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Interpretation und Zeichentypologie

2.3 Kellers Zeichenkonzeption

2.3.4 Interpretation und Zeichentypologie

Das Krawatten- und Schachbeispiel zeigt, wie ein schon bedeutungshaftes oder mit Be-deutung versehenes Objekt als Basis von Schlüssen dient: Die Schachfigur verrät einem guten Schachspieler unweigerlich, was der andere vorhat; die Krawatte offenbart, wel-che Intentionen der Erkältete (oder Simulant) damit verbindet. Das, was aufgrund einer Bedeutung erschlossen wird, ist der Sinn: Die Bedeutung einer Figur ist bei jedem Zug dieselbe, die Intention des Spielers und das vom Partner entsprechend Erschlossene (Sinn als rekonstruierte Intention) jedoch jedesmal eine andere. Entsprechend bedeutet die Krawatte immer Erkältung, selbst wenn ihr Träger lügt und der Sinn damit ein ande-rer wird (z.B. das Gegenüber täuschen zu wollen). An diesen Beispielen wird wiederum

deutlich, dass Zeichen nicht für etwas stehen: Wenn eine gelbe Krawatte für Erkältung stehen würde, könnte man mit ihr nicht lügen; wenn eine Schachfigur für die Intention eines Spielers stehen würde, wäre das Spiel ziemlich langweilig, da jeder den Partner sofort durchschauen würde. Wenn sprachliche Zeichen für die mit ihnen verbundenen Konzepte, Gedanken, Vorstellungen, Intentionen usw. stehen würden, wäre Missverste-hen unmöglich und man hätte direkten Zugang zu den mentalen Zuständen des Gegen-übers. Nicht das also, wofür das Zeichen steht, ist seine Bedeutung, sondern was seine Verwendung ermöglicht, d.h. was jemandem als Basis seiner Schlüsse dient. Bedeutun-gen sind Interpretationsschlüssel oder Indizien, und zwar bei allen Arten von Zeichen [Keller 1995: 113, 116, 131].

Gemäß Keller gibt es nun genau drei Zeichentypen, die durch die Methode ihrer Inter-pretation unterschieden werden: Symbole, Ikone und Symptome. Daraus folgt, dass je nach Interpret und seiner Interpretationsweise ein Zeichen jeweils einem anderen Typ zugehörig sein kann [vgl. Keller 1995: 117]: Was für den einen ein Ikon sein mag, kann für den anderen schon ein Symbol sein – man denke etwa an ‚chr-chr-chr’: Wer es be-reits kennt, für den ist es ein Symbol; wer es zum ersten Mal spontan interpretiert, für den ist es ein Ikon. Nach Keller gibt es genau drei Arten von systematischen Zusammen-hängen zwischen Wahrnehmbarem (Zeichen) und Nicht-Wahrnehmbarem (Erschlosse-nem), die dem Interpreten (nicht-wahllose) Schlüsse ermöglichen: regelhafte, assoziati-ve und kausale [Keller 1995: 113 f.]. Sie bilden die Grundmechanismen der Interpreta-tion: Das symbolische, ikonische und symptomische Verfahren bestimmen ein Zeichen entsprechend als Symbol, Ikon oder Symptom: „Wer bestimmte Flecken auf der Haut als Masern oder sich bewegende Grashalme als Zeichen von Wind interpretiert, voll-zieht einen kausalen Schluss; wer ein Schildchen auf dem Eßteller, auf dem ein durch-gestrichenes Schweinchen abgebildet ist (wie sie die Lufthansa auf Flügen in Länder mit muslimischer Bevölkerung benutzt), als Zeichen für muslimgerechte Speisen tiert, vollzieht einen assoziativen Schluss; und wer ‚tschüß’ als Abschiedsgruß interpre-tiert, kennt offenbar eine Gebrauchsregel und nutzt sie, um eben diesen Schluss daraus zu ziehen.“ [Keller 1995: 114]. Im Folgenden wollen wir die drei Zeichentypen gemäß der Kellerschen Auffassung im Detail betrachten.

Beginnen wir mit den Symbolen. Bedeutung wurde ja generell das genannt, was ein Zei-chen interpretierbar macht. Bei Symbolen ist es der geregelte Gebrauch, der dies leistet.

