• Keine Ergebnisse gefunden

II THEORETISCHE GRUNDLAGEN

4. Gattungsfragen 1 Der galante Roman 1 Der galante Roman

4.2 Der empfindsame Roman

Als weniger diskussionsbedürftig erweist sich die Gattungsbestimmung des empfindsamen Romas, wenngleich auch hier von einer einheitlichen Bezeichnung eben als „empfindsamer Roman“ nicht zu sprechen ist. Die Forschung ist sich weitestgehend einig darüber, durch welche Aspekte sich die Texte auszeichnen, die zu diesem Label gezählt werden und auch welche Romane darunter zu subsummieren sind (v.a. diejenigen Gellerts und La Roches). Allerdings tauchen in der Forschungsgeschichte immer wieder Qualifizierungen auf, die über die ‚einfache‘

Gattungsbestimmung als „empfindsamer Roman“ durch weitere Differenzierungen hinausgehen.

Einigkeit besteht hingegen in der Bezugnahme auf die Tradition des englischen empfindsamen Romans. Dabei wird stets Samuel Richardson mit seinen Romanen Clarissa und Pamela in den 1740ern als konkretes literarisches Vorbild benannt411. In diesem Zusammenhang wird, wie auch in der Forschung zur Geistes- und Ideengeschichte, der empfindsame Roman unter dieser Rekurrenz in Abgrenzung zur galanten respektive höfischen Romanliteratur definiert. Bei

409 Geulen: Der galante Roman, S. 126.

410 In Hunolds Die Verliebte und Galante Welt etwa verliebt sich der Protagonist Heraldo zwei Mal, so dass für die Gesamtstruktur des Romans das Heliodor-Schema nur eingeschränkt beansprucht werden kann.

Nachdem Heraldos erste Annäherung mit Charlotte nicht erfolgreich ist, verliebt er sich in Selimene. Diese zweite Beziehung ist tatsächlich von Trennung und Bewährung der liebenden gekennzeichnet, das Schema findet mithin in einer Variation Anwendung. Da der Roman in seinem Gesamtverlauf durch diese Vorgeschichte Heraldos mit dem Schema nicht fassbar wird, mangelt es an Vergleichbarkeit mit den anderen Textes des hier ausgewählten Korpus.

411 Kestner: Zwischen Verstand und Gefühl, S. 190; Marx: Das Begehren der Unschuld, S. 13; Werber: Liebe als Roman, S. 96; Simons: Marteaus Europa, S. 19. Helga Gallas/ Magdalene Heuser (Hrsg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Einleitung. Tübingen 1990, S. 3; Flessau, S. 16. Lehmann: Das Modell Clarissa, aus deren Arbeit bereits wesentliche Annahmen referiert wurden, macht es sich ihrem Titel folgend zur Aufgabe, die Umsetzung des durch Richardson geschaffenen Vorbilds der weiblichen Figur u.a.

in La Roches Roman zu untersuchen.

94 Richardson gehe es eben nicht mehr um die „höfisch-galante Schilderung der ‚großen Welt‘ mit ihren Fürsten, Prinzessinnen und Staatsaktionen. Es ging um die Darstellung der ‚kleinen Welt‘, der bürgerlichen Familie“412. Wie auch für das Konzept der Empfindsamkeit ist für den Roman eine Tendenz zu erkennen, private Beziehungen zu thematisieren und besonders Freundschaft und Familie als zentrale Themen zu verhandeln. Gerade der letztgenannte Aspekt wird in der Forschung bisweilen zur Gattungsbestimmung herangezogen, wenn etwa Jeßing vom

„empfindsamen Familienroman“413 oder Voßkamp von einer „Hinwendung des Romans zur privaten Innerlichkeit des Familienlebens unter Gesichtspunkten gesteigerter Empfindungen und die Absage an die Tradition des repräsentativen Romans der öffentlichen Begebenheit“414 spricht.

Der Roman zeichnet sich nach dieser Auffassung durch die Darstellung von Beziehungen aus, die in einem privaten, familiären Umfeld angesiedelt sind.

Ebenso wesentlich für die Gattungsbestimmung, wie für die Epoche insgesamt, ist das Element der Vermittlung einer Moral. So stellt Volker Meid im Zusammenhang mit der Richardson-Rezeption heraus, dass die „Akzeptanz als Gattung“ von „Fragen der Moral“ abhängig gewesen sei415:

In seinen Romanen – Pamela, Or Virtue Rewarded (1740, dt. 1742), Clarissa Or, The History of a young Lady (1747-48, dt. 1754-55) und The History of Charles Grandison (1753-54, dt. 1754-55) – sahen die Moralischen Wochenschriften das Muster für einen neuen, ‚mittleren‘ Roman und die zeitgemäße Antwort auf den höfisch -historischen Roman.416

Auch der Verweis auf eine moralische Qualität wird in der Forschung zumeist bereits durch weiter differenzierende Gattungsbezeichnungen deutlich: So firmieren die betreffenden Erzähltexte unter Zuschreibungen wie „moralischer Roman“417 oder werden durch ähnliche Zuschreibungen näher charakterisiert, so etwa bei Rau, der die bekanntesten empfindsamen Romane in verschiedene Unterkategorien einteilt. Es handele sich um den „aufklärerische[n] moralische[n]

Roman in seinen bedeutendsten Ausformungen als empfindsamer Aufklärungsroman (Gellert), als moraltheologisch-moraldidaktischer Roman (Hermes) und als empfindsamkeitskritischer Frauenoman (La Roche)“418. Diese Unterscheidungen machen deutlich, dass die Texte zwar als

412 Gallas/ Heuser (Hrsg.): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Einleitung, S. 3. Auf die Unterscheidung repräsentativ bürgerlich/privat stellt auch Meid: Von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung, S. 109 noch ab.

