• Keine Ergebnisse gefunden

Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman (1774)

II THEORETISCHE GRUNDLAGEN

4. Gattungsfragen 1 Der galante Roman 1 Der galante Roman

4.3 Zeitgenössische Funktionszuschreibungen

4.3.3 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman (1774)

Friedrich von Blanckenburg legt 1774 mit seinem Versuch über den Roman nicht nur die erste umfangreiche Poetologie des deutschen Romans vor, sondern „fasst […] die ‚alten‘ Denklinien noch einmal zusammen, um sie einer Synthese zuzuführen.“516 In dieser Hinsicht nimmt auch bei Blanckenburg die Deskription der Leistungsfähigkeit des prodesse et delectare eine zentrale Stellung in der Argumentation ein: Die Belustigung dient der Belehrung des Lesers.

Der Text ist in zwei große Abschnitte unterteilt517, im ersten Teil verhandelt Blanckenburg die Frage nach den Gegenständen des Romans, im zweiten Teil geht es um die „Anordnung und Ausbildung der Theile und d[as] Ganze[] des Romans“. Bevor er jedoch seine Ausführungen beginnt, greift er in einem Vorbericht zeitgenössisch gängige Ansichten über den Roman auf, die er als Ausgangspunkt für seine eigenen Bemerkungen nimmt518. So mutmaßt er zunächst, dass

„man es nicht der Mühe werth gehalten [habe], über eine Gattung von Schriften viel

515 Steigerwald: Galanterie, S. 349.

516 Seeber: Diesseits der Epochenschwelle, S. 27.

517 Einen guten Überblick über die einzelnen, sich oftmals wiederholenden Inhalte der Kapitel bietet die mit einem Nachwort versehene und kommentierte Ausgabe von Eberhard Lämmert, Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Faksimiledruck von 1774. Stuttgart 1965. Als „oft umständlich und weitschweifig“ beschreibt Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser, S. 211, die „Vorgehensweise“ Blanckenburgs. Dabei verweisen sowohl Lämmert (S. 546) als auch Schlimmer jeweils auf die Wiederholungen, die den Text bisweilen kennzeichnen.

518 Den Anspruch, der an seine poetologische Schrift zu stellen ist, formuliert Blanckenburg in seinem Vorbericht selbst: „Ich bin nicht Willens, – und auch nicht fähig, eine vollständige Theorie für eine Gattung von Schriften zu schreiben, die so mancherley Gestalt annehmen können; aber ich halte Bemerkungen über diese Dichtungsart, aus den angeführten Gründen, für sehr nothwenig.“ In: Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. IV.

117 nachzudenken, die nur für die Unterhaltung der Menge geschrieben ist“519. Die Vermutung drückt die Auffassung von einer Minderwertigkeit aus, wie sie bereits in den vorangegangenen poetologischen Reflexionen der Jahrhundertwende eine Rolle spielte: Der Roman sei reines Vergnügen und deswegen von minderer Bedeutung.

Wie die Theoretiker der Jahrhundertwende schreibt Blanckenburg gegen den schlechten Ruf des Romans an, indem er im zweiten großen Abschnitt konkret beschreibt, wie der Roman mithilfe des Vergnügens den Leser unterrichten könne. Dabei lehnt er direkte moralische Diskurse und Kommentare ab und fordert vielmehr, dass der Autor dem Rezipienten ein eigenes Lernen ermögliche durch die dargestellten Personen und Begebenheiten in ihrem Erzählzusammenhang.

