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Wir haben bereits die Konventionalität der Sprache festgestellt und dies im Sinne einer Kollektivgewohnheit interpretiert. Gewohnheiten sind nichts, was man zu gegebener Zeit begründen kann: Man folgt ihnen oder nicht – sie sind, was sie sind. Nur rückbli-ckend ließe sich feststellen, wie man einer Gewohnheit erlegen ist. Gewohnheiten sind daher kontingent: Warum wir zum Ausdruck unserer Trauer Schwarz tragen, mag durchaus historische Gründe haben, d.h. es mag eine erste Grundlegung hierfür gegeben haben. Warum wir heute jedoch Schwarz tragen, und nicht etwa Weiß, wissen wir meist nicht mehr – man macht es eben so. Analog gilt dies für die Zeichen der Sprache: Wa-rum wir zum Ausdruck unserer Vorstellung von einem Baum das Wort ‚Baum’

14 Dies klingt wie ein Widerspruch zum Kompositionalitätsprinzip der Bedeutung eines Ausdrucks. Saus-sure spricht jedoch zuvorderst vom Wert und nicht von der Bedeutung. Zudem gilt es zu bedenken, dass er nicht nur spontan gebildete neue Ausdrücke betrachtet, sondern auch bereits seit Längerem fest im Lexikon verankerte, die aufgrund der semantischen Drift der Zeichen stets ein Eigenleben hinsicht-lich ihres Signifikats zu führen beginnen (vgl. ‚Schäfer’). Es ist also unklar, ob hier wirkhinsicht-lich ein Wi-derspruch begründet liegt.

nutzen, die Franzosen aber ‚arbre’ und die Engländer ‚tree’, ist aus heutiger Perspektive völlig kontingent. Lautbild und Vorstellung stehen offenbar in keiner notwendigen Be-ziehung zueinander, d.h. sie sind arbiträr (beliebig, willkürlich): „Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die assoziative Verbindung einer Bezeichnung mit einem Bezeichneten erzeugte Ganze verstehen, so können wir dafür auch einfacher sagen: das sprachliche Zeichen ist beliebig.“ [Saussure 19672: 79, Herv. im Orig.].

Konkret heißt dies für ein beliebiges Zeichen einer Sprache, dass die Eigenschaften des Lautbildes sich nicht aus den Eigenschaften der entsprechenden Vorstellung herleiten lassen: „So ist die Vorstellung ‚Schwester’ durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge Schwester verbunden, die ihr als Bezeichnung dient […]“ [Saussure 19672: 79]. Dieser dem einzelnen Zeichen inhärenten Beliebigkeit steht eine dem Sprachsystem innerliche zur Seite: Die paradigmatische Organisation des Lexikons im Hinblick auf die Abgrenzung der Zeichenwerte untereinander ist ebenfalls arbiträr, d.h. nicht vorher-sagbar. Warum etwa das Englische ‚flesh’ und ‚meat’ unterscheidet, wo das Deutsche nur ‚Fleisch’ sagt, ist nicht begründet. Dass das deutsche Signifikat FLEISCH eine größe-re Reichweite und damit Vagheit hat, ist der Gesamtstruktur des Sprachsystems zu ver-danken, dessen sprachhistorisch (diachron) gewachsene Struktur keinen rationalen Kri-terien folgt. Die Beliebigkeit der Zeichen und im Gefolge des gesamten Sprachsystems erfordert die kollektive unausgesprochene Anerkenntnis durch die Sprechergemein-schaft, dass bestimmte Signifikanten mit bestimmten Signifikaten eine Einheit bilden und sich auf eine bestimmte Weise von anderen Signifika(n)ten abgrenzen. Dies kommt einer stillschweigenden Übereinkunft im Sinne einer Konvention gleich, einer Art Ver-trag zwischen den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft, der unhinterfragt und ohne je-de Verhandlungen akzeptiert wird.15

Dass Zeichen arbiträr sind, heißt jedoch nicht notwendig, dass sie nicht motiviert sein können hinsichtlich der Beziehung zwischen Lautbild und Vorstellung. An anderer Stel-le wurde bereits gesagt, dass Onomatopoetika lautmaStel-lerische Zeichen sind, deren Signi-fikant einem Aspekt des durch das Signifikat bestimmten Objekts entsprechen. Diese Zeichen sind damit motiviert, aber dennoch arbiträr: „vgl. franz. ouaoua und deutsch wau wau“ [Saussure 19672: 81]. Dies lässt sich nicht nur an den unterschiedlichen laut-lichen Imitationsweisen verschiedener Sprachen ablesen; vielmehr sind solche Zeichen allein schon aufgrund ihrer Unterwerfung unter das System aller anderen Zeichen einer

15 Fehr und andere bemerken hier zurecht, dass dieser Kontrakt ohne explizite Absprache zustande kom-men können muss, da sonst eine Sprache bereits vorausgesetzt wäre, um eine (andere) Sprache zu schaffen [vgl. Fehr 1997: 149].

