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Gellerts Schwedische Gräfin: Distanzierte Autodiegese

III VORBEMERKUNGEN ZUR ANALYSE

2. Die Erzählsituation: Vermittlungsstrategien in den Romanexten

2.3 Die empfindsamen Romane

2.3.2 Gellerts Schwedische Gräfin: Distanzierte Autodiegese

Peter Rau hält in seiner umfangreichen Monographie zum Roman im 18. Jahrhundert fest:

„Gellerts ‚Schwedische Gräfin‘ […] ist selbsterzählte Subjektivität, die sich durch gesellige Züge definiert und sich in der Reflexion über Affektivität und Moral auf Geselligkeit hin entwirft.“658 Mit dieser Aussage artikuliert er eine treffende Erkenntnis, denn die Ich-Erzählerin präsentiert der Leserschaft mit der Beschreibung ihres eigenen Lebens in der Tat „selbsterzählte Subjektivität“.

Es ist der einzige Roman des Korpus, der ausschließlich autodiegetisch erzählt wird und keine übergeordnete Instanz besitzt, die allein aus einer Beobachterperspektive berichtet. Schon allein aus dieser Feststellung ließe sich schließen, es handele sich um „Abbildungen der Wahrheit“

(Happel), um eine Geschichte, die wahrscheinlich so passiert sein könnte, so dass der Leser sie auf seine eigene Lebenswirklichkeit beziehen kann. Allerdings – und dies ist zentral für die nachzuweisende Vermittlungsfunktion des Romans im Hinblick auf Bezüge zur Sittenlehre – geschieht dies nicht zwangsläufig in einem dramatischen Modus. Stattdessen arbeitet der Roman an entscheidenden Stellen nicht mit umfangreichen Artikulationen und Reflexionen über eigene Gefühle, sondern mit der retrospektiven Sicht einer Gräfin, die von einem durch Erfahrung gekennzeichneten Standpunkt auf die Ereignisse in ihrem Leben zurückblickt. Nicht selten verwendet sie dabei einen nüchternen Ton, denn „[b]esonders im ersten Teil findet sich kaum ein

657 Die Offenbarung des Wissens über die Pläne Derbys führt auch Volker Dörr explizit auf den dem Briefroman inhärenten Überblick zurück und konstatiert: „Gegenüber der Protagonistin des Romans hat dessen Leser einen entscheidenden Vorteil. Dieser verdankt sich der Tatsache, daß der für den Briefroman konstitutive Grundsatz, ‚alles sagen‘ zu müssen, auch für den Verführer gilt: […] – das fordert die Textsorten-Taxonomie in fast höherem Maße als die bürgerliche Moral. Diesem Grundsatz folgend lüftet auch der Bösewicht die Maske seiner Laster für niemanden sichtbar als für seine Leser, innerhalb wie außerhalb des Textes.“ Dörr: „… bey einer guten Handlung böse Grundsätze zu argwohnen!“, S. 68.

658 Rau: Speculum amoris, S. 518f.

157 Versuch authentischer Introspektion, alle Briefe sind wohlkomponiert und unterdrücken authentische Empfindung: sie sind exemplarisch, nicht individuell, erschließen ihr inneres Erleben eher oberflächlich.“659

Dieser Eindruck entsteht bereits durch die ersten Sätze des Romans, in denen die Gräfin auch ihre Rolle als Erzählerin reflektiert:

Vielleicht würde ich bei der Erzählung meines Geschlechts ebenso beredt oder geschwätzig als andre sein, wenn ich anders viel zu sagen wüßte. Meine Eltern sind mir in den zartesten Jahren gestorben, und ich habe von meinem Vater, einem Livländischen von Adel, weiter nichts erzählen hören, als daß er ein rechtschaffener Mann gewesen ist und wenig Mittel besessen hat.660

Die Gräfin macht hier bereits deutlich, dass sie sich nicht als jemand versteht, der „geschwätzig“

ist, was durch den lediglich kurzen Hinweis auf ihre Eltern und deren Tod zunächst bestätigt wird.

