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La Roches Sternheim: Unmittelbarkeit und Polyperspektive

III VORBEMERKUNGEN ZUR ANALYSE

2. Die Erzählsituation: Vermittlungsstrategien in den Romanexten

2.3 Die empfindsamen Romane

2.3.1 La Roches Sternheim: Unmittelbarkeit und Polyperspektive

Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim ist ein Briefroman, in dem verschiedene Figuren in ihren Briefen durch zitierte Figurenrede zu Wort kommen und ihre jeweils eigene Sicht auf die geschilderten Ereignisse formulieren. Hieraus ergibt sich zudem grundsätzlich die Tatsache, dass gewisse Ereignisse (wie etwa die Annäherung oder die Bedrängung) wiederholt erzählt werden

151 und somit von vornherein für den Rezipienten eine besondere Relevanz suggerieren, wie auch Alexandra Kleihues betont:

Für den dreifach ausgeleuchteten Handlungsablauf gibt es demnach keine neutralen oder unbedeutenden Handlungsmomente, denn so wie die Wiederkehr einer Szene dieser eine besondere Bedeutung verleiht, evoziert auch das Fehlen einer erwarteten Wiederholung oder das unerwartete Hinzutreten bislang unbekannter Details den Eindruck des Bedeutsamen.639

Eine Unmittelbarkeit und eine direkte Nachvollziehbarkeit des Erzählten werden allerdings zunächst auf extradiegetischer Ebene durch die Erläuterungen der homodiegetischen Erzählerin Rosina erzeugt. Am Romanbeginn wird eine Kommunikationssituation durch die direkte Rede der Figur Rosina etabliert, die mit der Adressatin scheinbar eine vertraute Beziehung unterhält – an der wiederum der Leser durch das ‚Mitlesen‘ teilhat:

Sie sollen mir nicht danken, meine Freundin, daß ich so viel für sie abschreibe. Sie wissen, daß ich das Glück hatte, mit der vortrefflichen Dame erzogen zu werden, aus deren Lebensbeschreibung ich Ihnen Auszüge und Abschriften von den Briefen mitteile, welche Mylord Seymour von seinen englischen Freunden und meiner Emilia sammelte.640

Im Hinblick auf die Frage nach Authentizität lässt dieser Erzähleinstieg nicht nur erkennbar werden, dass scheinbar eine wahre Geschichte erzählt werden soll. So spricht etwa Becker-Cantarino von einer „Lebensnähe“641, die vorliegend als Umsetzung des Wahrscheinlichkeitspostulats aus der Romantheorie verstanden wird. Darüber hinaus ist aus diesen Zeilen abzuleiten, dass textinterner Adressat der Geschichte des Fräuleins von Sternheim eine Frau „als fiktionsinterne Leserin die Stellvertreterin der realen Leserin“642 ist und die Erzählerin sowohl mit der Adressatin als auch mit der Protagonistin jeweils eine vertraute Beziehung unterhält. Die Glaubwürdigkeit der zu erzählenden Lebensgeschichte wird gespeist aus dem Verweis auf die gemeinsame Jugend, durch den der gesamte Handlungsverlauf unter dem Vorzeichen eines Augenzeugenberichts gelesen werden kann643. Gestützt wird dies durch die Tatsache, dass Rosina Verfügungsgewalt über die Briefe hat. Es handelt sich demnach um eine exklusive Kommunikation, auf die nur ein sehr eingeschränkter Personenkreis überhaupt Zugriff hat. Der textexterne Leser wird somit aufgenommen in den Personenkreis derjenigen, denen die

639 Kleihues: Der empfindsame Blick, S. 42. Diesen Aspekt beleuchtet Kleihues, indem sie die Unterschiede zu Richardson betont: „Während Richardson seine Figuren niemals die gleiche Szene mehr als einmal erzählen lässt, sondern die von ihm präsentierten Briefe oftmals als entsprechend ‚gekürzt‘ bezeichnet, liegt der Reiz von La Roches Roman gerade in der Wiederholung. So werden dem Leser die entscheidenden Wendepunkte der doppelten Intrige, in der sich die Titelheldin verfängt, aus drei verschiedenen Perspektiven von Sternheim, Derby und Seymour berichtet.“

640 La Roche: Sternheim, S. 17.

641 Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, S. 91.

