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Die Konzeption der Protagonistin als Ausnahmegestalt

III VORBEMERKUNGEN ZUR ANALYSE

3. Die Protagonistin als zentrales Strukturelement

3.1 Die Konzeption der Protagonistin als Ausnahmegestalt

Die weibliche Hauptfigur ist das zentrale Strukturelement aller Texte, da sie innerhalb aller herausgearbeiteten Paradigmen nicht nur in verschiedenen Konstellationen mit anderen Figuren steht, sondern weil ihre Entscheidungen und ihr Handeln den weiteren Verlauf des Romans jeweils bestimmen. Grundlage für diese Entscheidungen und ihr Handeln sind ihre grundlegenden Eigenschaften, die zu Beginn der Romane jeweils eingeführt werden. Für den weiteren Verlauf der Untersuchung ist auf diese für das Bewährungsschema konstitutiven Elemente im Vorfeld einzugehen.

167 Alle vier Romane stellen die weibliche Hauptfigur bereits durch ihre Titel in den Mittelpunkt: Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe (Bohse), Die liebenswürdige Adalie in einer annehmlichen und wahrhafftigen Liebes=Geschichte (Hunold), Leben der Schwedischen Gräfin von G*** (Gellert) und Geschichte des Fräuleins von Sternheim (La Roche). Während die beiden galanten Figuren schon vor Romanbeginn mit ihrem Namen und den charakterisierenden Attributen „getreu“ und „liebenswürdig“ eingeführt werden, werden die empfindsamen Damen zunächst über ihre soziale Verortung präsentiert: Es muss sich um Adlige oder zumindest höher gestellte Personen handeln, wie der Titel „Gräfin“ und der Nachname „von Sternheim“ bereits andeuten. Tatsächlich sind alle vier Damen von adliger Abkunft oder doch zumindest in einem höfischen Milieu zu verorten: Bellamira ist das „Fräulein von Cantelmo“ und Tochter von Don Pedro, der Kanzler am Hof von König Carl in Neapolis ist679. Sie ist dem Herzog von Nocera versprochen. Adalie ist zwar Tochter eines Kaufmanns, doch bewegt sie sich im Umfeld des „bey aller Welt berühmten Hof[es] zu Paris“680, an den sie gebeten wird681. Die Gräfin ist die „Tochter eines Livländischen von Adel“682 und heiratet sodann den Grafen von G. Sophie wird als Tochter des Obersten von Sternheim geboren, der für seine Taten geadelt wird683. Sie verbringt nach dem Tod beider Eltern eine gewisse Zeit am Hof eines Fürsten, an dem sie die Bekanntschaft der beiden Lords Seymour und Derby macht. Für die Konzeption der Figur ist diese Feststellung in Bezug auf den sozialen Hintergrund nicht etwa in der Frage nach einer etwaigen Opposition zwischen Adel und Bürgertum von Relevanz, sondern vielmehr hinsichtlich der sich ergebenden Tatsache, dass alle vier Damen wohl situiert sind und zu keiner Zeit in finanzielle Nöte geraten684. Dies wiederum ist nicht unerheblich in Bezug auf die Freizügigkeit der Protagonistinnen, deren Ungebundenheit und das Reisen (oder Flüchten) elementare Voraussetzungen für die Bewährung darstellen685.

679 Bellamira und Alexander werden verortet unter den Geflüchteten des Hofstaats des Königs Carl, der aufgrund eines Erdbebens die Hauptstadt des „Neapolitanischen Reiches“ verlassen musste: „Der König hatte sich selbst mit seiner gantzen Hoffstadt bereits dahin begeben/ und alle Grossen/ nachdem sie ihre meisten Kostbarkeiten auf das Wasser geschaffet/ folgeten ihm“; Bohse: Bellamira, S. 1f. Zudem ist in Bezug auf die Geflüchteten von den „vornehmsten Familien“ die Rede, so dass mit der Zuordnung zu dieser Gruppe Bellamira sich eindeutig in einem gut situierten Milieu befindet.

680 Hunold: Adalie, S. 4.

681 Vgl. Hunold: Adalie, S. 4.

682 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 9.

