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2.3 Kellers Zeichenkonzeption

2.3.3 Ausdruck und Bedeutung

Sprachliche Zeichen sind daher ihrem Wesen nach sich verändernde Einheiten [Keller 1995: 104]. Das heißt aber nicht, dass die Bedeutung von Zeichen sich andauernd und kurzfristig ändert; vielmehr erfolgt eine ‚schleichende’, selten abrupte Änderung von Bedeutung und Begriff eines Zeichens. Wenn also Veränderungen an einem Zeichen sichtbar werden, dann meist nur in Zeitlupe. Dadurch ist es möglich, dass Zeichen zur Kommunikation eingesetzt werden, um dem anderen zu erkennen zu geben, wozu man ihn bringen möchte. Wie Zeichen das schaffen, wurde bereits angedeutet: Die natürliche Interpretationsfähigkeit des Menschen ermöglicht, dass überhaupt Zeichen als solche wahrgenommen und verstanden werden können; geteiltes Begriffs-, Welt-, Situations- usw. Wissen im Speziellen erlaubt zudem, dass nicht nur willkürlich individuelle Inter-pretationen zustande kommen. Erfolgreiches Kommunizieren setzt ja voraus, dass man sich auf eine Art Standard oder Konvention berufen kann, die alle kennen und einhalten.

Geteiltes Begriffswissen für sich allein kann nun allerdings nicht erklären, wie Zeichen so verwendet werden können, dass das Gegenüber zum ersten Mal lernt oder zum wie-derholten Male erkennt, was der Kommunikant eigentlich meint. Denn Begriffswissen zu haben heißt, das Zeichen schon zu kennen; wie man sich aber seinen Umgang über-haupt erst aneignet, ist damit nicht gesagt. Zudem korrelieren auch nicht alle Zeichen mit Begriffen: Viele Wörter wie ‚dass’, ‚sich’, ‚und’, ‚das’ usw. bilden keine Kategori-en, sind aber dennoch Zeichen mit Bedeutung. Es gilt also zu explizierKategori-en, was ein Zei-chen zum ZeiZei-chen macht (der Begriff ist es jedenfalls nicht) und wie ZeiZei-chen aufgrund ihrer Eigenschaften dem Denken und Kommunizieren so dienlich sein können, dass sie sprachbasierte Informationsvermittlung ermöglichen.

Zeichen sind wahrnehmbare Erscheinungen der Umwelt, Begriffe sind – zumindest nach der Meinung Kellers – epistemische Einheiten unserer Kognition und damit nicht unmit-telbar einsehbar. Damit Zeichen aber objektiv bzw. intersubjektiv funktionieren können im Hinblick auf Individuen- wie auch Kontextunabhängigkeit – als Voraussetzung jeg-licher Kommunikation –, muss es signifikante Eigenschaften des Zeichens sowohl hin-sichtlich seiner perzeptuellen als auch konzeptuellen Substanz geben, um seine Identität und damit sein Funktionieren sicherstellen zu können. Unter dem Aspekt der Wahr-nehmbarkeit ist es die gleichförmige sinnliche Realisierung eines Zeichens als akusti-sche, visuelle, haptische usw. Erscheinung: Wir haben gelernt, wie wir Wörter der Spra-che so zu realisieren haben, dass sie erkennbar und interpretierbar sind. Unter dem As-pekt der Interpretierbarkeit sind es einige bestimmte wiederkehrende Umstände des Zei-chengebrauchs, die die Interpretation und Verstehbarkeit ermöglichen: Was von einem Zeichen neben seiner sinnlichen Realisierung wahrnehmbar ist, ist sein Verwendungs-kontext einschließlich Sprecherverhalten, gegenwärtige Objekte und Relationen, soziale

und physische Gegebenheiten wie auch der bisherige sprachliche Diskurs. Aus all dem lässt sich ableiten, wie ein Zeichen generell zu realisieren und zu gebrauchen ist, damit es wahrnehmbar und interpretierbar bleibt. Keller hat diese beiden Aspekte der Wahr-nehmbarkeit und Interpretierbarkeit als definitorisch für Zeichen erkannt. Ersteres nennt Keller Ausdruck, Letzteres Bedeutung eines Zeichens [Keller 1995: 108 ff.]. Sie sind nicht als (zuvor) unabhängige Komponenten eines Zeichens zu verstehen, sondern als aufeinander angewiesene Aspekte.