Der Leser bekommt es mit einer Frau zu tun, die auf ihr Leben zurückblickt und ihre Erlebnisse und Emotionen bereits verarbeitet und bewertet hat. Ein Erzählanlass oder etwa ein Adressatenkreis werden nicht benannt, die Erzählsituation bleibt mithin recht abstrakt. Der Anschein von Vertrautheit entsteht dennoch auch in diesem Text, denn die Erzählerin gibt grundsätzlich einen Einblick in ihr ‚Privatleben‘ und ihre Ansichten661. Dabei ruft sie den Rezipienten die Erzählsituation an einigen Stellen des Textes in Erinnerung, spricht sie somit direkt an und schafft ebenfalls eine Art exklusive Kommunikationssituation, dieser soll sich demnach „angesprochen fühlen“662. Dass es ihr als Erzählerin ihrer eigenen Geschichte vor allem auf die Beschaffenheit ihres Gemüts ankommt, wird bereits in Bezug auf die Beschreibung ihrer Erziehung zu Romanbeginn ersichtlich:

Mit einem Worte, mein Vetter lehrte mich nicht die Weisheit, mit der wir in Gesellschaften prahlen, oder, wenn es hochkommt, unsere Ehrbegierde einige Zeit zu stillen, sondern die von dem Verstande in das Herz dringt und uns gesittet, liebreich, großmütig und im stillen ruhig macht. […] Es wird am besten sein, wenn ich mich weder lobe noch tadle und es auf die Gerechtigkeit der Leser ankommen lasse, was sie sich aus meiner Geschichte für einen Begriff aus meiner Gemütsart machen wollen.663

659 Kramer: Poetik der Ausgrenzung, S. 40.

660 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 9.

661 Eine Unmittelbarkeit und einen Authentizitätsanspruch des Romanbeginns sieht auch Singh: Christian Fürchtegott Gellert und die Empfindsamkeit, S. 38: „Zudem zeigt sich die Unmittelbarkeit des Romananfangs der durch die Ich-Form die Vermutung nahe legt, die Erzählerin sei mit der schwedischen Gräfin von G*** identisch der für den Roman in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakteristische Versuch, durch den Verweis auf den Realitätscharakter sich möglichst deutlich von der Tradition des barocken Romans abzugrenzen und auf diese Weise dem immer noch verbreiteten Vorwurf der Romanhaftigkeit zu begegnen.“

662 Darauf verweist auch schon Meyer-Krentler: „Sentenzhafte Beobachtungen, die in die erzählenden Partien eingeschoben sind, greifen, wie bereits dargelegt, mögliche Bedenken des Lesers auf. Damit wird dieser nicht im Zweifel darüber gelassen, daß er das Ganze nicht unbeteiligt lesen kann, sondern sich angesprochen fühlen soll daß also die Geschichte seinetwegen erzählt wird.“ Meyer-Krentler: Der andere Roman, S. 31.

663 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 10.

158 Die Gräfin zählt einige Eigenschaften auf, die sie einander gegenüberstellt, wobei sie unter anderem die „Ehrbegierde“, also den Ehrgeiz nennt, der auch bei Thomasius als einer der Hauptaffekte zählt. Am Ende steht die Weisheit, die „im stillen ruhig macht“ – es geht also auch der Gräfin letztlich um eine Gemütsruhe, die hier im Resümee über ihre Erziehung an letzter und somit pointierter Stelle steht. Sie spricht die Leser zwar (noch) nicht direkt an, nimmt aber deutlich Bezug auf sie, so dass der Rezipient sich selbst seiner Rolle bewusst wird, die von der Erzählerin mit einer Urteilsfunktion verknüpft wird. Die Behauptung, das eigene Verhalten nicht bewerten zu wollen, sondern solches dem Leser zu überlassen, ist inhaltlich auf ihre Gemütsart bezogen. Es handelt sich um einen Rezeptionshinweis: Das Augenmerk der Lektüre wird im Vorfeld auf die Beschaffenheit ihres Gemüts gelenkt, über das sich die Rezipierenden eben ein Bild machen sollen.