683 Vgl. La Roche: Sternheim, S. 17. Sophie ist zudem eine der Haupterbinnen des Barons von P., vgl. S. 47.

684 Dass dies für die galanten Romane ein gängiges Kriterium der Darstellung von weiblichen Hauptfiguren zu sein scheint, stellt auch Barthel in ihrer Analyse von Bohses Constantine und Rosts Atalanta fest, Barthel:

Gattung und Geschlecht, S. 309: „Sowohl Constantine als auch Atalanta sind adliger Herkunft und verfügen über ausreichend finanzielle Ressourcen […].“

685 Hierzu Barthel: Gattung und Geschlecht, S. 298: „Im weiblichkeitszentrierten Roman um 1700 tritt das Reisemotiv vielfältig auf und prägt narrative Raumstrukturen, in denen die Protagonistin agiert. Kaum ein Roman um 1700 kommt ohne eine Reise aus; ist dieses Motiv doch auch geeignet, um im Erzähltext Raumwechsel zu motivieren. Oft wird die Reise mit der weiblichen Hauptfigur, verbunden mit der Überwindung territorialer Grenzen und sozialer Sphären, zum zentralen Sujet und Movens der erzählerischen Gesamtkonzeption.“ Obgleich auch Sophie im Sternheim-Roman ebenfalls mehrere Ortwechsel vornimmt und gerade im zweiten Teil des Romans an mehreren Wirkungsstätten ihre Wohltätigkeit auslebt, postuliert Michaela Krug in Bezug auf die männlich und weiblich geprägte Erziehung Sophies, Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum, S. 77: „Der Frau ist vor allem eine private Bahn

168 Dies hat auch Auswirkungen auf den „Alltag“: Frei vom Zwang zum Erwerb finanzieller Mittel können es sich die vier Frauen regelrecht ‚leisten‘, über ihre Gefühle nachzudenken, Briefe zu schreiben, Arien über ihre Liebe zu singen oder sich in Wohltätigkeit für andere zu üben.

Ähnlichkeiten weißen die Protagonistinnen zudem hinsichtlich der Beschreibungen ihres Äußeren auf: Sowohl die galanten als auch die empfindsamen Figuren werden in Bezug auf Aussehen und Kleidung nur sehr spärlich beschrieben. Die Informationen sind nicht ausreichend, um sich ein konkretes Bild der Protagonistin zu machen. Gleichwohl werden die Hauptfiguren jeweils als Ausnahmeerscheinungen eingeführt, die zugleich äußere und innere Schönheit aufweisen. In der Adalie ist es Amor, der selbige mit einer „Schönheit“ ausstattet, „welche/ wenn sich das Glücke gleich Anfangs mit ihren Tugenden vermählet schon würdig gewesen wäre/ von aller Welt Cron und Zepter anzunehmen.“686 Adalie wird hier durch eine heterodiegetische Erzählinstanz beschrieben, die dem Rezipienten zwei wesentliche Informationen gibt: Schönheit und Tugend zeichnen sie aus. Zudem wird auf ihre Fähigkeit verwiesen, „Cron und Zepter“ führen zu können, während das fehlende Glück dafür verantwortlich gemacht wird, dass sie nicht gleich die Geschicke „aller Welt“ lenke. Dies ist als Vorausdeutung auf den Schluss zu verstehen, in dem Adalie und Rosantes in einem Zustand der Glückseligkeit tatsächlich Regierungsaufgaben übernehmen und für ihre Vorbildlichkeit gerühmt werden687. Die beiden hier erwähnten wesentlichen Eigenschaften der Protagonistin werden demnach nicht genealogisch begründet, sondern von einer alles überblickenden und überwachenden Instanz abgeleitet. Die Erwähnung von „Cron und Zepter“ im Zusammenhang mit Adalies grundsätzlich vorhandener Fähigkeit, diese zu führen, kann als Ausweis dafür gedeutet werden, es handele sich um eine so vorbildliche Person, dass andere ihr grundsätzlich folgen könnten/sollten. Darüber hinaus bezeichnet die Erzählinstanz Adalie als „unvergleichliche“, mit anderen Worten gibt es niemanden, der mit ihr und ihren beschriebenen Eigenschaften vergleichbar wäre, nur sie allein weist diese Qualitäten auf.