Dabei ist zu beachten, dass nicht das Wahrgenommene oder das Interpretierte selbst als Ausdruck und Bedeutung in Frage kommt, sondern das, was die Wahrnehmung und Interpretation jeweils ermöglicht: „Die Eigenschaft, vermöge derer ein Zeichen wahr-nehmbar ist, soll ‚Ausdruck des Zeichens’ heißen; die Eigenschaft, vermöge derer das Zeichen interpretierbar ist, sei ‚Bedeutung des Zeichens’ genannt.“ [Keller 1995: 109, im Orig. fett, Herv. J. R.]. Der Sinn hinter der Zuflucht zu Potenzialitäten bei Ausdruck und Bedeutung ist, dass es – über die einzelnen Sprecher und Kontexte hinweg – allen Zeicheninstanzen gemeinsame Bedingungen geben muss, die eine Erscheinung als Zei-chenvorkommnis eines bestimmten Zeichen(typ)s auszeichnet. Hierfür konstitutiv kann weder der Ausdruck noch die Bedeutung eines Zeichens alleine sein: Was etwa nein, nein und ‚nein’ zu verschiedenen Realisierungen ein und desselben Zeichens macht, ist die Tatsache, dass alle drei Ausdrücke |nain| dieselbe Bedeutung tragen, und dass diesel-be Bedeutung NEIN durch denselben Ausdruck perzeptuell verschieden realisiert wurde [vgl. Keller 1995: 111]. Ein Zeichen kann seine Identität nicht bewahren, wenn |nain|

plötzlich GURKE bedeuten könnte oder NEIN auf einmal als |kürbis| ausdrückbar wäre.

Offensichtlicher wird diese wechselseitige Abhängigkeit von Ausdruck und Bedeutung bei erfundenen Zeichen wie ‚nobenisch’: Solange man nicht bestimmt hat, wie dieser Ausdruck einheitlich zu gebrauchen ist, gibt es kein Kriterium seiner Identität [vgl. Kel-ler 1995: 110 f.]. So könnte man ja auf die Idee kommen, dass NOBENISCH etwas anderes bedeutet als nobenisch, ohne dies begründen zu müssen, solange es eben keinen ver-bindlich festgelegten Gebrauch dieses Ausdrucks gibt (man könnte die Ausdrücke z.B.

als homophon oder homograph betrachten, so wie ‚Bank’ zwei verschiedene Zeichen meint).

Solange einem Zeichen einer der beiden Aspekte fehlt, liegt nicht ein halbes, sondern gar kein Zeichen vor: Was nicht wahrnehmbar ist, ist auch nicht interpretierbar; und was nicht interpretierbar ist, kann kein Zeichen sein [vgl. Keller 1995: 109]. Was ein Zei-chen interpretier- und verstehbar macht, wurde Bedeutung genannt und ist seinem ein-heitlichen Gebrauch zu verdanken; was hingegen ein bestimmter Sprecher mit einem Zeichenvorkommnis im Kontext meint, nennt Keller das Gemeinte oder den Sinn [Kel-ler 1995: 111, 116]. Die Bedeutung eines Ausdrucks zu kennen ist die Voraussetzung,

um seinen aktualen Sinn erschließen zu können, der kategorial völlig verschieden ist von der Bedeutung und auch kein Aspekt des Zeichens ist: „Das Bezeichnete und das vom Sprecher Gemeinte sind nicht Teil des Zeichens. Ideen, Gedanken und Intentionen sind keine Aspekte des Zeichens. Mittels Zeichen lassen sich Intentionen realisieren, so wie man mit Geld Wünsche realisieren kann. Aber der Wunsch ist so wenig ein Aspekt der Münze wie die Intention ein Aspekt des Zeichens. Ideen, Gedanken und Vorstel-lungen lassen sich mit Hilfe von Zeichen mitteilen dank der Zeichenbedeutung.“ [Keller 1995: 111 f., Herv. im Orig. fett]. Die Bedeutung eines Zeichens ist nichts Fluktuieren-des, sich ständig an den jeweiligen Sprecher und Kontext AnpassenFluktuieren-des, sondern das not-wendig stabile Moment der Sprache, um Kommunikation zu ermöglichen. Wäre die Be-deutung eines Zeichens bei jeder seiner Verwendungen verschieden, wie sollten wir je in der Lage sein, das vom Sprecher jeweils tatsächlich Gemeinte herauszufinden? Be-deutungen sind daher unveränderliche Prämissen in Schlussprozessen, um den Sinn ei-ner Zeichenverwendung erschließbar zu machen.

Das oft herangezogene Beispiel des Schachspiels mag dies verdeutlichen [vgl. Keller 1995: 66 f., 116]: Die Bedeutung oder den Gebrauch der einzelnen Schachfiguren (ana-log Zeichen) zu kennen heißt zu wissen, wie man mit ihnen ziehen darf und wie nicht.

