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Besitzeffekt, Verlustaversion und Status Quo Bias

3 Leistungsorientierte Entlohnung im theoretischen Kontext

3.3 Experimentelle Ökonomie und Mitarbeitermotivation

3.3.1 Besitzeffekt, Verlustaversion und Status Quo Bias

Der Endowment Effect (Besitzeffekt) ist ein in verschiedenen Experimenten nachgewiesenes, aus Perspektive des neoklassischen Menschenbildes anomales menschliches Verhalten. Die Zahlungsbereitschaft (willingness to pay, WTP) zum Kauf eines Gegenstandes fiel in Experimenten geringer aus als die Kompensationsforderung zum Verkauf des gleichen Gegenstandes (willingness to accept, WTA). Die Differenz zwischen WTP und WTA wird als Endowment Effect (Besitzeffekt) bezeichnet (KAHNEMAN UND KNETSCH 1992: 64 f., BRANDES ET AL. 1997: 463). Demnach schätzen Menschen einen Gegenstand mehr, wenn er ihnen bereits gehört als wenn sie ihn kaufen müssten.

Ein frühes Experiment zum Besitzeffekt wurde von KNETSCH UND SINDEN (1984) durchgeführt. Verschiedene Personen wurden entweder mit zwei Dollar oder einem Lotterielos ausgestattet. Nach einiger Zeit hatten die Personen die Möglichkeit zu handeln. Erstaunlicherweise kam ein Tausch zwischen Geld und Lotterielos kaum zustande, da die Menschen, die das Geld hatten, dieses lieber mochten als das Lotterielos und umgekehrt. Die Schlussfolgerung, dass Menschen lieb gewonnene Gegenstände ungern abgegeben, wurde damals von vielen Ökonomen mit dem Hinweis auf mögliche Lerneffekte der Versuchspersonen angezweifelt (KAHNEMAN ET AL. 1991:

194). Ein weiterer Kritikpunkt am Konzept des Besitzeffektes war in empirischen Ergebnissen begründet, die zeigten, dass die Diskrepanz zwischen Zahlungsbereitschaft und Kompensationsforderung zurückgeht, wenn die Versuchspersonen Erfahrungen in einem Marktumfeld sammeln konnten (ebenda: 194). Daraufhin führten KAHNEMAN ET AL. zwei weitere Versuchsreihen durch, die den Besitzeffekt bestätigen konnten.

Wirtschaftsstudenten der Cornell-Universität wurden in einem ersten Marktexperiment mit „induzierten Wertstücken“ (induced value token) ausgestattet, deren fiktiver individueller (induzierter) Wert den Personen, die sie erhielten, bekannt gegeben wurde.

Handel (in mehreren Phasen) zwischen Studierenden, die Wertstücke erhalten hatten, und Personen, die keine erhalten hatten, führte zu einem Marktpreis, der zuvor prognostiziert worden war. Die induzierten Nachfrage- und Angebotskurven des Experimentes entsprachen den theoretisch errechneten Nachfrage- und Angebotskurven und bestätigten, dass die Studenten das Experiment verstanden hatten.

Im nächsten Schritt wurde ein Teil der Studierenden mit Kaffeetassen ausgestattet, die es im Buchladen der Universität für sechs Dollar zu kaufen gibt. Wie im vorangegangenen Experiment wurde der Versuch viermal durchgeführt, von denen jedoch nur einer nach dem Zufallsprinzip zählte. Eine fast identische Versuchsreihe wurde mit Rollminen-Kugelschreibern wiederholt, die mit einem Preis von $3,98 gekennzeichnet waren. Die Verkäufer mussten ihre Gegenstände nicht verkaufen, wenn ihnen der angebotene Preis zu niedrig erschien. Abweichend vom ersten Experiment mit den induzierten Wertstücken wurde die Hälfte der theoretisch errechneten Gleichgewichtsmenge gehandelt.11. Der Medianpreis zu dem Personen bereit waren, Tasse bzw. Kugelschreiber zu verkaufen, lag in mehreren Versuchen ungefähr doppelt so hoch wie der Median-Kaufpreis (ebenda: 196).

Aufgrund der Angaben aus Versuchsreihen, bei denen den Kugelschreiberbesitzern verschiedene Kaufangebote unterbreitet wurden, die sie entweder annehmen oder ablehnen konnten, konnten für die verschiedenen Individuen Indifferenzkurven zwischen Geld und Kugelschreibern gezeichnet werden. Die Indifferenzkurven verlaufen unterschiedlich je nachdem, ob eine Person zuerst Geld oder Kugelschreiber hatte, und schneiden sich, was der mikroökonomischen Theorie widerspricht.

KAHNEMAN ET AL. schlussfolgern auf Basis einer weiteren Studie, dass es nicht die Attraktivität des Gegenstandes ist, die dazuführt, dass er ungern abgegeben wird, sondern der mit der Abgabe verbundene Schmerz (ebenda: 197).

Eine dem Besitzeffekt verwandte Verhaltensabweichung vom Rationalprinzip ist der so genannte Status Quo Bias (SAMUELSON UND ZECKHAUSER 1988 zitiert in KAHNEMAN

11 Unter der Annahme, dass Studenten, die zufällig eine Tasse oder einen Kugelschreiber erhielten, mit 50% Wahrscheinlichkeit Tassenliebhaber oder –hasser (gleiches gilt für Kugelschreiber) sind.

UND KNETSCH 1992: 68-70). Die ökonomische Bewertung von zwei Handlungsalternativen sollte eigentlich unabhängig davon sein, welche der beiden Handlungsoptionen den Status Quo darstellt. Tatsächlich neigen jedoch Menschen dazu, die Handlungsoption zu bevorzugen, die den Status Quo darstellt, sie sind strukturkonservativ. Die mit der Aufgabe des Status Quo verbundenen Nachteile scheinen stärker zu wirken als die möglichen Vorteile.

Die Orientierung von Menschen am Status Quo konnte in verschiedenen Versuchen bewiesen werden. Unter anderem wurden Versuchspersonen mit der Entscheidung konfrontiert, in welches Finanzportfolio sie ein fiktives Erbe investieren würden. Sie hatten die Auswahl zwischen unterschiedlich risikobehafteten Investitionen. Gab man den Personen vor, ein Teil des Erbes sei bisher in einer der alternativen Anlageformen investiert gewesen, so entscheiden sich mehr Menschen für diese Investitionsalternative.

Das gleiche Versuchsdesign wurde in verschiedenen Szenarien wiederholt. SAMUELSON UND ZECKHAUSER schlussfolgern daraus, dass eine Alternative häufiger gewählt wird, wenn sie den Status Quo dargestellt. Außerdem steigt der Vorteil des Status Quo mit der Anzahl der zur Auswahl stehenden Alternativen (ebenda: 69).

Besitzeffekt und Orientierung am Status Quo lassen sich durch Verlustaversion erklären. Die Verlustaversion ist eine wichtige Implikation der Prospect Theory, einer Entscheidungstheorie für Entscheidungen unter Unsicherheit, die von Vernon Smith und Amos Tversky als Alternative zur von Neumann-Morgenstern’schen Entscheidungstheorie entwickelt wurde. Danach bewerten Menschen Verluste unterhalb eines neutralen Referenzpunktes stärker als mögliche Gewinne. Die Prospect Theory unterteilt den Entscheidungsprozeß von Menschen in zwei Phasen. In der ersten Phase („Editierungsphase“) wird das Entscheidungsproblem mental verarbeitet. In der

„Evaluierungsphase“ wird verschiedenen Handlungsoptionen ein subjektiver Wert beigemessen. Die Alternative mit dem höchsten subjektiven Wert wird sodann als attraktivste Option ausgewählt (BOFINGER UND SCHMIDT 2003: 108).

Die folgende Abbildung 9 zeigt den Verlauf einer typischen Wertfunktion, die sich aus dem oben genannten Sachverhalt ergibt.