413 Jeßing: Kleine Geschichte des deutschen Romans, S. 49.

414 Wilhelm Voßkamp: Erzählte Subjektivität: Zur Geschichte des empfindsamen Romans im 18.

Jahrhundert in Deutschland. In: Ortrud Gutjahr u.a. (Hrsg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Würzburg 1993, S. 340. Dabei vertritt Voßkamp die These von der Bürgerlichkeit der Empfindsamkeit, wenn er ebd. schreibt, es habe sich damit ein „neues bürgerliches Selbstbewußtsein […]

gegenüber der politischen und gesellschaftlich dominierenden Sphäre konstituiert.“

415 Vgl. Meid: Von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung, S. 108.

416 Meid: Von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung, S. 108.

417 Vgl. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 298ff. und Flessau: Der moralische Roman, insb. S. 15.

418 Rau: Speculum amoris, S. 16.

95 einer literarischen Strömung, der Empfindsamkeit, zugehörig verstanden werden, dass die unterschiedlichen Facetten allerdings auch differenzierte Klassifizierungen notwendig werden lassen.

Gleichwohl ist an diesen Attribuierungen abzulesen, dass nicht nur die Konzentration auf das Gefühl als Kernbestandteil der entsprechenden Romane anzusehen ist, sondern auch die mit ihm verknüpfte sittliche Qualität. Die Frage danach, wie diese Moral konkret erzählt wird, bringt eine weitere Gattungsbezeichnung ins Spiel – in der Forschung ist, wie bereits dargelegt, nicht selten vom „Prüfungsroman“, vom „Verführungsroman“ oder auch „Bewährungsroman“419 die Rede. Mit dieser zusätzlichen Qualifizierung geht jedoch auch eine Eingrenzung des Korpus einher: Wenn vom „Prüfungsroman“ die Rede ist, so sind vor allem die auch hier berücksichtigten Texte Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G*** und La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim gemeint, die in Forschungsüberblicken oder Lexikonbeiträgen als die gängigen Texte der Gattung genannt werden. Denn gerade für diese beiden empfindsamen Romane wird zumeist darauf hingewiesen, dass es einer Herausforderung der Moral und Tugend bedürfe, um diese durch ihre Bedrohung und eine sich anschließende Bestätigung demonstrieren zu können:

[I]m Prüfungsroman begegnen dem Leser tugendhafte Personen, die allen Lockungen der Welt, allen Lastern und Begierden, allen Versuchungen und Verführungskünsten beharrlich und standhaft wie Richardsons Pamela oder Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim widerstehen und sich auch im tiefsten Unglück noch als Helfer und Tröster, als Ratgeber und Erzieher bewähren.420

Was hier beschrieben wird, ist das Motiv der verfolgten Unschuld, das bisweilen mit einem Bezug auf Richardson begründet wird421. Rolf Grimminger geht zeitlich noch weiter zurück und sieht hierin eine Verbindung zum galanten Roman: „Richardsons ‚Pamela‘ (1740) verfestigt sie nach dem Vorbild des hohen galanten Romans zu einem gängigen Motiv, dem Motiv der verfolgten Unschuld.“422Dabei rette die Hemmung der „zärtlich und sanft gewordenen ‚constantia‘ […] die junge Frau über alle Verfolgungen zum optimistischen Hafen der Ehe und überzeugt häufig noch die ehemaligen Sexualtäter.“423 Für die beiden hier zu behandelnden empfindsamen Romane ist dieses Motiv tatsächlich konstitutiv – die Tugendhaftigkeit der weiblichen Figuren wird gerade über die Bewältigung der Hindernisse narrativ entfaltet, wie durch das Bewährungsschema grundsätzlich plausibel zu machen ist.

419 Vgl. Jørgensen: Aufklärung, S. 179; Kestner: Zwischen Verstand und Gefühl, S. 190; Lehmann: Das Modell Clarissa, S. 10; Flessau: Der moralische Roman, S. 21. Siehe hierzu die Ausführungen zur Begründung des Bewährungsschemas sowie den Forschungsüberblick zu den Romanen Gellerts und La Roches in dieser Arbeit.

420 Flessau: Der moralische Roman, S. 21.

421 Siehe etwa Dana Kestner: Zwischen Verstand und Gefühl, S. 149ff.

422 Grimminger: Roman, S. 681. Vgl. auch Meid: Von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung, S. 109.

423 Grimminger: Roman, S. 681.

96 Aus den genannten Schwerpunktsetzungen ergibt sich für diese Arbeit ein Verständnis des empfindsamen Romans, das folgende Elemente enthält: Es geht um die Darstellung der Gefühle durch die Figuren, die vor allem der Präsentation von Tugend im Sinne eines moralisch vertretbaren Handelns dient und in einem Umfeld angesiedelt ist, in dem es vor allem um zwischenmenschliche Beziehungen geht. Dabei muss die Tugend herausgefordert werden, um ihre Facetten erzählbar zu machen. Es fällt auf, dass die genannten Aspekte deutliche Berührungspunkte mit den Gattungsbestimmungen des galanten Romans aufweisen. Ein ganz wesentlicher Unterschied allerdings besteht in der Schwerpunktsetzung, dem empfindsamen Roman geht es tatsächlich nicht mehr um die Vermittlung eines galanten Verhaltens, das auf Wahrung bestimmter Höflichkeitsformen aus ist, während der galante Roman noch weit weniger auf die Reflexion von Innerlichkeit aus ist. Diese auf Grundlage der Gattungsbestimmungen vorweggenommene Erkenntnis gilt es durch die Romananalyse zu fundieren.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE