“ als Rezeptionshinweis für den Leser gedeutet, der sein Augenmerk dementsprechend auf die Schilderung der Affekte und den Umgang der Figuren mit ihnen richten soll.

Die Vorrede an „den wohlgesinnten Leser“ schließt sich sogleich an die Widmung an und führt den bereits artikulierten Gedanken fort, fiktionale Literatur könne durch die von ihm beabsichtigte „Gemüths=Ergötzlichkeit“ eine Belehrungsfunktion erfüllen: „Darum lassen sich gute Lehren so wohl unter Liebes=Gedichten und Schertzen beybringen/ als durch eitel ernsthaffte Gesetze“565. Diese Grundeinstellung bekräftigt Bohse mit einem Lohenstein-Zitat aus einer „Zuschrifft an den Freyherrn von Nesselrode“, das mit Folgendem schließt: „Wer Schertz und Ernst vermischt/ und mit der Klugheit spielt/ hat offtmahls zu erst den rechten Zweck erzielt.“566 Der dritte Paratext greift im Hinblick auf das Rechtfertigungsbedürfnis das Argument der Zuschrift auf und pointiert durch diese Wiederholung die inhaltliche Aussage. Die beiden Paratexte (Zuschrift und Vorrede) stellen auf das prodesse et delectare ab, um die Wahl der Form vor dem Hintergrund des zeitgenössisch noch rechtfertigungsbedürftigen Genres zu begründen und sind in dieser Hinsicht mit dem thematischen Aspekt verknüpft: Gerade die Darstellung von Laster und Tugend in Form einer Liebesgeschichte gewährleiste, dass der Rezipient die Unterscheidbarkeit erlernen könne – damit bewegt sich Bohse auf dem Level der zeitgenössischen poetologischen Diskussion über den Roman als Gattung. Wichtiger, als diese Parallele zu erkennen, ist vorliegend allerdings das aus der Betrachtung dieser beiden Paratexte zu ziehende Ergebnis, der Roman als Sittenlehre leiste die Vermittlung des philosophischen Gedankenguts besser als ein theoretischer Text. Elementar für die angenommene Vermittlungsfunktion ist, dass

„Entsprechend kommt die Rechtfertigung des Romans als Sittenlehre auch schon in den höfisch -historischen Romanen vor, wie beispielsweise in der von Stubenberg übersetzten Eromena (1650).“ Ebd., S. 137.

565 Bohse: Bellamira. Vorrede, [S. 4].

566 Bohse: Bellamira. Vorrede, [S. 4].

130 der Leser des Romans, dem eine „zunehmende Urteilskompetenz“567 zuzusprechen ist, im Vorfeld einen Hinweis darauf erhält, wovon der Roman handeln wird und warum dies in Form einer Liebesgeschichte geleistet wird – dies spricht dafür, dass es sich vorliegend um einen Rezeptionshinweis handelt.

Weniger aussagekräftig erweist sich Hunolds Vorrede, die allerdings ebenfalls zumindest kurz auf die Eigenschaften der Protagonistin verweist und eine Begründung für die Darstellung des Lasters bereithält. Auch aus seinem Titel wird bereits ersichtlich, dass es sich um die „Liebes=Geschichte“

einer als „liebens=würdig[]“ bezeichneten Frau handelt, die dazu gedacht ist, dem Rezipienten zu

„vergönneter Gemüths=Ergötzung“ zu dienen. In der Vorrede werden diese Informationen konkretisiert:

Denn diese schöne/ welche durch die schätzbaresten Eigenschafften sich die gröste Ehrerbietung erworben/ ist so seltsamen und verwirrten Veränderungen ihres Liebes=Verhängnisses unterworffen gewesen/ daß sie mir die Hoffnung machet/

manchen in ihren desto merckwürdigeren Begebenheiten/ weil sie wahrhafftig/

durch Aufmerksamkeit und Lust unterdessen die Zeit zu kürtzen.568

Die Verwendung des Perfekts (sie hat sich bereits „gröste Ehrerbietung erworben“) deutet darauf hin, dass auch sie die erwähnten „seltsamen und verwirrten Veränderungen ihres Liebes=Verhängnisses“ bereits überstanden hat, so dass ein glückliches Ende zumindest als denkbar suggeriert wird. Adalie hat es also geschafft, die Hindernisse zu überwinden – wie genau, das bleibt hier noch offen und wird eben durch den Erzähltext eingelöst. Die finale Motivierung wird jedoch wie auch bei Bohse bereits vor der eigentlichen Romanlektüre erkennbar. Adalie wird hier insgesamt durch ihre explizite Erwähnung in Titel und Vorwort wie auch die anderen Protagonistinnen ins Zentrum gerückt und vorab als Beispiel etabliert. Verbunden wird diese kurze Beschreibung mit dem Hinweis auf die Vergnüglichkeit der Lektüre, geknüpft an den Hinweis auf die Wahrhaftigkeit der Geschichte, die dem Leser – wie im Kapitel zur Romanpoetologie gesehen – die Wahrscheinlichkeit des Geschilderten suggerieren soll.

Einer Begründung bedarf hingegen allerdings auch hier die Tatsache, dass innerhalb der Liebesgeschichte auch die Darstellung von Tugend und Laster erfolgt. Dabei bedient sich Hunold einer – heute ethisch fragwürdigen und eindeutig abzulehnenden sowie zu verurteilenden – Metapher: „[U]nd wenn hier einige Laster mit vorgestellet werden/ so setzet man sie denen Tugenden wie die schwartzen Africaner dene[n] schöne[n] Europäerinne[n] an die Seite/ damit sie deren Glantz durch ihre heßliche Gestalt vollkommener machen.“569 Die Tugend benötigt

567Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 147. Diese Urteilskompetenz erkenne man u.a. daran, „dass bei Bohse der ‚verständige Leser‘ als selbst fähig angesehen wird, den Unterschied zwischen ‚Schand -Bücher[n]‘ und ‚Romanen‘ zu machen.“ Siehe generell zur Beschreibung des Lesers galanter Romane und der Anforderungen an seinen Lektüreprozess Stauffers Kapitel „Der galante Leser als freier und selbstständiger Leser“, in: Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 145 148.

568 Hunold: Adalie. Vorrede, [S. 2].

569 Hunold: Adalie. Vorrede, [S. 4].

131 demnach einen Kontrast, um ihre volle Wirksamkeit zeigen zu können570. Der Leser wird auch bei Hunold darauf vorbereitet, dass er mit der Darstellung ablehnungswürdiger Verhaltensweisen oder Charakterzüge konfrontiert werden wird. Allerdings setzt dieser Hinweis auf die notwendige Kontrastierung auch voraus, dass der Leser Laster und Tugend voneinander zu unterscheiden wissen wird. Anders als bei Bohse wird eine Belehrungsabsicht, die auf die Aufklärung über die Beschaffenheit bestimmter Affekte zielt, nicht explizit herausgestellt. Vielmehr bleibt es bei einer

131 demnach einen Kontrast, um ihre volle Wirksamkeit zeigen zu können570. Der Leser wird auch bei Hunold darauf vorbereitet, dass er mit der Darstellung ablehnungswürdiger Verhaltensweisen oder Charakterzüge konfrontiert werden wird. Allerdings setzt dieser Hinweis auf die notwendige Kontrastierung auch voraus, dass der Leser Laster und Tugend voneinander zu unterscheiden wissen wird. Anders als bei Bohse wird eine Belehrungsabsicht, die auf die Aufklärung über die Beschaffenheit bestimmter Affekte zielt, nicht explizit herausgestellt. Vielmehr bleibt es bei einer

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