Denn grundsätzlich könne sich der Mensch eher an gelesene Begebenheiten als an Reflexionen erinnern,

weil wir bey jenen einen Faden haben, an den wir uns halten; so ist weit mehr Wahrscheinlichkeit für den Nutzen, den eine anschauende Verbindung von Wirkung und Ursache hat, aus der wir sehen, wie die Begebenheit aus der in einer Person entstandenen, und durch eine gewisse Person oder Begebenheit gewirkten Empfindung und Vorstellung erfolgt ist – als für den Nutzen, den die bloße Bemerkung oder Erzehlung der Sache, vergraben oder verschüttet unter hundert Auswüchsen haben kann.520

Die fiktionale Darstellung mache den Zusammenhang von Ursache und Wirkung anschaulich. Das Mitverfolgen der Entstehung einer Begebenheit und der damit verbundenen Empfindung und Vorstellung sei nach dieser Logik effizienter als das reine Berichten einer Angelegenheit. Dabei kommt es Blanckenburg auf eine kausale Verknüpfung von äußerer Begebenheit und innerem Zustand der Figuren an. Als Beispiel ex negativo wählt er Richardsons Clarissa, deren Motive, mit Lovelace fortzugehen, zwar vermutet werden könnten, doch nicht explizit geschildert seien. In Bezug auf Richardsons Leserinnen führt Blanckenburg hierzu aus:

Mädchens, die in einer eben so kritischen Lage sind, könnten aber, dieses Romans ohngeachtet, mit ihren Liebhabern davon gehen, weil ihnen selbst Richardson nicht Gelegenheit genug giebt, den eigenthümlichen Gemüthszustand Clarissens zu sehen, vermöge welchem die ersten Empfindungen und Vorstellungen in ihr entstanden sind, die sie zuletzt zu diesen Schritte leiteten. Die äußeren Begebenheiten, die zu diesem Vorfalle führen, sind sehr genau gegeneinander abgemessen; aber das Innre von Clarissen sehn wir nur von einer Seite, von welcher uns ganz unglaublich bleibt, daß sie solche Schritte, als den geheimen Briefwechsel, u. a. m. habe unternehmen können.521

Zwei Aspekte werden an diesem Beispiel hinsichtlich der Wirkung eines Romans auf den Leser deutlich: Zum einen wird mit der potentiellen Gleichsetzung der Lebenssituation der realen Leserin mit derjenigen der Romanfigur („Mädchens […] in ebenso kritischer Lage“) die

519 Blanckenburg: Versuch über den Roman. Vorbericht, S. IV.

520 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 295.

521 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 297.

118 Anwendbarkeit des Gelesenen für das eigene Leben implizit bestätigt und zugleich ein Exempel für eine solche Übertragbarkeit geboten. Zum anderen dürfe nicht nur zwischen den äußeren Begebenheiten, also den Ereignissen der Handlung, ein kausaler Zusammenhang bestehen;

vielmehr müsse die Darstellung des Inneren der betreffenden Figur hinzukommen, um den Nutzen zu gewährleisten. Das Innere der Figur Clarissa aber werde nicht geschildert, warum sie mit Lovelace mitgeht durch das Ausbleiben der Darstellung ihrer Motivation nicht hinreichend begründet. Die Nachvollziehbarkeit ihres Verhaltens ist mithin nicht ausreichend gewährleistet, so dass für die Rezipienten kein lehrreicher Nutzen aus der Lektüre gezogen werden könne.

So resümiert Blanckenburg: „Wenn also auch, zur besonderen Anwendung auf einzelne Fälle des wirklichen Lebens, nichts außer dieser anschauenden Verbindung des Innern und Aeußern genützt wird: so lernen wir an ihr denken, und müssen es an ihr lernen.“522 Gerade durch das Erinnern der gelesenen Situation und Übertragen auf die eigene Lebenswirklichkeit wird gewährleistet, Wirkung und Folge der eigenen Handlung antizipieren zu können. Dies sei durch die bloße „Erzählung „im Sinne eines Berichtens nicht zu erreichen: „Man siehet, daß wir, durch das bloße Entstehen, durch das bloße Wirklichwerden eines Vorfalls diesen Unterricht durchs Vergnügen erhalten haben; dies findet schlechterdings gar nicht bey der Erzehlung derselben statt.“523 Letztlich, so lässt sich aus dieser Argumentation zusammenfassen, geschehe die Belehrung „über die Seele und das Gefühl des Rezipienten. Dabei wird die Entwicklung des

‚werdenden Menschen‘ performativ vom Rezipienten nachvollzogen, Leser und Held wachsen gleichermaßen durch die Dichtung hindurch, und das macht den Roman zum sehr lehrreichen[]

Zeitvertreib[].“524 Das Vergnügen, und das ist nur allzu deutlich bei Blanckenburg formuliert, ist conditio sine qua non für die lehrreiche Rezeption.

Ähnlich argumentiert Blanckenburg an späterer Stelle, wobei er nicht mehr auf rational zu erfassende bzw. nachzuvollziehende Anschaulichkeit setzt, sondern auf emotionale Teilhabe, denn durch „die Teilnahme an den narrativ inszenierten Gemütsbewegungen des epischen Helden wird dem Leser Einblick in die anthropologisch-psychologischen Bewusstseinsprozesse gewährt.“525 Nochmals fordert er dezidiert, der Schriftsteller solle direktes Moralisieren vermeiden, Maxime und Sentenzen seien bisweilen als „Verzäunungen und Schranken“ zu verstehen, da sie dem Leser keinen Anreiz zur Beachtung geben526. Vielmehr plädiert Blanckenburg dafür, den Rezipienten zu affizieren. Die Aufgabe des Dichters bestehe darin,

„durch die Erregung der Leidenschaften seiner Leser, ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Empfindungen im gehörigen Maaß, und für solche Gegenstände auszubilden, die es werth sind,

522 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 301.

523 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 302.

524 Seeber: Diesseits der Epochenschwelle, S. 28.

525 Immer: Friedrich von Blanckenburg, S. 170.

526 Vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 414.

119 uns in Bewegung zu setzen.“527 Wie auch seine Vorgänger sieht er gerade im Hervorrufen der Affekte bzw. Empfindungen die Möglichkeit, diese in der Lektüre nicht nur geschildert zu sehen, sondern zu durchleben und damit regelrecht einzuüben: „Die Erregung unsrer Empfindung auf die rechte Art, hat den Nutzen, den jede Uebung des Guten hat. Denn unsre Empfindungen erregen, ist nichts, als sie üben. Uebung macht stark.528 Der Rezipient könne die bereits erprobten Empfindungen in der eigenen Realität erkennen und beherrschen: „Unsre Empfindungen werden also bey Gelegenheit in keinen, als einem gehörigen Grade entstehen. Und je öfter unsre Menschenliebe, unser Mitleiden, all‘ unsre geselligen Leidenschaften geübt worden sind, je leichter werden sie, bey Veranlassung im wirklichen Leben, erwachen.“529 Das Durchspielen, das Erfahren der Gefühle während der Lektüre findet in einem „gehörigen Grade“ statt, also in einem angemessenen Rahmen auf eine maßvolle Weise und formuliert somit einen Nutzen für das eigene Leben.

Aus dem Geschilderten lässt sich erkennen, dass auch Blanckenburg das „prodesse aus dem delectare hervorgehen [lässt]“530 nämlich gerade dadurch, dass „er die Innerlichkeit als Katalysator für das Romanverstehen betont.“531 Auch er schildert die Voraussetzungen für dieses doppelte Wirkungsziel über das Wesen des Menschen. Eine reine Vorbildlichkeit der dargestellten Figuren lehnt er jedoch als weniger lehrreich ab und setzt gerade auf die Unvollkommenheit der Charaktere: „Der wichtigste Einwurf des Engländers [Shaftesbury, S.Z.] gegen die vollkommenen Charaktere ist, daß sie nicht so unterrichtend sind, als die anderen.“532 Es sei vielmehr, so Blanckenburg noch immer in Bezug auf Shaftesbury, eine Einförmigkeit zu vermeiden, „die in einem Werk entsteht, wann alle Charaktere nach der Regel der Vollkommenheit gebildet sind“533 – fordert er doch eine vergnügliche Lektüre. Damit wendet er sich „gegen flache, einseitig vorbildliche wie einseitig negative Charaktere“534, was im Zusammenhang damit zu sehen ist, der Roman müsse „einen Wirklichkeitsbezug aufweisen, der die Wahrscheinlichkeit des Inhalts gewährleistet“535, indem der Held „der wirklich anzutreffende oder doch unter bestimmten Bedingungen mögliche, also der mit begrenzten und ‚vermischten‘ Eigenschaften ausgestattete

527 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 424.

