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Rechtsverhältnisse

Im Dokument Wolter (1515). (Seite 76-80)

1V. Ter Estenaufstand von 1313; Verkauf Estlands an den Orden

13. Rechtsverhältnisse

Eine Kolonie war das Land, dessen Geschicke wir bisher betrachtet haben, unterstellt den Gewalten, die im Mittelalter unablässig mitein­

ander im Kampfe lagen, dem Kaiser- und dem Papsttum. Selten nur läßt das damals von seiner Höhe herabgesunkene deutsche Königtum hier seinen Einfluß spüren. Doch schon Bischof Albert hatte Belehnung und Regalien vom Reich erhalten (S. 30); ebenso sind Beziehungen des Stifts Dorpat, auch Ösels, zum Reich bekannt. Und der Orden hatte sich wichtige Privilegienerteilungen vom Kaiser sanktionieren lassen (S. 47). Das Papsttum aber hatte hier die Verwirklichung einer neuen

und großen Idee erstrebt (S. 23), und die ältere Geschichte Livlands ist ohne Rücksichtnahme auf die von Rom ausgehende Beeinflussung und auf die kirchlichen Zustände Westeuropas unverständlich. Das ist bei geistlichen Staaten, und auch der Orden war ein solcher, gar nicht anders möglich. Abhängig war die Kolonie aber auch selbstverständlich von der Kultur des Mutterlandes. Die Entwicklung der Rechtsverhält­

nisse, der Ausbau der Verfassung der Bundesstaaten, der in ihnen liegenden Stadtstaaten, die Regungen auf den Gebieten der Literatur und Kunst beruhen in ihren Grundlagen auf den Gestaltungen, die sie daheim angenommen haben. Es sind Ableger der betreffenden Er­

scheinungen, vorzugsweise aber nicht ausschließlich aus dem räumlich näheren Norden, der ja auch der Ausgangspunkt der Kolonie gewesen war. Aber nicht sklavisch hielt man sich an die verpflanzten Einrich­

tungen; man paßte sie allmählich den sich geltend machenden Anforde­

rungen an. Anstatt toter Formeln wurden Normen gefunden, die aus den Bedingungen des Lebens, der Fortentwicklung erwachsen waren.

Riga gelangte schon frühzeitig zur Autonomie, d. h. in Hinsicht auf die städtische Verfassung zur Unabhängigkeit von der bischöflichen Gewalt, der es sein Dasein verdankte. 1226 hat die Stadt schon einen Rat (S. 30), dessen Mitglieder sie selbst wählt, und erfreut sich anderer Grundrechte und Freiheiten (Gerichtsbarkeit, Verwaltung, Grundherrlich­

keit, Besteuerungs- und Kriegsrecht). Das anfangs als Rechtsnorm aufgenommene gotländische Recht (S. 15) wurde noch im ersten Jahrhundert des Bestehens der Stadt durch das Hamburger Recht (nach dem Hamburger Statut von 1270) verdrängt. Dieses ist dann zum rigischen Recht ausgewachsen. Es fand Eingang in andere liv-ländische Städte; Dorpat, Hapsal, Fellin usw. nahmen es an. Auch die kurländischen Städte hatten rigisches Recht, wie hier vorgreifend bemerkt werden mag; denn aus so früher Zeit mangeln uns hier die Nachweise (Goldingen, Windau; Pilten, Hasenpoth). In zweifelhaften Fällen holten sich die kleineren livländischen Städte ihre Rechtsbelehrung aus Riga. In Reval (das anfangs das riga-gotländische Recht bevor­

zugt hatte) galt das lübische Recht; im Jahre 1245 von König Erich IV. verliehen, wurde es 1348 der Stadt durch den Ordensmeister Goswin von Herike bestätigt. Das lübische Recht pflanzte sich von Reval nur auf Narva und Wesenberg fort. Appellationen (Scheltungen)

erfolgten aus diesen Städten nach Reval; konnte dieses keine die streitenden Parten befriedigende Entscheidung finden, so ging die Be­

rufung, ebenso wie in revaler Rechtsfällen, weiter nach Lübeck, an den

„Oberhof" (bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts); gegen den von diesem ergangenen Spruch war weitere Einrede nicht möglich.

Nachträgliche, ergänzende Verordnungen zum Stadtrecht, d. h.

Sammlung von Erlassen des Rats (Ratswillküren, jedoch in Auswahl), nannte man Burspraken, lat. Oivlloyuium (Bürgersprachen). Sie wurden in gewissen Terminen vom Rathause aus öffentlich zu jeder­

manns Kenntnisnahme verlesen, selbstverständlich in deutscher (nieder­

deutscher) Sprache (die Rigaer Bursprake von 1376 ist schon deutsch).

Diese Ratserlasse verdeutlichen uns die Ausbildung der Stadtrechte im Mittelalter; sie enthalten die sich aus den Verhältnissen, dem Leben er­

gebenden, nicht nach einer öden Schablone wiederholten Rechtssatzungen.

Jede Bursprake galt nur in der Stadt, für die sie erlassen war. Sie sind also für Riga, Dorpat, Reval, Alt-Pernau, Neu-Pernau, Windau, ob­

gleich aus gleicher oder einander sehr ähnlicher Grundlage entstanden, sehr verschieden und voneinander abweichend im Laufe der Zeit geworden.