Die Beschreibung ihrer Eigenschaften, die gleichermaßen auf innere wie äußere Beschaffenheiten abstellt, wird im Verlauf des Romans vom Erzähler erneut aufgegriffen und somit bestätigt. Als Adalie am Hofe von Allerona in Begleitung der Herzogin Mommarancy eingeführt wird, wird sie als „hellglätzender Diamant bey anderen Edelsteinen“688 beschrieben. Der Hof wird als

„ansehnlichster in Teutschland“ deklariert689, so dass die Protagonistin als edelster der Edelsteine den Superlativ noch übertrifft. Dies beschränkt sich allerdings nicht allein auf ihr Aussehen: „Nun

zugedacht. Ihr Aktionsradius bleibt auf eine häusliche Sphäre beschränkt. Für Sophie bedeutet dies, daß das Erwerben mustergültiger Fähigkeiten in ‚Frauenzimmerarbeiten‘ einen zentralen Stellenwert einnimmt.

Dem Vorbild der Mutter nacheifernd übernimmt sie mit 16 Jahren die Organisation des gesamten väterlichen Hauswesens.“

686 Hunold: Adalie, S. 2.

687 Vgl. Hunold: Adalie, S. 459f. Siehe das Zitat am Beginn dieser Arbeit.

688 Hunold: Adalie, S. 177.

689 Vgl. Hunold: Adalie, S. 176f.

169 war es nicht allein ihre seltene Schönheit/ die sich in aller Augen Wunderwürdig machte/ sondern der durchdringende Verstand und geschickte Aufführung setzen sie in mehr als gemeine estim der anwesenden Cavalliers.“690Deutlich wird der „durchdringende Verstand“ hervorgehoben und in dem beschriebenen Abgrenzungsgestus zum Rest des Hofes als Besonderheit artikuliert.

Entscheidend ist zudem, dass diese Information nach etwa einem Drittel des Romans eine Bestätigung dessen darstellt, was der Leser ohnehin schon weiß691.

Weiter wird die Protagonistin zur Einführung als „unvergleichliche Adalie“ beschrieben, die einen der ansehnlichsten und berühmtesten Kauffmann [sic]/ Nahmens Brion in Paris/ zum glückseligsten Vater hatte/ und solche Vollkommenheit besasse/ daß auch der geschickteste zweiffelhaftig blieb/ ob er mehr den durchdringenden Verstand oder die seltene Schönheit an ihr bewundern solte.692

Entscheidend ist, dass Adalie als Person nicht nur Schönheit und Verstand als äußere und innere Eigenschaften zugeschrieben werden, sondern dass diese beiden einander zu übertreffen scheinen. Eben diese Kombination macht ihre Vollkommenheit aus; Verstand wird mithin als leitende Kategorie im Hinblick auf die Charakterisierung der Figur markiert. Gleichzeitig wird ein Abhängigkeitsverhältnis Adalies von ihrem Vater als kennzeichnendes Merkmal an den Anfang gestellt. Dieses beruht allerdings auf Gegenseitigkeit: Zwar wird die Protagonistin genealogisch über die Relation zu einem männlichen Verwandten, ihrem Vormund, vorgestellt, doch ist sie es, die dafür verantwortlich zeichnet, dass Brion als „glückseligste[r] Vater“ bezeichnet werden kann.

Zudem wird auch Brion durch zwei Superlative als überaus geschätzte Person dargestellt, was wiederum in der Genealogie auch auf Adalie als Tochter bezogen werden kann. Insgesamt kann mit Stauffer auf den Punkt gebracht werden: „Der Roman profiliert sie als eine vorbildliche Figur.“693

Während bei Adalie die Verbindung zwischen Tugend und Schönheit stark gemacht wird, liegt der Fokus in Bohses Roman in Bezug auf die einführenden Informationen zum Charakter der Protagonistin auf der Betonung ihrer Treue als wichtigstem Handlungsantrieb. Dies wird jedoch weniger direkt durch den Erzähler, als vielmehr im Kontext der Trennung von Alexander und der wörtlichen Rede der Protagonistin selbst ersichtlich. Zunächst wird Bellamira ebenfalls über die Beziehung zu einer männlichen Figur eingeführt, über ihren Verlobten Alexander von Nocera, als

„seine Braut, die schöne Bellamira, Fräulein von Cantelmo.“694 Anders als Adalie wird Bellamira hier zunächst nur als „schöne Braut“695 bezeichnet, von inneren Eigenschaften ist noch nicht die

690 Hunold: Adalie, S. 177.

691 Neben dem „durchdringenden Verstand“ wird wiederholt auch Adalies „hoher Geist“ als besondere Qualität benannt. Vgl. etwa S. 7 oder S. 177f.: Baron Werdingi „erkannte hieraus ihren hohen Geist und admirirte selbigen wegen der Seltenheit bey einem Frauenzimmer.“

692 Hunold: Adalie, S. 2.

693 Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 224.

694 Bohse: Bellamira, S. 2.

695Das Attribut „schön“ ist das einzige, das auf ihr Aussehen verweist; im Text kommt es jedoch immer wieder in Erzähler- wie auch in Figurenrede vor: „Die Gestalt dieser Schönen“ (S. 28), „Ein so schönes

170 Rede – abgesehen davon, dass der Romantitel mit dem Attribut „wohlgetreu“ bereits auf ihren wesentlichen Charakterzug verweist. Diese Kerninformation findet jedoch Bestätigung kurz nach Romanbeginn, der Leser wird nach einem kurzen Exkurs direkt mit der ersten Bewährungsprobe Bellamiras konfrontiert, in der sie ihre Treue zu Alexander unter Beweis stellt. Dies geschieht zunächst über die Schilderung der Perspektive Alexanders, der vom König fortgeschickt wurde, nun in Sizilien angekommen ist und seine ihm versprochene Bellamira vermisst. Seine Gedanken, die durch die Erzählinstanz wiedergegeben werden, verraten dem Leser, welches die zentrale Charaktereigenschaft der Protagonistin ist. Denn dieser „war […] ihrer Treue und eußersten Liebe gewiß genug versichert/ und hatte das feste Vertrauen/ daß sie ihm einmahl geschenckte Hertz nicht wieder zurück fordern würde.“696 Eine Bestätigung dieser Annahme Alexanders erhält der Leser nur kurze Zeit später, als der Erzähler den Fokus auf Bellamira richtet und ihren Drang beschreibt, sich aus jeglicher Gesellschaft zu entziehen, um ihren Gedanken an den Geliebten nachhängen zu können.697 Welche Gedanken und Gefühle die weibliche Hauptfigur zu Beginn des Romans beschäftigen, wird aus zwei Arien ersichtlich, die in wörtlicher Rede wiedergegeben werden. Inhaltlich geht es um die Trennung von ihrem Geliebten und der daraus entstehenden Unruhe in ihrem Gemüt, um den Wechsel zwischen Traurigkeit und Hoffnung und um die Formulierung ihrer Sehnsucht nach dem Geliebten:

Was schweifft ihr rum/ihr irrenden Gedancken/ Was ists/ das euch in eurer Ruhe stöhrt: Wie wolt ihr so durch Unmuthswellen wancken/ Als wie ein Schiff/ das ohne Steuer fährt: Stellt ein das Sorgen/ es bringt nichts ein/ vielleicht wird morgen ein Sonnenschein euch näher als das stürmen seyn.698

Auf Grundlage des Kontextes ist davon auszugehen, dass das implizit vorhandene lyrische Ich, das seine eigenen Gefühle adressiert, mit Bellamira gleichzusetzen ist699. Es fällt auf, dass sie von der Störung einer Ruhe spricht, die sie in die Metaphorik einer unruhigen See kleidet. Es ist von einem steuerlosen Schiff die Rede, was für einen Kontrollverlust spricht. Es ist davon auszugehen, dass die ersten Worte Bellamiras im Roman, obgleich sie in eine Arie gekleidet sind, ihren Gemütszustand schildern, der von einer Unruhe ob der Trennung von Alexander geprägt ist. Der Leser lernt die weibliche Hauptfigur somit als eine Person kennen, die großen Wert auf die Wahrung ihrer Liebesbeziehung legt und die einen Mangel, metaphorisch sogar eine Orientierungslosigkeit empfindet, wenn sie nicht bei ihrem Geliebten ist. Diese unbedingte Treue wird sich sodann in der ersten Bedrängungssituation mit Carl, die auf ein Belauschen der Arien

Fräulein“ (S. 35), „die Tränen dieser Schönen“ (S. 40), „die Würckung ihrer schönen Augen“ (S. 46), „die schöne Bellamira“ (S. 96; S. 293), „auf ihren schönen Lippen“ (S. 97), „dieses Wunder der Schönheit“ (S.