528 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 425.

529 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 425.

530 Seeber: Diesseits der Epochenschwelle, S. 28.

531 Seeber: Diesseits der Epochenschwelle, S. 28.

532 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 55.

533 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 55.

534 Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1. Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten. Stuttgart, Weimar 1993, S. 94. Dass die Forderung nach einem vielseitigen Charakter der Figuren allerdings „noch nichts mit der späteren Subjektivierung des poetischen Wirklichkeitsentwurfs zu tun“ habe, darauf verweist Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit. 3. erw.

Aufl. Stuttgart, Weimar 1993, S. 115. Dort heißt es weiter, es handele sich noch nicht um „subjektive[]

Innerlichkeit und dergleichen. Die Welt zeigt noch einen überschaubar geordneten Zusammenhang. Der Dichter sieht diese Zusammenhänge und vermag ‚das Ganze‘ am Beispiel eines Einzelmenschen zu demonstrieren.“

535 Schlimmer: Der Roman als Lehranstalt, S. 214.

120

‚natürliche‘ Mensch“536, sei. Dieser erweise sich als vorbildhaft „durch die Art, in der er seine Anlagen ausbildet und seiner Leidenschaft Herr wird.“537 Die einzelnen Punkte Blanckenburgs können dahingehend zusammengefasst werden, dass die Forderung nach einem Wirklichkeitsbezug hinsichtlich der Figur auf ein Identifikationspotenzial538 zielt, das es dem Rezipienten erleichtern soll, die Einübung in die dargestellten inneren Begebenheiten, die Affekte tatsächlich vornehmen zu können. Den Hauptzweck sieht Blanckenburg dabei in der „Ausbildung edler und rechtschaffener Gesinnungen“539. Seine Auflistung solcher Gesinnungen spiegelt dabei das Programm der Empfindsamkeit:

Es bedarf wohl keines Beweises, daß all die sanften Tugenden und Leidenschaften, als allgemeine Menschenliebe, Gutherzigkeit, Gefälligkeit, Dankbarkeit, Großmut, Eigenschaften und Gegenstände sind, welche, wenn nicht erhabene, so doch höchst anziehende und angenehme Empfindungen in uns wecken.540

In all diesen Argumenten Blanckenburgs lässt sich die im Versuch formulierte Ablehnung gegen den „Roman in seiner überkommenen Abenteuer- und Romanzenversion“541 erkennen. Denn die Schwerpunktverlagerung von den äußeren Begebenheiten auf die inneren Zustände des Menschen begründet er auch mit der Absicht der Verfasser, „Eindruck mit ihren Begebenheiten zu machen, um die Leser in Bewegung zu setzen“542. Die Auflistung der betreffenden Begebenheiten entspricht dem Repertoire des höfisch-historischen Romans: „außerordentliche[]

Zufälle, Entführungen, Blutschade, Verwechselungen unter dreyfachem Namen, Einbrüche[], Zweykämpfe[], Verkleidungen, Gefahren zu Wasser und zu Lande […].“543 Die „Ausbreitung des Wahren und Guten“ sowie die „Sittlichkeit“ seien durch eben diese Erzählgegenstände verhindert