642 Langer: Wessen Geschichte ist die des Fräuleins von Sternheim?, S. 165.

643 Ähnlich Margrit Langner: Sophie von La Roche die empfindsame Realistin. Heidelberg 1995, S. 28: „La Roche gestaltet die fiktive Erzählerin Rosina als an dem Romangeschehen teilnehmende Figur, um die Geschichte der Protagonistin glaubhaft berichten zu können.“

152 Geschichte Sophie von Sternheims zuteilwird – eine vergleichbare Konstellation kennt der Rezipient bereits aus der Vorrede, in der der Austausch zwischen Wieland und La Roche öffentlich gemacht wird. Wie erzählenswert die Geschichte ist, lässt Rosinas Bereitschaft zur Abschrift offenbar werden. Der Rezipient sieht sich durch diese Einführung also mit einer authentischen Lebensgeschichte konfrontiert, deren Hauptakteure durch Briefzeugnisse selbst zu Wort kommen. Gerade diese Konstruktion gewährleistet tatsächlich den Eindruck großer Unmittelbarkeit644, da die Erzählerin sich lediglich an wenigen Stellen als solche zu erkennen gibt, um das Geschehen zu Sophies Gunsten zu kommentieren.

Es wird folglich auch hier eine Wissensgemeinschaft mit denjenigen etabliert, denen der Briefwechsel zur Lektüre vorliegt. Rosina weiß bereits, wie die Geschichte ausgeht und gibt auch ihren Rezipienten einen Hinweis auf das Ende, wenn sie recht beiläufig etwas über den Vater ihrer

„geliebten Lady Seymour“645 schreibt. Ihre Adressatin und somit auch die textexternen Leser erfahren bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, dass das Fräulein von Sternheim einst heiraten und als Lady Seymour ein glückliches Ende erleben wird. Die finale Motivierung der erzählten Geschichte wird ein weiteres Mal deutlich, als Rosina am Ende der Vorgeschichte formuliert:

Wir reiseten erst auf das Löbauische Gut, und von da mit der Gräfin nach D.; wo sich nun der fatale Zeitpunkt anfängt, worinnen Sie diese liebenswürdige junge Dame in Schwierigkeiten und Umstände verwickelt sehen werden, die den schönen Plan eines glücklichen Lebens, den sie sich gemacht hatte, auf einmal zerstörten, aber durch die Probe, auf welche sie ihren innerlichen Wert setzten, ihre Geschichte für die Besten unseres Geschlechts lehrreich machen.646

Durch die direkte Adressierung des fiktionsinternen Lesers wird wieder auch der empirische Rezipient unmittelbar angesprochen. Rosina artikuliert implizit eine Rezeptionsanleitung, indem sie auf die zu bestehende Probe verweist und den lehrreichen Charakter der Geschichte betont.

Der fiktionsinterne und auch der fiktionsexterne Rezipient sollen das in den folgenden Briefen Geschilderte als Vorbild verstehen. Dies ist zu deuten als ein erstes Indiz für die Vermittlungsfunktion, die diesem Roman nachgewiesen werden soll: Die Motivation der Erzählerin, die Geschichte des Fräuleins von Sternheim an eine vertraute Person weiterzugeben, beruht auf ihrer Überzeugung, Sophies Denken und Handeln in den genannten Proben seien lehrreich, also nachahmungswürdig. Der fiktionsinterne, und mit ihm der fiktionsexterne Rezipient, erhält hier eine mehr oder weniger deutlich formulierte Interpretationsaufforderung – er erfährt im Vorfeld, wie er die zu lesenden Dokumente verstehen soll647.

644So auch Jeßing: Kleine Geschichte des deutschen Romans, S. 54: „Der Romanbeginn suggeriert, gemäß der Dokumentarfiktion des hier angeblich herausgegebenen Briefwechsels, Authentizität.“

645 La Roche: Sternheim, S. 17.

646 La Roche: Sternheim, S. 57.

647 Von einer Rezeptionsanleitung geht auch Langer aus, Langer: Wessen Geschichte ist die des Fräuleins von Sternheim?, S. 165: „Rosina wiederum als höchste Erzählinstanz des nun folgenden Romans gibt eine ganz ähnliche Rezeptionsanweisung [wie Wieland, S.Z.] versteckt diesmal nicht im Gewand der