ABBILDUNG 9:VERLAUF DER WERTFUNKTION

Verluste Gewinne

Wert

Quelle: KAHNEMAN ET AL.1991: 200

Die Wertfunktion ist charakterisiert durch einen S-förmigen-Verlauf. Der Wert verschiedener Alternativen orientiert sich am Referenzpunkt, der psychologisch als Anker fungiert und sich im Ursprung des Koordinatensystems befindet. Auf der Abzisse sind die Gewinne bzw. Verluste im Vergleich zu einer Situation dargestellt, auf der Ordinate die Werte, die ein Individuum der jeweiligen Situation beimisst. Die Steigung der Wertfunktion verläuft im Gewinnbereich flacher als im Verlustbereich. Dadurch wird der Sachverhalt abgebildet, dass Individuen Verlusten eine höhere Bedeutung beimessen als Gewinnen in gleicher Höhe. Außerdem verdeutlicht der S-förmige-Verlauf, dass Menschen große Verluste bzw. Gewinne weniger stark bewerten als kleinere (ebenda: 109).

FEHR UND GOETTE (2005) konnten in einem Experiment mit Schweizer Fahrradkurieren, deren Entlohnung vollständig an den Umsatz der Auslieferung gebunden ist, zeigen, dass sich eine Lohnerhöhung auf die Anstrengung pro gefahrener Schicht negativ auswirkt. Dieses begründen die Autoren mit Verlustaversion, die bei einem Teil der Kuriere in einem Lotterieexperiment nachgewiesen werden konnte. Sie gehen davon aus, dass sich die Kuriere an ihrem Tageseinkommen als Referenzpunkt orientieren. Oberhalb des Referenzpunktes (Tageseinkommen vor Experimentdurchführung) ist der Anreiz sich anzustrengen durch die Lohnerhöhung geringer geworden, da das anvisierte Tageseinkommen schneller erreicht wird.

Abschließend sei anzumerken, dass es Situationen gibt, in denen die Differenz zwischen WTP und WTA so groß ist, dass sie allein durch Verlustaversion nicht zu erklären ist.

Moralische Gründe können der Erklärungsgrund für diese extremen Diskrepanzen sein.

Dies ist zum Beispiel bei der Frage nach der Zahlungsbereitschaft für die Risikominimierung im Umgang mit giftigen Substanzen oder bei NIMBY12 -Projekten der Fall (KAHNEMAN ET AL. 1991: 201 ff.).

Aus den oben dargestellten Verhaltensanomalien lassen sich folgende Schlussfolgerungen für die praktische Gestaltung von Anreizsystemen ableiten:

• Arbeitet ein Mitarbeiter bereits in einem bestimmten System im Unternehmen (z.B. Art der Entlohnung, Arbeitszeitregelung), so wird er eine Änderung des Systems ungern hinnehmen, auch wenn ihm im Austausch ein objektiv gleichwertiges (aber anders gestaltetes) System angeboten wird.

• Neue Lohn- und Beschäftigungssysteme lassen sich mit neuen Mitarbeitern leichter implementieren als mit älteren Mitarbeitern, da diese andere Referenzpunkte haben.

Dass diese Ergebnisse verhaltenswissenschaftlicher Ökonomik praktische Relevanz haben, zeigt der folgende Hinweis (SÄCHSISCHE LANDESANSTALT FÜR

LANDWIRTSCHAFT 2002: 40) nachdem sich „[…] einmal eingeführte Vergütungsregelungen oftmals schwer verändern lassen“. Änderungen an den eingeführten Vergütungsregelungen können leicht zu Widerständen und Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern führen und eine demotivierende Wirkung hervorrufen (ebenda).

12 NIMBY-Projekte (Not in my backyard) sind Projekte, die zwar gesellschaftlich notwendig sind, die man jedoch nicht vor der eigenen Haustür haben möchte. Ein Beispiel für NIMBY-Projekte ist die Allokation von Mülldeponien oder nuklearen Zwischen- und Endlagern (FREY ET AL. 2001: 578).