536 Lämmert: Nachwort, S. 554. Ähnlich Potthast: Die verdrängte Krise, S. 69: Es solle „statt der idealen moraldidaktischen Charaktertypen […] ein ‚natürlicher‘ Mensch mit vermischten Eigenschaften und mit psychologisch nachvollziehbaren Gefühlen im Mittelpunkt der Romanhandlung stehen“. Als beispielhaft nennt Blanckenburg die Figuren in Lessings Minna von Barnhelm, aus denen ein gutes Herz so sehr hervorleuchte, dass der Rezipient eine „lebhafte Teilnehmung“ für sie empfinde. Obwohl es sich um eine Romantheorie handelt, weist Blanckenburg darauf hin, dass er sich auch auf dramatische Werke, die besonders vorbildhaft und bekannt seien, beziehe. Ebd., S. XIX. Dies stellt auch Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 93, heraus: „Blanckenburg versucht, […] ihn [den Roman, S.Z.] ästhetisch aufzuwerten, indem er ihn mit dem Drama verknüpft also der Gattung, an der die deutsche Aufklärung ihre neuen ästhetischen Maximen exemplarisch konstatiert hatte.“ So etwa Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 175: „Was brauch ich mehr zu sagen, als dies, um allen Romanendichtern solche Charaktere aufs nachdrücklichste zu empfehlen?“

537 Lämmert: Nachwort, S. 554.

538 Ein Identifikationspotenzial stellen u.a. auch fest: Potthast: Die verdrängte Krise, S. 67; Engel: Der Roman der Goethezeit, S. 94; Hillebrand: Theorie des Romans, S. 120; Erich Kleinschmidt: Fiktion und Identifikation. Zur Ästhetik der Leserolle im deutschen Roman zwischen 1750 und 1770. In: DVjS 53/1 (1979), S. 54.

539 Blanckenburg, S. 175.

540 Blanckenburg, S. 174.

541 Malte Wessels: Metaphysik des Romans. Blanckenburgs erster und zweiter Vorbericht und Thomas Abbt.

Mit einer Transkription des Vorberichts zur geplanten Neuausgabe des Versuchs über den Roman. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Jg. 39 (2015), Heft 1, S. 14. Diese Ablehnung formuliere Blanckenburg Wessels zufolge in beiden Versionen.

542 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 307.

543 Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 307.

121 worden544. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Blanckenburg die Verwendung dieser Elemente gänzlich ablehnt545, vielmehr sind sie der Darstellung des Menschen nachgeordnet und gewissermaßen auf sie hin instrumentalisiert, so dass die Welt „nicht mehr Ort exemplarischer tugendhafter Bewährung“546 sei, sondern „Erfahrungsraum des Helden.“547 Dabei ist die Frage danach, ob die Begebenheiten oder das menschliche Innere im Kern des Romans stehen, geknüpft an die Abgrenzung zum Heldengedicht (also dem Epos), in dem „öffentliche Thaten und Begebenheiten, […] Handlungen des Bürgers“548 zentral seien. Während die Poetologien rund um die Jahrhundertwende vor allem die Konzentration auf die Liebesgeschichte als Abgrenzungsmerkmal von den alten Formen sehen, ist es bei Blanckenburg das Innere des Menschen und gerade nicht oder nicht allein die Liebe, vielmehr „distanziert sich Blanckenburg von der traditionellen Gleichsetzung von Romanhandlung und Liebesintrige“549. Im Versuch heißt es wörtlich, die Liebe könne „zur Entstehung sehr falscher und unrichtiger Empfindungen Anlaß geben.“550 Konkret geschehe dies, so der Theoretiker erläuternd, „wenn man die Liebe nicht allein, als das einzige und angelegenste, sondern auch als das wichtigste Geschäft des Lebens zeiget, dem alles andere, Tugend und Pflicht, ohne Umstände nachstehen muß.“551 Hierin liegt ein zentraler Unterschied in der Akzentuierung der in Betracht gezogenen romantheoretischen Texte, der sich in der Romananalyse nachweisen lässt: Während die galanten Protagonistinnen ihr Handeln stets auf die Liebesbeziehung zu ihrem Partner ausrichten, steht für die empfindsamen Protagonistinnen, insbesondere Sophie, insgesamt die Beschäftigung mit ihren eigenen Empfindungen im Vordergrund, die Liebesbeziehung zu Seymour hat im Vergleich dazu einen geringeren Stellenwert.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE