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La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim

3.2 Das Korpus

3.2.3 La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim

Der Roman La Roches ist derjenige des vorliegenden Korpus, der sicherlich am meisten besprochen worden ist. Neben einer Vielzahl von Aufsätzen gibt es einige Monographien und Literaturgeschichten, die die Geschichte des Fräuleins von Sternheim unter einer übergeordneten Fragestellung als einen unter mehreren Romanen in den Blick nehmen. Dabei lassen sich in der Forschungsgeschichte einige Schwerpunkte identifizieren, die auch von Relevanz für das vorliegende Ansinnen sind. Von einer rein chronologischen Berücksichtigung der Forschungsbeiträge wird hier abgesehen, stattdessen ist der Überblick durch die thematischen Aspekte gegliedert. Grundsätzlich rücken Untersuchungen zur Geschichte des Fräuleins von Sternheim das Moment der Tugend und ihrer Prüfung durch den Bösewicht und Libertin Derby in den Vordergrund, wobei dieses zentrale Element der Prüfung zumeist auf die Tradition Richardsons zurückgeführt wird209. Gerade das Postulat eines Richardson-Bezugs ist für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung, soll doch durch Parallelen zum galanten Roman die Möglichkeit einer zusätzlichen Traditionslinie in der deutschen Literaturgeschichte aufgezeigt

207 Kramer: Poetik der Ausgrenzung, S. 37.

208 Vgl. Kramer: Poetik der Ausgrenzung, S. 40.

209 Gleiches gilt grundsätzlich auch für die Erzählweise des Romans, wie in Kapitel D. I genauer ausgeführt werden wird. Grundsätzlich ist die Bezugnahme La Roches auf Richardson Konsens in der Forschung und wird in nahezu jedem Beitrag einführend erwähnt oder in der Analyse berücksichtigt. Einige Beiträge arbeiten auch dezidiert Unterschiede zwischen den beiden Romanen heraus. Eine erste frühe Arbeit, die sich mit La Roches Werk auseinandersetzt, trägt die angenommene Bezugnahme bereits im Titel: Kuno Ridderhoff: Sophie von La Roche, Schülerin Richardsons und Rousseaus. Einbeck 1985.

50 werden, die noch dazu rund vier Jahrzehnte weiter zurückgeht als die Rekurrenz auf den englischen Roman. Auf der Grundlage des Gegensatzes zwischen Tugend und Laster in Gestalt eines Verführers wird immer wieder die These von der Opposition zwischen dem intriganten und nur scheinhaften Hof v.a. in Gestalt Derbys und der (bürgerlichen) Tugend Sophies aufgestellt. Mit Sophie und Derby sind dabei diejenigen Figuren benannt, die stets im Fokus der Analysen stehen, um den im Roman dargestellten Gegensatz herauszuarbeiten.

Das Moment der Prüfung, das auch für die vorliegende Untersuchung von zentraler Bedeutung ist, erweist sich in der Forschung seit jeher als entscheidend, wie Einordnungen in den zeitgenössischen Kontext der Empfindsamkeit und Klassifizierungen des Romans immer wieder betonen. Mit Blick auf das hier zugrungegelegte Bewährungsschema ist zu verweisen auf Kurt-Ingo Flessaus Arbeit Der moralische Roman, in der er bereits 1968 den Text als „zeit- und gesellschaftskritischen Bewährungsroman“210 qualifiziert. Denn Flessau definiert diesen Typ als Unterkategorie des moralischen Romans folgendermaßen: „Bewährung und Menschlichkeit, nicht Familie oder Erziehung und Entwicklung der Heldin, bilden das Zentralthema des Romans

‚Pamela, or Virtue Rewarded‘ (1740) wie der ‚Geschichte des Fräuleins von Sternheim‘ (1771). In beiden Romanen kommt der Familie nur sekundäre Bedeutung zu“211. Neben der angenommenen Rekurrenz auf Richardson unterstellt Flessau durch die Bezeichnung der Romanform als

„Bewährungsroman“ und seine Erläuterungen im Hinblick auf die Thematik eine eindeutige Schwerpunktsetzung. Das Moment der Prüfung rücken auch jüngere Arbeiten in den Vordergrund, indem sie von diesem ausgehend ebenfalls Gattungsbezeichnungen vornehmen, wie etwa Christine Lehmann es 1991 in ihrer Arbeit Das Modell Clarissa unternimmt. Der Titel zeigt bereits den Ausgangspunkt in der englischen Romanliteratur an, indem dezidiert Richardsons Clarissa als Vorbild für einen bestimmten Romantypus gilt, den Lehmann „Verführungsroman“