293), „Zeit Lebens keine schönere […] Dame gesehen“ (S. 443) etc.

696 Bohse: Bellamira, S. 25f.

697 Vgl. Bohse: Bellamira, S. 28.

698 Bohse: Bellamira, S. 30.

699Hierfür spricht auch die Beschreibung der „Vortragsweise“, die der Erzähler abgibt: „Sie gab der Stimme durch die traurigste Manier und den kläglichen Thon einen solchen Nachdruck/ daß der König so wohl als Printz Mataloni dadurch recht bewegt wurden.“ Bohse: Bellamira, S. 30.

171 durch den Monarchen folgt, gewissermaßen auch in der Praxis bestätigen. Wesentlich ist für die Anlage der Figur, dass sie sich nicht nur durch Schönheit, sondern auch durch ihre Tugendhaftigkeit, die eindeutig als Treue konturiert ist, auszeichnet und dies von Beginn an die beiden vorrangig vom Text explizierten Qualitäten der Protagonistin sind.

Gemein ist beiden Figuren neben den mehr oder weniger explizit gemachten inneren Qualitäten die Betonung des ausnehmend schönen Äußeren. Keine andere Figur wird in gleichem Maße beschrieben, so dass sie unübertrefflich anmuten. Dies ist im Hinblick auf die Vorbildlichkeit der Figur zu sehen; die Zentralfigur stellt somit ein Ideal dar, das zu erreichen als erstrebenswert suggeriert wird. Dabei steht die äußere, körperliche Schönheit in einem engen Zusammenhang mit der inneren, seelischen Schönheit und Gesundheit. Diese am Anfang bereits vergebene und im Laufe des Romans immer wieder betonte Information ist wesentlich für die Darstellung der Gemütskrankheit: Erliegt die Protagonistin ihren Affekten und somit der unvernünftigen Liebe, wird sie auch körperlich so krank, dass sie als ausgezehrt und matt beschrieben wird.

Bei den empfindsamen Figuren Gräfin und Sophie wird der Aspekt der Schönheit weniger stark betont, dafür liegt der Fokus auf der Herleitung der tugendhaften Eigenschaften aus der Kindheit, die in beiden Texten in unterschiedlicher Ausführlichkeit geschildert wird. Unerheblich ist das Äußere für die Beschreibung der Figuren dennoch auch hier jeweils nicht.

Die Gräfin, die Erzählinstanz ihrer eigenen Geschichte ist, stellt sich vor, indem sie zunächst von ihrer Erziehung berichtet. Nach dem Tod ihrer Eltern, die in ihren „zartesten Jahren“ gestorben seien, wuchs sie bei einem Vetter auf700. Ihr Äußeres erwähnt sie in ihrer einführenden Selbstbeschreibung lediglich ein Mal und setzt es deutlich in Bezug zu ihren inneren Qualitäten:

Er [ihr Vetter, S.Z.] sah, daß ich wußte, wie schön ich war; um desto mehr lehrte er mich den wahren Wert eines Menschen kennen und an solchen Eigenschaften einen guten Geschmack finden, die mehr durch einen geheimen Beifall der Vernunft und des Gewissens als durch eine allgemeine Bewunderung belohnt werden.701

„Schön“ ist auch hier wieder das beschreibende Adjektiv, dass die Gräfin selbstbewusst verwendet; zugleich folgt jedoch die Relativierung: Vernunft und Gewissen sind die Qualitäten, die wesentlich sind für den Charakter eines Menschen. Obgleich in diesem empfindsamen Text der Schwerpunkt auf die Verstandestätigkeit und moralische Qualitäten gelegt wird, zeugt diese Stelle von einem Bewusstsein der Gräfin für ihr Äußeres, das diese zu erwähnen scheinbar als wichtig erachtet, um ihre Priorität der inneren vor den ihr gegebenen äußeren Eigenschaften zu verdeutlichen. Dieser Gestus impliziert: Obwohl sie schön ist, legt sie auf diese Qualität keinen Wert, sondern definiert sich ausdrücklich über ihren Verstand. Entscheidend ist, dass der Rezipient die Information erhält, dass die Figur sowohl innerlich als auch äußerlich besondere Qualitäten aufweist und diese in einem Zusammenhang stehen. Auch in Gellerts Text sind es

700 Vgl. Gellert: Schwedische Gräfin, S. 9f.

701 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 10.