Da die Stadtschreiber in älterer Zeit ausschließlich Geistliche waren, bedienten sie sich in ihren Aufzeichnungen des ihnen geläufigeren Latein, der Kirchensprache. In dieser fremden Sprache wurden (bis ins 14. Jahrhundert hinein) auch die von den geistlichen Schreibern geführten Stadtbücher verfaßt (Lehnbriefe sind lateinisch noch bis in den Anfang des 15. Jahrhunderts), wichtige Quellen unserer Kenntnis der Lebensäußerungen in den Städten. Schuldbücher, Kämmerei­

rechnungen (den städtischen Haushalt betreffend), Rentebücher, Erbe­

bücher (Erbe — Grundstück), die Vorläufer der Hypothekenbücher (die übrigens schon im späteren Mittelalter auch bei uns, z. B. Reval, vor­

kommen), in denen Ordnung und Regelung des Verkehrs ihren Nieder­

schlag fanden. Sie überliefern uns nicht bloß wichtigen rechtsgeschicht­

lichen Stoff, sondern aus ihnen läßt sich mancherlei Belehrung in kulturgeschichtlicher Beziehung gewinnen. Für Orts- und Personenkunde, für die Geschichte der räumlichen Ausbreitung der Städte und ihrer Bewohner, für Entwicklung des Bauwesens, der Münzverhältnisse usw.

sind sie eine unschätzbare Quelle.

Die Ausbildung des genossenschaftlichen (korporativen) Lebens hier­

zulande ist schon angedeutet worden (S. 15). Die Satzungen der Gilden und Handwerksämter (Zünfte, diese Bezeichnung kommt übrigens erst spät auf), die Schrägen (ursprünglich Rollen, später Blätter oder Bücher), wie deren Aufzeichnungen genannt werden, entwickeln sich neben den Stadtrechten, gehen ihnen Parallel. Sie bilden eine wichtige Quelle für die Erschließung der Lebensäußerungen in Handel und Ge­

werbe, den Grundsäulen der Städte. Ihre Regelung war ohne Mit­

wirkung des Rats nicht möglich; von diesem wurden die Satzungen be­

stätigt, ihre Entwicklung kontrolliert. Selbst eine so eigentümliche Ge­

nossenschast wie die der Schwarzen Häupter, die als Ortsfremde, die nicht Bürger waren, mit dem Regiment der Stadt nichts zu schaffen hatte, das neben dem Rat der Großen und Kleinen Gilde oblag, trat in dieser Hinsicht zum Rat in Beziehungen. Eine Sammlung der rigischen Schrägen gaben heraus W. Stieda und C. Mettig (1896);

eine Geschichte der Johannisgilde (Kleine Gilde) in Riga verfaßte Fr. Brunstermann (1902).

Als Eingriff in die städtische Rechtspflege können die Bestrebungen des Vehmgerichts gelten, jener eigentümlichen Form der Selbsthilfe und des Selbstschutzes, die sich in Westfalen (auf „roter Erde") zu Zeiten gänzlichen Verfalls des Rechtsschutzes ausgebildet hatte, das seinen Ein­

fluß bis hierher geltend zu machen suchte.

In Estland erfolgte die Fixierung des Lehnrechts ^): hier lebten fast ausschließlich deutsche Vasallen, und hier wurde 1315 vom König Erich VI. Menved das sog. Waldemar-Erichsche Lehnrecht vollzogen.

Es fand auch, doch mannigfach umgestaltet, im übrigen Livland Eingang („Ältestes Ritterrecht"). Unter Beeinflussung des Sachsenspiegels, einer um 1230 im Magdeburgischen von Eike von Repgow verfaßten Privat­

arbeit (Rechtsbuch), die aber bald zu allgemeiner öffentlicher Geltung gelangte, ist das wiek-öfelsche und das sog. mittlere Ritterrecht ent­

standen. Auch das älteste uns erhaltene ländliche Grundbuch bezieht sich auf Estland (I^idvr eensus Vs-viae, bald nach 1240). Ältere Wakenbücher, d. h. solche, die die Leistungen der Landbevölkerung an

I) Über die Entwicklung des Lehnswesens in Att-Livland handelt umfassend A. von Transehe (Mitteilungen aus der livländischen Geschichte, Bd. 18, Riga 1903; noch nicht abgeschlossen).

den Grundherrn regeln, sind uns aus dem Mittelalter nur in geringen Bruchstücken erhalten, die aber neben zerstreuten Nachrichten beweisen, daß solche Bücher, und damit derartige Einrichtungen schon verhältnismäßig früh vorhanden gewesen sind. Daneben waren zu gegenseitiger Kontrolle (bis weit ins 19. Jahrhundert hinein) auch Kerbhölzer in Gebrauch.

Noch hatten sich Spuren Römischen Rechts nicht eingestellt; es galt der urgermanische Rechtsgrundsatz, daß der Angeklagte vor ein Gericht von Standesgenossen gestellt, der Bauer also von Bauern ver­

hört und verurteilt oder freigesprochen ward. Die Motivierung war Sache des Rechtsfinders (unter Umständen also eines Bauern); den Spruch fällte der Urteilsmann.

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