(s.o.) nennt. Kennzeichnend sei, dass „strengste bürgerliche Sexualmoral, puritanische Selbstschau, der Heldinnentyp der tugendhaften Bürgertochter und eine elaborierte Briefromantechnik aufeinander[treffen]“212. Während Lehmann die Prüfung der Tugend und die Verführung durch eine männliche Figur als zentral für die Handlung auch in La Roches Roman herausarbeitet, bringt sie den Unterschied zur ‚Vorlage‘ Richardsons mit einem eher beiläufig anmutenden Satz auf den Punkt: „In der Geschichte geht es weniger um die Verführung als vielmehr um die karitative Arbeit der Heldin.“213 So verweist sie in ihrer Analyse darauf, dass

210 Flessau: Der moralische Roman, S. 54. Das Werk sei von La Roche als „Erziehungsroman angelegt[]“ und habe sich zu „einem zeit- und gesellschaftskritischen Bewährungsroman“ entwickelt.

Den „moralischen Roman“ definiert Flessau „in seiner reinsten Form“ indes als „Typ der goethezeitlichen Trivialliteratur und gehobenen Unterhaltungsliteratur, der, von der moralischen Erzählung durch ausschließlich zeitbezogene Thematik, durch größeren Umfang und Handlungsreichtum unterschieden, […]

in vereinfachender Weise aktuelle Themen und Frage der Gegenwart, dringende Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Ereignisse aus dem Bereich der Politik verhandelt […]“, ebd., S. 19f.

211 Flessau: Der moralische Roman, S. 21.

212 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 10.

213 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 39.

51 Sophie durch die gescheiterte Scheinehe (und ihren ausbleibenden Tod, der eigentlich zum von Lehmann angenommenen Modell gehört) einen „Freiraum“ für ihre Wohltätigkeit erhalte, die ihr

„Glück im Unglück“ bringe214. Mithin sei die Verführung ein Mittel zur Demonstration der spezifisch wohltätigen Tugendhaftigkeit Sophies. Lehmann formuliert damit eine Erkenntnis, die durch die vorliegende Studie unter dem Gesichtspunt der Rekurrenz auf eine Sittenlehre herausgearbeitet werden und somit als zentrales Element des Romans bestätigt werden soll.

Lehmanns Begriff „Verführungsroman“ greift 2013 Dana Kestner auf, die ebenfalls Clarissa als Vorgänger des Sternheim-Romans sieht und darauf hinweist, dass neben den Figuren „in weiten Teilen auch die Handlung als Geschichte der Prüfung und Bewährung einige offensichtliche Parallelen“215aufweise. Dabei legt Kestner allerdings das Hauptaugenmerk auf die „Kollision von Vernunft und Gefühl [als] spezifisch weibliches Dilemma“216 und kommt zu dem Schluss, dass Sophie von Sternheim „einen Konflikt zwischen rationalen und emotionalen Ansprüchen gar nicht erst“ auszufechten habe, sondern die Figur „Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit von Romanbeginn an“ vereine217.

Eine weitere Schwerpunktsetzung der Forschung wird erkennbar in der Frage nach der Gegenüberstellung von Adel und Bürgertum respektive (tugendhaft besetztem) Landleben und dem (nicht selten als galant bezeichneten) höfischen Leben, die bis heute Konsens zu sein scheint.

Schon Flessau formuliert den entscheidenden Zusammenhang mit der Frage nach Tugend und ihrer Herausforderung, so handele es sich bei der Gegenüberstellung von Adel und Bürgertum, von Residenz- und Landadel, um „einen Gegensatz, der in der ‚Geschichte des Fräuleins von Sternheim‘ zugleich exemplifiziert wird als Gegensatz weiblicher Unschuld und männlicher Sittenlosigkeit“218. Dass die Opposition als tradierter Konsens in der Forschung anzusehen ist, zeigt sich etwa in den Arbeiten von Paul Mog219 (1976), Lehmann (1991), Marx (1999), Hans-Joachim Maier (2001)220, Werber (2003), Jeßing (2012), Helga Meise (2013)221 und Kestner (2013).

214 Vgl. Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 47.

215 Kestner: Zwischen Verstand und Gefühl, S. 190.

216 Kestner: Zwischen Verstand und Gefühl, S. 1. Kestner bezieht sich explizit auf Lehmann und macht den Unterschied zu ihrem eigenen Verständnis vom „Verführungsroman“ deutlich; im Gegensatz zu Lehmann sei sie „der Auffassung […], dass eine – im Sinne des Prüfungsromans versuchte Verführung, die von der Heldin erfolgreich abgewehrt wird, die Gattungsbezeichnung Verführungsroman legitimiert“, ebd., S. 10.

Zudem spricht sie von einem „gynozentrischen Roman“, unter dem sie Texte versteht, „die eine weibliche Hauptfigur fokussieren“, ebd., S. 10.

217 Kestner: Zwischen Verstand und Gefühl, S. 212.

218 Flessau: Der moralische Roman, S. 60.

219 Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zur Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert.

Tübingen 1976. Mog verweist u.a. auf den „höfische[n] Ursprung“ der Galanterie, S. 37f.

220 Hans-Joachim Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie. Erziehung, Bildung und Liebe im Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Eine literatursoziologische Studie von Christian F. Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** und Sophie La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hildesheim, u.a. 2001.

221 Helga Meise: Sophie von La Roche und der Genderdiskurs. In: Michael Hofmann (Hrsg.): Aufklärung.

Epoche Autoren Werke. Darmstadt 2013, S. 61 74.

52 Insbesondere die Figur des Lord Derby ist vor diesem Hintergrund wiederholt von besonderem Interesse der Forschung. Er wird gelesen als Repräsentant des Hofes, mithin als Vertreter des adligen Personals – nicht selten beobachten die Beiträge eine besondere Intelligenz der Figur, die Voraussetzung ist für die Intrigen, die Sophies Tugendhaftigkeit durch Herausforderung demonstrieren. So arbeitet bspw. Frank Baasner 1983 in einem Aufsatz das Verhältnis zwischen Libertinage und Empfindsamkeit heraus. Baasner setzt den Begriff der Libertinage in ein Verhältnis zur Aufklärung und stellt die wesentlichen Züge dieses Typus heraus, um sie an Richardsons Lovelace (Clarissa) und Derby nachzuweisen. Von grundlegender Relevanz für die vorliegende Arbeit ist die Erkenntnis, dass der „intellektuelle und moralische Libertin“222 sich nicht allein durch den körperlichen Aspekt der Verführung kennzeichnen lässt, sondern dass

„dessen erotischer Drang nur ein Teil seiner Libertinage“223 ist. Gerade für die Figur Derby stellt Baasner fest, dass in seinem Charakter der Ehrgeiz hinzukomme, „gerade eine empfindliche und freimütige Frau zu unterwerfen und nach dem eigenen Charakter zu prägen.“224 Aus diesem Beitrag wird ersichtlich, dass es vor allem die Kombination aus kühlem Planungsvermögen und eines Triebs ist, die dem Figurentyp eigen ist und ihn bisweilen erfolgreich erscheinen lässt.

Andere Arbeiten argumentieren auf einer ähnlichen Linie, wenn sie immer wieder die Beobachtungsgabe Derbys betonen. Auf diesen Aspekt gehen insbesondere Ursula Naumann225, Marx, Maier, Werber, Michaela Krug226 und Alexandra Kleihues227 ein. Während Krug und Werber das Durschauen der Gerüchte am Hof zwar konstatieren und dies als Alleinstellungsmerkmal nicht zuletzt in Bezug auf die Handlung hervorheben228, gibt es einige Arbeiten, die der Bobachtungsgabe und ihrem Zusammenhang mit der Intelligenz besondere Aufmerksamkeit schenken. Ursula Naumann attestiert der Figur eine „intellektuelle Sehschärfe“229, die sie der Ahnungslosigkeit Sophies entgegensetzt, indem sie insgesamt auf den Austausch und die Qualität der jeweiligen Blicke innerhalb des Romans abstellt. Bemerkenswert ist bei ihrer Analyse der

222 Frank Baasner: Libertinage und Empfindsamkeit. Stationen ihres Verhältnisses im europäischen Roman des XVIII. Jahrhunderts. Arcadia 23 (1988), S. 19.

223 Baasner: Libertinage und Empfindsamkeit, S. 20. Weiter heißt es hierzu: „War das Ziel des Verführers im XVII. Jahrhundert, selbst eines planenden Don Juan, immer der körperliche Genuß, so tritt angesichts des neuen Frauentyps auch dieses Element in den Hintergrund.“

224 Baasner: Libertinage und Empfindsamkeit, S. 27.

225 Ursula Naumann: Das Fräulein und die Blicke. Eine Betrachtung über Sophie von La Roche. In: ZfDP 107 (1988), S. 488 516.

226 Michaela Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800. Würzburg 2004.

227 Alexandra Kleihues: Der empfindsame Blick. Zu Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim. In: Ulrich Stadler/ Karl Wagner (Hrsg.): Schaulust. Heimliche und verpönte Blicke in Literatur und Kunst. München 2005, S. 39 54.