Sprache in ihrem Wert relativ festgelegt (vgl. ‚wauwau’ vs. ‚wuffwuff’ vs. ‚Hund’ vs.

‚Köter’ usw.). Welche und wie viele andere Zeichen den Wert eines Onomatopoetikums in einer Sprache mitbestimmen, ist ebensowenig voraussagbar und damit arbiträr. Neben diesen Onomatopoetika gibt es eine weitere Gruppe von Zeichen, die man als motiviert in einem anderen Sinne begreifen kann: Dies betrifft komplexe Zeichen, deren Zusam-mensetzungsprinzip gewissermaßen noch durchsichtig ist, deren Teile jedoch im Sinne einfacher Zeichen selbst unmotiviert sind: „[D]as Zeichen kann relativ motiviert sein. So ist elf unmotiviert, aber drei-zehn ist es nicht im selben Grade, weil es an die Glieder denken läßt, aus denen es zusammengesetzt ist […] drei und zehn, für sich ge-nommen, stehen auf der gleichen Stufe wie elf, aber drei-zehn bietet einen Fall relativer Motivierung dar.“ [Saussure 19672: 156, Herv. im Orig.].16

Arbitrarität in beiden Hinsichten darf nun nicht so verstanden werden, dass ein einzelner Sprecher in der Lage wäre, ein Zeichen nach eigenem Gutdünken zu verändern. Aber selbst die sprechende Masse wäre außerstande, „Herrschaft nur über ein einziges Wort aus[zu]üben; sie ist gebunden an die Sprache[,] so wie sie ist.“ [Saussure 19672: 83].

Die Beliebigkeit eines Zeichens – oftmals auch als Willkürlichkeit der Beziehung zwi-schen Signifikant und Signifikat umschrieben – ist also keinesfalls dem Willen des In-dividuums oder Sprachkollektivs unterworfen, sondern umgekehrt ist dem Sprecher die Sprache auferlegt. Gerade wegen der Beliebigkeit eines Zeichens kann es keine guten Gründe geben, dessen Signifikanten oder Signifikat zu verändern, denn man ersetzte le-diglich eine Unbegründetheit durch eine andere. Dies würde der konservativen und kon-servierenden Sprechergemeinschaft keinerlei Vorteile verschaffen, im Gegenteil: Sie müsste Wörter neu lernen, doch „[d]as Beharrungsstreben der Menge von Sprachgenossen steht sprachlichen Neuerungen im Wege.“ [Saussure 19672: 86, Herv. im Orig.]. Das einzelne Zeichen ebenso wie die Sprache als Gesamtsystem der Zeichen ist aufgrund des Widerstandes gegen willentliche und willkürliche Eingriffe bis zu einem gewissen Grad immun gegen Veränderungen. Allein die natürliche, unbewuss-te Drift der Zeichen und der Sprache im Laufe der Zeit bringt Veränderung im Sysunbewuss-tem hervor. Zu einer gegebenen Zeit jedoch ist die Sprache konstant.

Die Konstanz der Sprache wird also durch die kollektive, unausgesprochene Anerkennt-nis der Zeichen gewährleistet, so wie sie sind. Dies setzt auch voraus, dass, wie wir be-reits oben festgestellt haben, eine gewisse Homogenität der individuellen Sprachen

16 Saussure setzt ‚beliebig’ und ‚unmotiviert’ fälschlicherweise gleich: „Das Wort ‚beliebig’ erfordert hierbei eine Bemerkung […] [E]s soll besagen, daß es unmotiviert ist, d. h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten […]“ [Saussure 19672: 80, Herv. im Orig.]. Wie wir gesehen haben, widersprechen sich Beliebigkeit im Sinne von Arbitrarität und Unmotiviertheit überhaupt nicht. Vgl. hierzu auch die Diskussion in [Keller 1995: 146 ff.].

olekte) besteht, d.h. dass bei allen Sprechern in etwa dieselben Lautbilder an dieselben Vorstellungen geknüpft sind [vgl. Saussure 19672: 15]. Auch wenn eine Sprache in kei-nem Gehirn vollständig vorhanden ist, so ist doch im Durchschnitt eine bestimmte Men-ge von Zeichen in jedem Gehirn bzw. SprachvermöMen-gen Men-geMen-genwärtig [Saussure 19672: 16, 23]. Durch die ständige Zirkulation der Zeichen in immer neuen Kommunikations-akten wird der einzelne Sprachteilnehmer den sprachlichen Gepflogenheiten unterwor-fen; d.h. will er kommunizieren, so muss er sich den anderen Sprachteilnehmern hin-sichtlich seiner eigenen sprachlichen Verhaltensweisen angleichen. Andernfalls wird er schlicht nicht verstanden. Privatsprachen sind eben keine Sprachen – jedenfalls keine zum Kommunizieren. Der Zeichenaustausch im Sprechen gewährleistet die Homogeni-sierung des Sprachgebrauchs aller Sprachteilnehmer, worin die interindividuelle Kons-tanz der Sprache bzw. Zeichen begründet liegt.