Vor diesem Hintergrund ist nun die Tatsache bemerkenswert, dass die Gräfin – wie bereits am Romanbeginn – gerade in Bezug auf die Schilderung ihrer Gefühle und Affekte einen eher distanzierten Duktus verwendet. Ein zentrales Beispiel ist etwa die Beschreibung ihrer Reaktion auf die Nachricht vom Tod ihres Mannes, die gerade einen Ausbruch der Affekte erwarten lassen würde:

Meinen Schmerz über die Nachricht kann ich nicht beschreiben. Die Sprachen sind nie ärmer, als wenn man die gewaltsamen Leidenschaften der Liebe und des Schmerzes ausdrücken will. Ich habe alles gesagt, wenn ich gestehe, daß ich etliche Tage ganz betäubt gewesen bin. Alle Trostgründe der Religion und der Vernunft waren bei meiner Empfindung ungültig, und sie vermehrten nur meine Wehmut, weil ich sah, daß sie solche nicht besänftigen konnten.664

Im narrativen Modus, der bedingt ist durch eine zeitliche Distanz zum Erzählten, zeigt sich die Erzählerin an dieser Textstelle gerade nicht impulsiv und durch ihre Gefühle beherrscht, sondern besonnen und klar. Zwar sagt sie selbst, sie könne den „Schmerz über die Nachricht nicht beschreiben“, und deutet damit eine Sprachlosigkeit („die Sprachen sind nie ärmer“) an, doch zeigt sie sich im Folgenden gerade nicht sprachlos: Betäubt und wehmütig sei sie aufgrund der Botschaft gewesen. Während diese Zustände in den anderen Texten über einen Wechsel in den dramatischen Modus, durch die Figurenrede der Protagonistin vermittelt werden, beschreibt die Gräfin diese hier in einem nüchternen Ton. Gerade diese Technik aber kann als Vermittlungsstrategie hinsichtlich des Umgangs mit den eigenen Affekten gedeutet werden. So könne Gellerts „Unsagbarkeitstopos“665als „erzähltechnische Maßnahme“ gelesen werden, denn

sie trägt appellativen Charakter, indem nämlich der Leser bei seiner – selbstverständlich vorausgesetzten – Empfindsamkeit gepackt, durch das Aussparen einer genauen Schilderung affektgeladener Situationen zu einer tätigen eigenen Ergänzung aufgefordert und so aus einer passiven Anonymität herausgelockt wird.666

664 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 25.

665 Allerdissen: Der empfindsame Roman, S. 188.

666 Allerdissen: Der empfindsame Roman, S. 188. Eine ähnliche Argumentation liefert auch Sikander Singh:

Das Glück ist eine Allegorie, S. 144, der ein anderes Beispiel zur Veranschaulichung wählt. Ihm geht es um

159 Das Augenmerk der Rezipienten wird gerade auf die Auslassung der Affektausbrüche, auf die konkrete Ausgestaltung der Gemütsunruhe gelenkt. Er wird dazu angehalten, eben diese emotionalen Momente in seiner Vorstellung zu ergänzen. Durch den zeitlichen Abstand und den von Erfahrung geprägten Standpunkt der Erzählerin wird die Betonung indirekt auf die Kontrolle gelegt – die Erzählsituation impliziert das Wissen des Lesers, dass die nunmehr älter gewordene Frau diesen Zustand überwunden hat. Obgleich sich also Gellerts Roman in diesem Aspekt deutlich von der Erzählweise der anderen Romane unterscheidet, wird einer Vermittlungsfunktion im Hinblick auf die Beschaffenheit der menschlichen Affekte und den Umgang mit ihnen Rechnung getragen. Durch die Mittelbarkeit in der Erzählung bedient der Text das selbe Paradigma der Gemütsunruhe wie die anderen drei Romane: Gerade die Retrospektive der ihr Leben überblickenden Gräfin und die Distanz zum Vergangenen bringen Erfahrung und genaue Kenntnis bezüglich der Einordnung der eigenen Affekte zum Ausdruck. Die Gräfin kann im Rückblick ihre Gefühle mit Abstand nicht nur benennen und klassifizieren, sondern bringt hiermit wie auch die anderen Figuren eine Naturgesetzlichkeit zum Ausdruck, die sich auf eine einfache Formel bringen lässt: Widerfährt einem Menschen ein Unglück, bewirken Schmerz und Leidenschaft (als Handlungssubjekte) Betäubung und Wehmut im Menschen. In der Rückschau, in der sie den Vorfall und ihre Reaktion benennen und einordnen kann, wird deutlich, dass die Gräfin den affektvollen Zustand überwunden hat, und das signalisiert dem Rezipienten damit implizit die grundsätzliche Möglichkeit der Korrektur des sich den Affekten ergebenden Zustands – ebenso wie es als Ergebnis in der Sittenlehre nachzulesen ist.

Die beschriebene distanzierte und resümierende Erzählhaltung ist die vorherrschende in der Autodiegese des Romans. Die Gräfin legt fast ausschließlich einen reflektierenden und bewertenden Erzählduktus an den Tag, Emotionen werden zwar benannt, aber zumeist nicht unmittelbar demonstriert. Die Momente des Kontrollverlustes werden anderen Figuren zugeschrieben wie etwa Mariane und Carlson. So stellt etwa auch Michael Titzmann in Bezugnahme auf die Schwedische Gräfin fest: „Die Konzeption von ‚Gefühl‘ als ‚Empfindung‘ ist einer Domestizierung des Gefühls äquivalent, dessen gefährliches Potential zwar einbezogen, aber damit es kontrolliert und beherrschbar bleibt, in mehrfacher Hinsicht begrenzt wird [Herv. im Original]“667. Die hier angesprochene Begrenzung des Gefühls zum Zwecke der Kontrollierbarkeit

das Wiedersehen zwischen dem Grafen und Steeley: „Die Anrede, welche die erinnerten Gefühle des glücklichen Ausgangs dem Leser unmittelbar überantwortet, verzichtet auf die Wiedergabe von Gefühlsnuancen ebenso wie auf detaillierte Darstellung der beteiligten Personen und beschränkt sich darauf, in diesem die in der Situation durchlebten Gefühle hervorzurufen.“ Singh spricht ebd. von einem

„Modus des Erzählens“. Siehe ebenfalls Singh: Christian Fürchtegott Gellert und die Empfindsamkeit, S. 40.

667 Michael Titzmann: ‚Empfindung‘ und ‚Leidenschaft‘: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität/ Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Ders.:

Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Hrsg. v. Wolfgang Lukas/

Claus-Michael Ort. Berlin, Boston 2012, S. 343. Titzmann befasst sich mit der Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl, mit der das Literatursystem ‚Empfindsamkeit‘ umzugehen hat und stellt in diesem Zusammenhang aufgrund seiner Ausführungen folgerichtig fest: „Die Moralisierung des Gefühls als

160 wird gewährleistet durch den zeitlichen Abstand der Erzählerin zu ihren erlebten Gefühlen – dennoch werden diese Gefühle erzählt und nicht etwa gänzlich ausgeblendet, oder „ausgegrenzt“, wie Kramer in seinem Beitrag Poetik der Ausgrenzung postuliert. Die Abgrenzung zu solchen bei Thomasius als „außerordentlich“ bezeichneten Zuständen wird vielmehr stets unterschwellig mittransportiert.

Dieser Eindruck wird verstärkt durch das Erzähltempo, in dem die Erzählerin die Ereignisse präsentiert. Grundsätzlich kann zunächst festgehalten werden: Die glücklichen Zeiten, die die Gräfin in Gemütsruhe verbringt, werden vor allem raffend erzählt – so zum Beispiel das jeweilige Eheleben mit den beiden Gatten, da – Werber folgend – kein erzählbares Ereignis vorliegt668. Es gibt Ellipsen, die mehrere Jahre umfassen, wie etwa die Beschreibung des Zusammenlebens mit dem Grafen deutlich macht: „Wir lebten noch einige Jahre in der größten Zufriedenheit auf unserm Landgute. Endlich erhielt mein Gemahl Befehl, am Hofe zu erscheinen, und ich folgte ihm.“669 Während der Zustand der Zufriedenheit keine weitere Beschreibung erfährt, berichtet die Gräfin von der folgenden Zeit am Hof ausführlicher. Dies ist nicht zuletzt durch die Verortung des Ereignisses im Syntagma zu erklären: Hier findet durch die Bedrängung des Prinzen S. die erste Bewährung der Gräfin statt: Sie weicht den Avancen aus und beherrscht ihre Affekte trotz der Nachricht über den Tod des Grafen. Insgesamt betrachtet, erzählt die Gräfin vor allem diejenigen Momente, die ein bestimmtes, durch die Kontrolle über die Affekte geleitetes Verhalten erfordern, wie etwa die Inzest-Episode oder auch die Wiederkehr ihres Ehemanns und die daraus resultierende Dreiecks- bzw. Viereckskonstellation mit R. und Karoline.