Er verhindert die wahllose Interpretation einer Lautkette wie ‚Hund’. Wir haben gelernt, wie wir mit diesem Wort umzugehen haben, so wie wir auch gelernt haben, mit einer Schachfigur oder einem Hammer umzugehen. Wir kennen gewissermaßen die ‚Bedie-nungsanleitung’ für die Figur und den Hammer wie für das Wort. Wir gehen stillschwei-gend davon aus, dass die anderen sie ebenfalls kennen und unterstellen, dass sie sich

sprachlich ebenso verhalten werden wie wir. Durch dieses kollektive Wissen erst wird ein systematisches und damit nicht-wahlloses Verwenden eines Zeichens möglich. Der Gebrauch eines Ausdrucks wird also bestimmt durch seine Gebrauchsregel im Sinne der Gebrauchsbedingungen, unter denen er verwendbar ist. Hierzu gehören gleichermaßen objektive wie auch subjektive Verwendungskriterien: „Der Unterschied zwischen den Bedeutungen der Wörter geizig und sparsam besteht beispielsweise darin, daß der Spre-cher das Wort geizig wählen sollte, wenn er die damit charakterisierte Disposition oder Verhaltensweise mißbilligt, und er mit der Wahl des Wortes sparsam zeigt, daß er sie billigt.“ [Keller 1995: 84, Herv. im Orig.]. Nur ein Teil der Gebrauchsbedingungen ei-nes Zeichens stützt sich damit auf Wahrheitsbedingungen, die Spezialfälle von allge-meinen Verwendungskriterien sind [vgl. Keller 1995: 67]: Da die Entscheidung zwi-schen ‚geizig’ und ‚sparsam’ von der Sprechereinstellung abhängt, kann dies kein ob-jektives Wahrheitskriterium sein. Der Gebrauch eines Ausdrucks meint die Gebrauchs-weise, die durch die Gebrauchsregel – letztlich auf Basis einer Konvention – bestimmt wird; Gebrauch kann nicht heißen, dass es sich um eine Gebrauchsinstanz handelt, denn die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache, nicht im Sprechen [vgl.

Keller 1995: 64 f.].29 Wir beschäftigen uns hier ja mit Ausdrücken im Sinne von Wör-tern und Sätzen der Sprache, nicht mit Äußerungen des Sprechens/Sprechers; hierfür be-nutzt Keller das Konzept des Sinns oder des Gemeinten [vgl. auch Keller 1995: 130].

Die Bedeutung des Hammers im System der Werkzeuge ist sein üblicher Gebrauch, den man kennen muss, um zu verstehen, was der Sinn bzw. die Intention eines konkreten Einsatzes eines Hämmernden ist, wenn er ein Loch in den Putz haut [Keller 1995: 132].

Ikone sind diejenigen Zeichen, die aufgrund assoziativer Schlüsse interpretiert werden.

Was ihre Interpretation ermöglicht und damit als ihre Bedeutung zu verstehen ist, ist ei-ne wie auch immer gefasste Ähnlichkeit des ikonischen Zeichens zum Gemeinten: Die Ähnlichkeit wird vom Produzenten eines Ikons benutzt, um im Rezipienten einen asso-ziativen Impuls zu bewirken, der ihn auf das vom Sprecher Gemeinte schließen lässt [vgl. Keller 1995: 126 f.]. Sobald die lose und einmalige Assoziation zur Regel wird, kippt das Ikon zum Symbol um, da sich die Weise der Interpretation geändert hat: „Zur Gewohnheit gewordene Assoziation hört auf, Assoziation zu sein.“ [Keller 1995: 126].

Damit wird auch erklärbar, dass das einstige Ikon ‚Kuckuck’ – wie viele andere – heute nurmehr als Symbol verstanden wird. Typische Ikone sind beispielsweise auch die stili-sierten Männlein und Weiblein an Toilettentüren, die Piktogramme der olympi-schen Disziplinen, das ‚O’ aus ‚O-Beine’ usw. [Keller 1995: 124]. Die Ähnlichkeit ist oftmals nur schwach ausgeprägt. Man macht sich selten klar, dass zwischen einem