228 Vgl. Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum, S. 99; Werber: Liebe als Roman, S. 357 und 365.

229 Vgl. Ursula Naumann: Das Fräulein und die Blicke, S. 511. Einen Zusammenhang zwischen Beobachtungsgabe und Intelligenz hebt auch Maier hervor, wenn er darauf abstellt, das Derby der einzige ist, der wirklich über ein umfassendes Wissen verfügt: „Nur der eifersüchtige, intelligente und sehr genau beobachtende Lord Derby interpretiert ihr Verhalten richtig.“ Maier: Zwischen Bestimmung und Autonomie, S. 265.

53 Blickverhältnisse im ersten Teil des Romans vor allem die Rekurrenz auf die Sittenlehre des Thomasius, die sie allerdings weder einführt noch weiter erläutert. Der Bezug erschöpft sich in einem Zitat und der Feststellung, Seymour und Sophie liebten sich gegenseitig „‚vernünfftig und tugendhafft‘“, die sodann mit einer Anmerkung versehen wird, die allerdings wiederum auf Luhmanns Liebe als Passion verweist230.

Auch Marx widmet sich dezidiert der Frage nach dem Überblick Lord Derbys, wenn sie auf seine

„Vogelperspektive“ verweist231. Diese Tatsache bringt sie indirekt in Verbindung mit der Figurenkonzeption, wenn sie postuliert: „Das Schauen des Libertins Derby avanciert zu einer Kunst der Menschenbeobachtung, bei der der heimliche Beobachter wie ein Regisseur mit dem anwesenden Spielpersonal eine eigene Konstellation zur Eroberung seines Erkenntnisobjekts entwirft“.232 Wie auch in den anderen Beiträgen arbeitet Marx die Beobachtungsgabe Derbys heraus, um sie als Voraussetzung für seine handlungslenkende Rolle innerhalb des Textes zu erklären. Dabei bringt sie auch einen Bezug zur Galanterie ins Spiel, indem sie Derbys Orientierung „an der höfischen Privatpolitik“233 im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Beobachtung des Gegenübers berücksichtigt234 und auf die Opposition zur bürgerlichen Moral abstellt235.

Einen ähnlichen Ansatz wie Naumann legt Kleihues ihrer Untersuchung Der empfindsame Blick zugrunde. Sie verfolgt die Hauptthese, der Roman stelle sich als „Schau-Spiel“ dar, in dem

„sämtliche Interaktionsverhältnisse […] im wesentlichen visuell hergestellt“236 werden. Ihr Ziel ist es herauszuarbeiten, dass sich „in der unterschiedlichen Bewertung der Schaulust die zentrale Differenz zwischen höfischer und bürgerlicher Sittenlehre“ spiegele237. Dabei stellt sie die

„tendenzielle[] Blindheit“ Sophies238 dem Überblick des „scharfen Beobachter[s]“239 Derby gegenüber und charakterisiert Derby als „Spielleiter in der Intrige“240. Wie auch aus den anderen Beiträgen lässt sich zunächst die Erkenntnis herausarbeiten, dass Derby diejenige Figur des Romans ist, die durch Beobachtungsgabe und Intelligenz die Geschicke der Handlung zu lenken vermag.

Im Zusammenhang mit der Rolle Derbys als Beobachter, Intrigant und Herausforderer der Tugend widmet sich die Forschung zudem der Frage nach der Klassifizierung der Tugendhaftigkeit Sophies. Grundsätzlich zeichne diese sich laut Forschung vor allem durch Wohltätigkeit aus.

230 Vgl. Naumann: Das Fräulein und die Blicke, S. 509f.

231 Vgl. Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 145.

232 Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 145.

233 Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 150.

234 Vgl. Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 150.

235 Vgl. Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 150.

236 Kleihues: Der empfindsame Blick, S. 41.

237 Kleihues: Der empfindsame Blick, S. 40.

238 Kleihues: Der empfindsame Blick, S. 41.

239 Kleihues: Der empfindsame Blick, S. 42.

240 Kleihues: Der empfindsame Blick, S. 46.

54 Gerhard Sauder, der bis heute die grundlegende und umfassendste Arbeit zur Empfindsamkeit als literarische Epoche vorgelegt hat, fragt 2010 nach der speziellen Ausprägung der Empfindsamkeit in La Roches Werk und betont die dezidiert moralische Dimension der Empfindsamkeit als