153 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Rosina damit die Geschichte einer anderen Person und nicht etwa die eigene erzählt. Über Rosina selbst erfährt der Leser im Laufe des Romans nichts als die Kerninformationen: Sie ist nicht nur Sophies enge Freundin und Beobachterin, sondern auch Emilias Schwester, an die Sophie ihre Briefe richtet. Dies ist ebenfalls vor dem Hintergrund der Vorbildhaftigkeit der Sophie zu lesen: Rosina hält ihre eigene Geschichte scheinbar nicht für annähernd so erzählenswert wie die ihrer Freundin. Dabei ist sie nur an einer Stelle am eigentlichen Briefwechsel beteiligt648, im Rest des Romans ist sie weder Senderin, noch Empfängerin. Wenn sie zu Wort kommt, dann in der Eigenschaft als Erzählerin der Rahmenhandlung, indem sie die Härte der Proben Sophies betont und die Außerordentlichkeit der jeweiligen Gemütszustände ihrer Freundin beschreibt. Auch dies ist im Kontext eines Authentizitätsanspruchs zu lesen, denn: „Die Ich-Erzählerin als erzählendes Subjekt kommt zwangsläufig in Konflikt mit dem Objektcharakter ihrer Rolle. Ein Erzähler dagegen steht ihr von vorn herein als Beobachter und Darsteller ihres verführerischen Bildes gegenüber.“649 Gerade in Bezug auf die Betonung der Vorbildhaftigkeit, die Rosina in ihren Einschüben stets zum Ausdruck bringt, sieht sich der Leser einer am Geschehen beteiligten Instanz gegenüber, die Bewunderung glaubwürdig artikulieren kann, ohne über sich selbst sprechen zu müssen. Damit erfüllt Rosina im Grunde die gleiche Funktion wie auch die galanten heterodiegetischen Erzähler, die die Figuren mit entsprechenden Attributen versehen.

In dieser Hinsicht ist es von Relevanz, an welchen Stellen Rosina ihre Funktion als Erzählerin erfüllt: Zum einen erzählt sie die Vorgeschichte der Eltern und liefert eine genealogische Begründung für Sophies empfindsame Tugend. Zum anderen kommt sie am Ende des ersten Teils zu Wort und macht innerhalb der Rahmenerzählung den Kontrast zwischen dem affektgeleiteten Derby und der tugendhaften Sophie deutlich. In diesem Moment läuft die Romanhandlung geradewegs auf das Paradigma der Bedrängung zu. Im Verlauf der sich aneinanderreihenden Briefe schaltet sie sich demnach ein, um die Orientierung im Gesamtverlauf zu verdeutlichen und Rezeptionshinweise durch Wertungen abzugeben: „Sie sehen meine Freundin, aus den Briefen des ruchlosen Lords Derby, was für abscheuliche Ränke gebraucht wurden, um die beste junge Dame

romanexternen Rechtfertigung, diesen veröffentlicht zu haben, sondern im Gewand der romaninternen, innerfiktionalen Begründung für das Abschreiben der Briefe.“

648 Sie schreibt einen Brief an ihre Schwester Emilia, die Empfängerin der Sternheimschen Briefe ist, um den Zustand Sophies nach der Scheinehe mit Derby zu beklagen, vgl. La Roche: Sternheim, S. 214.

649Lehmann: Das Modell ‚Clarissa‘, S. 45. Dies hält Lehman in Bezug auf eine Selbstbeschreibung Sophies im Roman fest, trifft m.E. aber grundsätzlich auf die Erzählsituation zu.

154 an den Rand des größten Elends zu führen.“650 Unmissverständlich artikuliert Rosina einen Hinweis darauf, wie das Geschilderte zu bewerten ist651.

Zudem wird Rosinas Rolle als die Erzählung im Hintergrund steuernde Erzählerin offensichtlich, als Sophie nach der Bedrängung in einem pathologischen Zustand der Ohnmacht verharrt und ihre eigene Perspektive selbst nicht mehr schildern kann: „Hier, meine Freundin, muß ich selbst wieder das Wort nehmen, um Ihnen von dem, was auf die unglückliche Veränderung in dem Schicksal meiner geliebten Dame gefolget ist, eine zusammenhangende Geschichte zu liefern.“652 Die direkte Adressierung der Freundin ruft dem Rezipienten die auf Vertrauen basierende, exklusive Kommunikationssituation in Erinnerung, die dem Roman zugrunde liegt und an der er ebenfalls teilhat. Auch hier verstärkt sich der Eindruck von Authentizität des Erzählten durch die Wahl der teilnehmenden Außenperspektive der Freundin Rosina, wenn sie den miserablen körperlichen und seelischen Zustand der Protagonistin beschreibt: „Still und blaß wie der Tod, die Augen zur Erde geschlagen, saß meine liebe Dame bei mir; kein Wort, keine Träne erleichterte ihr beklemmtes Herz […].“653 Die Drastik der Situation, die dem Rezipienten hier beschrieben wird, resultiert gerade aus der Beschreibung durch eine dritte Person, die noch dazu ihr Bedauern über den Zustand beteuert. Eine rückblickende Selbstbeschreibung würde der Handlungsohnmacht und Objekthaftigkeit Sophies als ihren Gefühlen und Affekten erlegene Figur nicht in gleichem Maße gerecht werden können. Für den Handlungsverlauf ist es wichtig, diesen Zustand der Gemütsunruhe markant und drastisch zu schildern, um die Überwindung des Zustands umso mehr als vorbildlich wirken zu lassen.

Bis auf diese zentralen Stellen am Beginn der Handlung samt Erzählung der Vorgeschichte der Eltern und in Bezug auf die Folgen der Bedrängung nimmt Rosina sich grundsätzlich zurück, so dass sich die Handlung aus der Abfolge der Briefe ergibt. Von entscheidender Bedeutung für die Vermittlungsfunktion, die dem Text nachgewiesen werden soll, ist dabei gerade das Zusammenspiel aus der polyperspektivischen, in der Figurenrede der Briefeschreiber wiedergegebenen Handlung und der Rahmenerzählung. So wird auch in der Forschung bisweilen darauf verwiesen, dass der textexterne Rezipient ebenfalls Adressat der Briefe ist, aus denen er – anders als die Figuren – ein Gesamtbild erhält. Treffend bringt es Helene Kastinger-Riley auf den Punkt:

Durch die Briefform wird der Leser indirekt zu einem angesprochenen Dritten, der jedoch die Funktion eines über den Ereignissen stehenden Zuschauers einnimmt.

Obgleich er sich bis zu einem gewissen Grade mit der Protagonistin identifiziert –

650 La Roche: Sternheim, S. 188. Weiter heißt es hier im Gestus eines Augenzeugenberichts: „Sie können sich vorstellen, wie traurig ich die Zeit zugebracht habe, von dem Augenblick an, da sie vom Ball kam, krank war und dabei immer aus einer bekümmernden Unruhe in die andere gestürzt wurde.“

651 Grundsätzlich zur Funktion Rosinas: Langner: Sophie von La Roche die empfindsame Realistin, S. 27:

„Die fiktive Erzählerin will den Weg der Protagonistin nachzeichnen, um damit deren beispielhafte Tugend zu demonstrieren.“

652 La Roche: Sternheim, S. 220f.

653 La Roche: Sternheim, S. 221.

155 Sophies Tugend und Leiden erwecken die vom Drama bekannten Empfindungen von

‚Furcht und Mitleid‘ – ist dieses subjektive Moment durch die Distanz zwischen Betrachter und Heldin objektiviert: Sophies Charakter und Handlungen werden einer Analyse bzw. einer Kritik unterzogen.654

Mit anderen Worten kann der Rezipient nicht nur in schwierigen Situationen mit Sophie mitfühlen und ihre Entscheidungen durch ihre eigene Sichtweise nachvollziehen, sondern durch die Kenntnis der Wissensstände der anderen Figuren die Ereignisse in ihrer Bedeutung relativieren655. Genau hierin zeigen sich die dem polyperspektivischen Briefroman grundsätzlich inhärenten „Möglichkeiten der Parallelführung und Kontrastierung, der stummen Kommentierung und des Aufbaus von Wissensdifferenzen sowohl der Figuren untereinander wie im Verhältnis der externen Leser zu jeder Einzelfigur“656. So offenbart sich dem Leser durch die auch hier zu konstatierende diskrepante Informiertheit die syntagmatische Verkettung der Ereignisse: Er kombiniert sein Wissen aus den Briefen Derbys, der Sophie in eine Scheinehe lockt, den Briefen Seymours, der den oberflächlichen Anschein der Ereignisse nicht hinterfragt, und den Briefen Sophies, die durch die Scheintugend Derbys zumindest zeitweise geblendet wird. Der Leser kann – nicht zuletzt durch die aus Rosinas Bericht abzuleitende finale Motivierung – nicht nur antizipieren, dass es zu einer Bedrängung kommen wird, sondern die entsprechende Situation auch als solche erkennen. Durch die Übersicht wird der Rezipient in die Lage versetzt, dabei den Stellenwert der Informationen einzuordnen: Er weiß, warum Seymour sich von Sophie abwendet und dass diese Abkehr eine entscheidende Voraussetzung für den Entschluss der Protagonistin ist, mit Derby zu gehen. Auch die Funktionsmechanismen der Scheintugend werden durch die