Für die Vermittlungsfunktion ist zudem die Tatsache von Belang, dass die Gräfin nicht die einzige Erzählinstanz des Romans ist. Auch andere Figuren kommen in längeren Einschüben zu Wort.

Dies sind vor allem der Graf, der die Geschichte seiner Abwesenheit mittels zweier Briefe erzählt, und Amalie, die im Kreis des empfindsamen Verbundes im Hause des Grafenpaars von ihrer

Voraussetzung seiner Positivität im LS ‚E‘ [Literatursystem ‚Empfindsamkeit‘, S.Z.] manifestiert sich als Forderung zumindest virtueller Verzichtsbereitschaft: Vom Subjekt wird implizit nicht nur das Ertragen von Wertverlusten (Besitz, Lebenspartner), sondern auch die Abtretung von Werten zugunsten des Anderen (Verzicht auf Besitz, Liebespartner usw.) verlangt; die Figuren mit negativ bewerteten Gefühlen sind wiederum zugleich die nicht-Verzichtbereiten die Schurken und Verführer in diesem LS.“ Ebd., S. 344f. Für die vorliegenden Romane Gellerts und La Roches kann diese Beobachtung bestätigt werden. Das empfindsame Subjekt charakterisiert sich selbst über die Bereitschaft, zu verzichten, wie bspw. an Herrn R.

(Gellert) oder Lord Rich (La Roche) abzulesen, und leistet damit zugleich einen Beitrag zur Umsetzung einer wesentlichen Annahme aus der Sittenlehre, wie im Kapitel zur Annäherung erläutert werden wird (Teil IV, Kap. 1.4).

668 Auf das Eheleben, das die Gräfin mit ihrem ersten Gatten vor allem mit gemeinsamer Lektüre verbringt, bezieht sich auch Werber in seiner Untersuchung und deutet dies als Anzeichen dafür, dass hier kein erzählbares Ereignis vorliege, Werber: Liebe als Roman, S. 322f.: „Dies [die Lektüre, S.Z.] vermag dem Paar Unterhaltung zu verschaffen, nicht aber dem Leser, der an diesem ‚Vergnügen‘ der Lektüre selbst ja nicht teilhat, denn Gellert verzichtet genauso darauf, aus den Quellen der Unterhaltung zu zitieren, wie er die in der Sprache der Herzen geführten Dialoge unterschlägt. Die Narration selbst ist gefordert, und da innerhalb der Ehedyade selbst nichts mehr passiert“ seien Katastrophen und Tod die zu erzählenden Ereignisse. Diese Erkenntnis ist grds. zu stützen.

669 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 22.

161 Liebesbeziehung zu Steeley erzählt. Es handelt sich dabei jeweils um intradiegetische Einschübe, die innerhalb des Erzählverlaufs plausibel eingebettet werden. Gerade die autodiegetische Erzählung Amalies ist für die Analyse und den Nachweis der Vermittlung einer Sittenlehre besonders interessant, denn sie schildert (anders als die Gräfin) die Annäherung zwischen ihr und Steeley sehr detailliert und anschaulich.

Im Hinblick auf Unmittelbarkeit und Nachvollziehbarkeit des Geschilderten für den Leser ist die Erzählsituation jedoch noch nicht abschließend erfasst, werden die eingeschobenen Briefe nicht berücksichtigt. Die Briefe an sich werden in der Forschung mit Blick auf die Evokation von Unmittelbarkeit unterschiedlich bewertet670. Benedikt Jeßing fasst pointiert zusammen:

Zunächst suggerieren diese scheinbar echten Dokumente Authentizität […]. Darüber hinaus gewährleisten die Briefe aber gesteigerte Unmittelbarkeit in der Darstellung, ermöglichen stärkere Einfühlung und Identifikation des Lesers sowie Perspektivenwechsel und Relativierung einzelner Aussagen der Figuren oder auch der Erzählerin. In Gellerts Briefen wird ein Tugend- und Stilideal etabliert: Die Briefe zeigen gemilderte, vernunftbeherrschte Affekte – passenderweise, da (hier) der Brief immer aus der Rückschau, der zeitlichen Distanz geschrieben wird.671