29 Keller stützt sich hier erkennbar auf Wittgenstein. Wir kommen an anderer Stelle darauf zurück.

sierten Männlein an der Toilettentür und dem eigentlichen Sinn dieses Zeichens, näm-lich eine Männer-Toilette anzeigen zu wollen, keinerlei Ähnnäm-lichkeit besteht (Toiletten sind Männern gänzlich unähnlich). Vielmehr ist es die assoziative Gabe des Interpreten, hierin den korrekten Sinn des Ikons zu erschließen und dadurch eine Erkenntnis zu gewinnen (z.B. ‚Hier gibt es eine Toilette’). Die Ähnlichkeit kann also unter Umständen weit hergeholt sein: Sie „kann (i) lautlich, graphisch, gestisch, (ii) direkt oder indirekt und (iii) stärker oder schwächer sein“ [Keller 1995: 125]. Im Falle der O-Beine ist sie grafisch, direkt und schwach (O-Beine beschreiben nur andeutungsweise ein O), im Fal-le des ‚Kuckuck’ ist sie lautlich, indirekt und stark (indirekt, weil die Ähnlichkeit nicht zwischen Wort und Tier, sondern zwischen Wort und seinem Ruf besteht, der sich erst auf das Tier bezieht). Die Stärke von Ikonen ist, dass sie praktisch sprach- und kulturun-abhängig sind, solange sie auf die natürliche Assoziationsgabe des Menschen zurück-greifen [Keller 1995: 125]. Jeder hätte etwa die Möglichkeit zu verstehen, wenn jemand spontan mit jeder Hand Daumen und Zeigefinger zu einem O formt und jeweils über die Augen hält, dass damit eine Brille gemeint ist (z.B. wenn jemand aus dem Fenster des Büros diese Geste macht, während Sie ins Auto einsteigen, um anzuzeigen, dass Sie Ihre Brille im Büro vergessen haben [vgl. Keller 1995: 126 f.]). Allerdings ist die Zahl der möglichen Interpretationen ungleich höher, als wenn jemand stattdessen ‚Deine Brille ist noch hier!’ ruft. Symbole sind in diesem Sinne informativer als Ikone, weil sie durch ihre kollektiv akzeptierte Begriffhaftigkeit weniger Interpretations-Alternativen zulassen [vgl. Keller 1995: 131].

Symptome sind solche Zeichen, die mit Hilfe kausaler Schlüsse interpretiert werden.

Dies setzt voraus, dass man die kausalen Zusammenhänge in der Welt kennt. Da dies bei allen Menschen der Fall ist, sind auch Symptome universell interpretierbar. Sie sind die einfachsten und archaischsten Zeichen, die ebenso von Tieren verstanden werden [Keller 1995: 118]. Das plakativste Beispiel für Symptome sind die berühmten Masern-flecken auf der Haut, die auf die (nicht-wahrnehmbare) Krankheit Masern verweisen.

Auch unser Innenleben dringt oftmals unbeabsichtigt nach außen: Erröten kann Symp-tom von Scham sein, Zittern von Angst, Tränen von Trauer, Grinsen von Heiterkeit oder Schadenfreude usw. [vgl. Keller 19942: 36; Keller 1995: 118]. Symptome sind gemäß Keller in einem anderen Sinne Zeichen als Ikone und Symbole: Sie werden nicht intenti-onal zur Kommunikation genutzt, um dem anderen etwas zu erkennen zu geben – bei unfreiwilligen Körpererscheinungen wie oben wird dies besonders deutlich –, sondern sie sind einfach nur ‚da’. „Interpretieren ist eine einfachere Fähigkeit als die Fähigkeit, jemanden dazu zu bringen, eine bestimmte Interpretation zu leisten.“ [Keller 1995:

118]. Symptome werden aufgrund ihres Status erst zu Zeichen durch ihre interpretative Nutzung, sie sind nicht ‚in Gebrauch’ wie Ikone oder Symbole; ansonsten wäre alles

Zeichen von allem [Keller 1995: 119]. Daher haben Symptome auch weder einen Sen-der noch einen Adressaten. Symptome besitzen gemäß Keller jedoch Bedeutung, wie al-le anderen Zeichentypen: Sie besteht in dem systematischen Zusammenhang, der Zei-chen interpretierbar macht. In diesem Falle ist es die kausale Relation, die zwisZei-chen Symptom und Erkenntnis herrscht. Was die Masernflecken interpretierbar macht, ist die Tatsache, dass es eine kausale Verbindung zwischen ihnen und der Krankheit gibt. Hier besteht also eine Teil-Ganzes-Relation: Masernflecken sind Teil des Krankheitsbildes der Masern. Fingerabdrücke oder Fußspuren werden durch die Ursache-Wirkungs-Be-ziehung interpretierbar, die Angel einer am Ufer stehenden Person kann über die Mittel-Zweck-Relation interpretiert werden [Keller 1995: 120 f.]. „Symptome sind [also] Zei-chen, deren Interpretationsmethode die des kausalen Schließens ist.“ [Keller 1995: 121].

Aufgrund der Tatsache, dass es nur Symptomokkurenzen gibt, kann es auch kein Lexi-kon der Symptome geben, so wie dies bei Symbolen und partiell ILexi-konen der Fall ist. Ein Symptom ist darüber hinaus in seiner ‚Erkenntniskraft’ unbeschränkt: Es lässt sich aus ihm alles erschließen, was kausal damit verbunden ist aufgrund der oben genannten drei Relationen [Keller 1995: 123].