Diese kann man hinsichtlich ihrer Verwendung auch festlegen, ohne dass man tatsäch-lich eine Partie spielt: Die Figuren bzw. analog Zeichen besitzen Bedeutung auch dann, wenn gerade kein Schach- oder Sprachspiel im Gange ist. Um nun den Sinn eines ein-zelnen Zuges in einer Partie verstehen zu können, muss man wissen, wie man die Figu-ren gebraucht, d.h. welchen Wert und welche Bedeutung sie auch unabhängig vom Spie-ler und von der konkreten Aufstellung auf dem Brett (analog Sprecher und Diskurs/

Kontext) besitzen. Die Bedeutungen der Figuren bzw. Zeichen zu kennen ist die Vor-aussetzung dafür, den aktuellen Sinn eines Zuges (Zeichenverwendung, Äußerung) er-mitteln zu können. Durch die Schachanalogie wird auch klar, dass Bedeutungen keine

‚Teile’ von Zeichen sind, so wenig wie der Gebrauch oder der Wert eines Turms (seine Bedeutung also) ein Teil von ihm ist, sondern ein Aspekt desselben [vgl. Keller 1995:

68]. Das Praktische an dieser Sichtweise von Bedeutung ist, dass man sie einfach erklä-ren kann, so wie man den Gebrauch eines Turmes oder Läufers im Schachspiel erklärt.

Es ist nicht nötig, Zuflucht zu nehmen zu geheimnisvollen Entitäten wie Platonischen Ideen oder Fregeschen Sinnen. Man lernt mit den Zeichen korrekt umzugehen, um seine Intentionen zu realisieren, wie man lernt mit den Figuren korrekt umzugehen, um seine Ziele zu erreichen. Dahinter verbirgt sich der Erwerb einer Praxis, die für alle erlernbar ist, solange der tatsächliche Sprachgebrauch im Sinne des praktischen und sichtbaren Umgangs mit einem Zeichen im Kontext gewährleistet ist.

Ein weiteres veranschaulichendes Beispiel zeigt, wie nicht nur Zeichen mitsamt ihrer Bedeutung entstehen, sondern wie man sie als solche überhaupt erkennt, durchschaut und sich den Umgang mit ihnen aneignet [vgl. Keller 1995: 69 f.]: (1) Jemand hat eine Marotte. Immer wenn er erkältet ist, trägt er eine gelbe Krawatte. Damit liegt aber noch keine Regel vor, sondern bestenfalls eine Regularität, denn niemand könnte hier irgend-jemand Regelverletzung oder fehlerhafte Anwendung der Krawatte vorwerfen, höchs-tens individuelle Inkonsequenz. (2) Die Marotte wird durch die Menschen der Umge-bung durchschaut; damit wird die gelbe Krawatte für die anderen ein Zeichen dafür, dass der Krawattenträger erkältet ist. Es liegt jedoch noch kein kommunikatives Zeichen vor, denn es ist nicht die Intention des Trägers, anderen damit seine Erkältung kundtun zu wollen (es handelt sich ja nur um eine unbegründete Marotte). (3) Die anderen Per-sonen finden Gefallen an der Marotte und übernehmen sie. Aus einer individuellen Ma-rotte ist ein kollektiver Spleen geworden, der aber immer noch nicht den Status eines kommunikativen Zeichens hat, solange sie damit nicht anderen gegenüber etwas zum Ausdruck bringen wollen. (4) Durch Interaktionsverhalten im Sinne gegenseitiger Beob-achtung, reflektierender Gespräche und letztlichem Sanktionsverhalten bei Abweichung vom Spleen entsteht kollektives Wissen über die Marotte, die damit aufhört, eine unab-hängige Marotte von einzelnen zu sein. Jeder erkennt vom anderen, dass er bei Erkäl-tung eine gelbe Krawatte trägt, und jeder andere erkennt und weiß, dass er das weiß. So entstehen gegenseitige Erwartungshaltungen: Man trägt eine gelbe Krawatte, wenn man erkältet ist. Genau ab diesem Zeitpunkt liegt eine Regel vor, denn von nun an kann man dem anderen auch vorwerfen, erkältet zu sein und keine gelbe Krawatte zu tragen. Die gelbe Krawatte ist zum Zeichen für Erkältung geworden; man kann dem anderen durch Tragen einer solchen zu erkennen geben, dass man erkältet ist. Ebenso lässt sich von nun an mit einer gelben Krawatte lügen, wenn man gar nicht erkältet ist.