Neben der Frage nach der Unmittelbarkeit des Figurenausdrucks ist die Frage nach der Funktion der Briefe in der Gesamtkomposition des Romans vor allem im Hinblick auf den Perspektivenwechsel relevant. Die Briefe stammen jeweils von anderen Figuren – drei Mal kommt der Graf in direkter zitierter Figurenrede zu Wort, ein Mal ist es Karoline. Allerdings liegt bei Gellert eine gänzlich anders geartete Situation vor als später im polyperspektivischen Briefroman La Roches: Während die ersten Briefe vor allem kurze Einschübe darstellen (der Antrag des Grafen an die Protagonistin und ein Brief Karolines, in dem sie jegliche Liebesansprüche auf ihn abgibt), erzählen die längeren Schreiben zu Beginn des zweiten Romanteils vom Schicksal des gefangenen Grafen. Zwar handelt es sich bei Letzteren ebenfalls um Schilderungen über den Umgang mit den Affekten in schwierigen Situationen, doch sind diese nicht unmittelbar mit der Frage nach der Liebesbeziehung zweier tugendliebender Gemüter verknüpft. Es geht in dieser Analepse eben nicht um die Bewährung der Heldin oder ihre Liebesbeziehung zum Grafen, wie etwa in La Roches Roman, sondern um die Erlebnisse des Grafen. Die Briefe werden aus diesen Gründen für die Untersuchung nicht oder nur bedingt von Relevanz sein.

670 Für die Erzeugung von Unmittelbarkeit spricht sich etwa Volker Meid aus: Von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung, S. 112: „Aber wenn auch die Ich-Erzählerin von ihrem Leben aus einem großen zeitlichen Abstand berichtet, so verfügt sie bzw. der Autor doch über die Mittel, die Distanz aufzuheben: Die Ich-Erzählung dient nicht zuletzt als Rahmen, in den dann in großem Umfang Briefe, Dokumente und wörtlich wiedergegebene Erlebnisberichte eingefügt sind, um durch ihre Unmittelbarkeit die emotionale Wirkung auf die Leserin bzw. den Leser zu verstärken.“ Ähnlich auch schon Rau: Speculum amoris, S. 522: „In Gellerts Roman haben die eingelegten Briefe wie es der als Brieftheorie gegebenen Poetik des Romanciers entspricht die Funktion, die den ganzen Roman prägende Einheit von Intimität und geselligem Bezug konzentriert vorzuführen. Anders sieht es etwa Sengle: Aufklärung und Rokoko in der deutschen Literatur, S. 150: „[D]enn die Briefe haben keine unmittelbare, wie immer fingierte Echtheit, sie sind umfängliche Berichte, also Romane im Kleinen.“

671 Jeßing: Kleine Geschichte des deutschen Romans, S. 51.

162 Vorliegend sollen sie allein in Bezugnahme auf den Gesamtverlauf der Handlung und die grundsätzliche Erzählhaltung, die zwischen Distanz und Einfühlung variiert, in den Blick genommen werden. Eben diesem Zusammenhang hat sich auch Singh gewidmet und eine

„grundlegende[] Dialektik“672 in Bezug auf das Verhältnis zum Leser und etwaige Aussageabsichten des Textes gesehen:

Der stete Perspektivenwechsel, der durch die Zusammenstellung von Passagen entsteht, die in der ersten Person erzählt werden und solchen, die sich aus den eingeschobenen Briefen erschließen, bedingt, daß ein Leser zwischen anteilnehmender Rührung und distanzierter Reflexion im Sinne des aufklärerischen

Der stete Perspektivenwechsel, der durch die Zusammenstellung von Passagen entsteht, die in der ersten Person erzählt werden und solchen, die sich aus den eingeschobenen Briefen erschließen, bedingt, daß ein Leser zwischen anteilnehmender Rührung und distanzierter Reflexion im Sinne des aufklärerischen

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