172 demnach „die schönen und wohlgeformten Menschen, die auch über moralischen Sinn verfügen“702. Hierin liegt eine Gemeinsamkeit zwischen der empfindsamen Figur der Gräfin und ihren galanten Vorgängerinnen.

Durch ihre Selbstbeschreibung wird neben ihrem Selbstbewusstsein auch die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion ersichtlich: „Ich fürchte, wenn ich meine Tugenden und Schwachheiten noch so aufrichtig bestimme, daß ich doch dem Verdachte der Eigenliebe oder dem Vorwurfe einer stolzen Demut nicht würde entgehen können.“703 Hier legt die Erzählerin einen Fokus auf ihre charakterlichen Eigenschaften und stellt es dem Rezipienten anheim, eine Wertung vorzunehmen. Der Bescheidenheitsgestus legt allerdings nahe, dass sie gerade durch ihre Tugendhaftigkeit überzeugen will. In dieser Hinsicht ist auch die einzige nähere Beschreibung ihres Äußeren zu verstehen, die sie als Erzählinstanz durch die Figurenrede des Gatten am Morgen der Hochzeit zum Ausdruck bringt:

Ich hatte nur einen leichten, aber wohl ausgesuchten Anzug an. ‚Sie gefallen mir vortrefflich in diesem Anzuge‘, fing der Graf zu mir an. ‚Er ist nach ihrem Körper gemacht, und Sie machen ihn schön. Ich dachte, sie legten heute keinen anderen Staat an.‘ […] Ich war also in meinem Brautstaat, ohne daß ich’s selber gewusst hatte.704

Die Gräfin beschreibt ihr Aussehen durch die Augen ihres Geliebten, bevor sie sich das eigentliche Hochzeitskleid angezogen hat. Betont wird hierdurch, dass sie keine äußeren Hilfsmittel benötigt, dass ihre Schönheit eine natürliche ist, die zugleich mit Einfachheit konnotiert wird705. Obgleich ihr eigenes Äußeres für die Gräfin nicht wesentlich ist, legt sie erneut Wert darauf, es zu erwähnen, um die beschriebene Schlichtheit als charakteristisch zu markieren. In diesem Kontext ist die Selbstbeschreibung ihrer Wirkung bei Hofe zu sehen: „Es war, wie schien, niemand schöner, niemand geschickter und vollkommener als ich. Ich konnte von der Menge der Aufwartungen und von dem süßen Klange der Schmeicheleien kaum zu mir selber kommen.“706 Obwohl die Gräfin ihre Einfachheit besonders betont, wird sie in adligen Kreisen als Ausnahmegestalt behandelt, wie bereits die beiden galanten Figuren. Auch im Fall der Gräfin handelt es sich um eine Figur, die sowohl für ihre inneren als auch ihre äußeren Qualitäten geschätzt wird. Den anhand der Reaktionen des Hofes formulierten Superlativ bezüglich ihrer optischen Gestalt und ihres Gebarens übertrifft die Erzählerin durch die Hervorhebung ihrer Scharfsichtigkeit in dieser Angelegenheit, die erneut mit einer Demonstration ihrer charakterlichen Stärke untermauert wird: So habe sie Mühe gehabt, nicht „eitel und hochmütig“ zu werden, denn die „Ehre, die mir allenthalben erwiesen ward, war eine gefährliche Sache für eine schöne und junge Frau, die den

702 Kramer: Poetik der Ausgrenzung, S. 36. Dies gelte sowohl für Männer als auch für Frauen.

703 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 10f.

704 Gellert: Schwedische Gräfin, S. 14.

705 Dass die Erzählerin in der Beschreibung ihrer Hochzeit dezidiert Wert auf den Bescheidenheitsgestus

705 Dass die Erzählerin in der Beschreibung ihrer Hochzeit dezidiert Wert auf den Bescheidenheitsgestus

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