„ausgeübte Tugend“241. Damit greift er einen Aspekt auf, den etwa auch Lehmann und Marx bereits als charakterisierendes Merkmal der Protagonistin gelesen haben. Wie bereits erwähnt, ist laut Lehmann das eigentliche Thema des Romans die „karitative Arbeit des Romans“, Sophies

„Hauptinteresse ist die Wohltätigkeit“242; Marx spricht von der „aufopfernde[n] Tugend“243 Sophies und von der Ausrichtung ihres Lebens und Alltags auf die Bedürfnisse anderer Menschen244, so dass bei La Roche schließlich die „Frau als ‚moralisches Geschlecht‘“245 dargestellt werde. Und so spricht auch Benedikt Jeßing in seiner Literaturgeschichte davon, dass sowohl Sophie als auch Seymour „Modelle der Tugendhaftigkeit“ sind, die „paradigmatisch für ein Bild des Menschen [stehen], das diesem die natürliche Fähigkeit zuspricht, sich gut zu verhalten.“246 Zudem stellt er in Bezug auf das Vorwort heraus, Sophie werde empfohlen als „Modell für die geforderte Aufrichtigkeit der Seele, für vorbildliche Ausübung der Tugend, als zärtliches, mitleidsvolles, wohltätiges Herz“247.

Zuletzt sei auf einen Aufsatz von Verena Ehrich-Haefeli verwiesen, in dem sie syntaktische und sprachliche Besonderheiten des Romans untersucht und zu dem Schluss kommt, dass es grammatisch gesehen weniger die Figuren selbst sind, die sprechen und handeln, sondern dass

„sehr oft statt eines personalen Subjekts, die ‚richtigen Begriffe‘ – Tugenden, moralische Werte etc. –an die Subjektstelle im Satz treten“248. Dieses Ergebnis ist interessant vor dem Hintergrund der vorliegend formulierten Frage nach der Darstellung von Affekten in den Texten insgesamt und im Besonderen nach dem Verhältnis der Figuren zu ihren Affekten und der Darstellung der Eigenständigkeit etwaiger Gefühle.

Die Ausgangsthese der vorliegenden Studie berührt die in der Forschung über die Jahrzehnte hinweg immer wieder präsenten Themenkomplexe ebenfalls und knüpft an die referierten Positionen an. So soll die Traditionslinie, die zum englischen Roman Richardsons führt, nicht in Zweifel gezogen, sondern stattdessen ergänzt werden um eine weitere mögliche Linie, die zum deutschen Roman der Jahrhundertwende führt. Denn der Interpretationsspielraum des Romans

241 Vgl. Sauder: Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches, S. 19.

242 Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 42.

243 Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 167.

244 Vgl. Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 168.

245 Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 169. Dezidiert genderorientierte Ansätze und Thesen vertreten insbesondere Marx: Das Begehren der Unschuld; Michaela Krug: Topographien des Weiblichen; Helga Meise: Sophie von La Roche und der Genderdiskurs.

246 Jeßing: Kleine Geschichte des deutschen Romans, S. 56.

247 Jeßing: Kleine Geschichte des deutschen Romans, S. 54.

248 Verena Ehrich-Haefeli: Die Syntax des Begehrens. Zum Sprachwandel am Beginn der bürgerlichen Moderne. Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Goethe: Die Leiden des jungen Werther. In: Kirsten Adamzik/ Helen Christen (Hrsg.): Sprachkontakt. Sprachvergleich. Sprachvariation.

Tübingen 2001, S. 150.

55 ist durch die Opposition Bürgertum/Land und Aristokratie/Hof noch längst nicht ausgeschöpft.

Vielmehr steht m.E. nicht so sehr im Vordergrund, dass Derby bestimmte Fähigkeiten zukommen, die tatsächlich an ein galantes Interaktionsmodell erinnern – diese Frage darf vielmehr nicht isoliert betrachtet werden von der durch die Forschung stets hervorgehobene Beobachtungsgabe und Intelligenz Derbys. Diese kann nämlich nicht nur durch die Zuordnung zur Libertinage oder zum Typ des Verführers erklärbar gemacht werden, sondern auch durch grundlegende Annahmen von Thomasius in Bezug auf die Aufmerksamkeit für andere Menschen, für das eigene Gemüt und seine Vorstellung von einer Scheintugend, die sich durch Wollust und Ehrgeiz konstituiert. In diesem Zusammenhang ist Sophie als Vertreterin einer (wohltätigen) Tugend von Belang für die Untersuchung, denn ihre Gutgläubigkeit und fehlende Übersicht lassen sich ebenfalls durch eine Argumentation mit der Sittenlehre erklären.

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