654 Helene M. Kastinger-Riley: Tugend im Umbruch. Sophie Laroches Geschichte des Fräuleins von Sternheim einmal anders. In: Dies.: Die weibliche Muse. Sechs Essays über künstlerisch schaffende Frauen der Goethezeit. Columbia 1986, S. 30. Ähnlich, aber weniger differenziert, Meise: Sophie von La Roche und der Genderdiskurs: „Die polyperspektivische Anlage des Briefromans erlaubt, die Wünsche und die Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle aller Beteiligten ausführlich zu Wort kommen zu lassen.

Während diese ihren Regungen beim Schreiben freien Lauf lassen, äußern sie sich doch einem Freund gegenüber, dem sie Vertrauen schenken, entsteht allein vor Leserinnen und Lesern ein Gesamtbild der Beweggründe der einzelnen und der Entwicklung der Titelfigur.“ Auch Fink: Lektüre der Romanhelden, S.

73, stellt hierauf ab: „Da der Leser als der vom Autor intendierte Adressat im polyperspektivischen Briefroman eventuell der einzige ist, der alle Briefe lesen kann, folglich eine Übersicht über die Geschehnisse erhält, wird er, mit Mandelkow zu reden, zum ‚Fluchtpunkt der divergierenden Perspektiven‘.“

655 Hierzu grundsätzlich auch Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin. Heidelberg 2008, S. 92: „Das multiperspektivische Erzählen, wenn etwa ein Ereignis wie das zentrale Hoffest in drei Briefen (aus der Perspektive Derbys, Seymours und Sternheim) geschildert wird, vermittelt die verschiedenen Motivationen, Reaktionen und Interaktionen der Beteiligten, die für den Leser das Bild Sophies und ihrer Geschichte entstehen lässt. Der allwissende Erzähler so das monologisch erzählende Ich in Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin ist durch die um die Figur Sternheim zentrierten multiperspektivischen Briefe ersetzt worden, die wiederum den Leser in ihre Dialogizität mit einbeziehen.“

656 Lothar Müller: Herzblut und Maskenspiel. Über die empfindsame Seele, den Briefroman und das Papier.

In: Gerd Jüttemann u.a. (Hrsg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Göttingen 2005, S. 280.

156 Kumulation der Informationen aus Derbys Briefen657, der Sophie durchschaut und sein Handeln danach ausrichtet, und Sophies Briefen, die es eben nicht durchschaut und durch das an den Tag gelegte Verhalten des Lords Vertrauen aufbaut, für den Rezipienten offenbar. Er kann dies als eine der Proben verstehen, die die Erzählinstanz Rosina zu Beginn des Romans angekündigt hat; die Spannung richtet sich nicht auf die Frage nach dem Was, sondern nach dem Wie: Wie wird sich Derby verhalten, um Sophie für sich zu gewinnen und wie wird Sophie auf die Bedrängung reagieren? Die Rahmung durch Rosina, die noch dazu durch ihre Bewertungen der Situationen die Vorbildhaftigkeit Sophies pointiert, leistet hierbei einen wesentlichen Beitrag zum Verhältnis des Lesers zum Text. Im Ergebnis ist es also gerade das Zusammenwirken der Erzählung Rosinas auf extradiegetischer Ebene mit der Entwicklung der Handlung aus den sich aneinanderreihenden und ergänzenden Briefen als intradiegetische Einschübe, die dem Leser den für die Vermittlung einer Sittenlehre zentralen Überblick über die Zuordnung der Figuren zur vernünftigen und unvernünftigen Liebe erlauben.

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