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4 Theoretische Konzeption und Begrifflichkeiten des Capability Approachs

4.5 Zielgrößen des Capability Approachs: Well-Being, Agency und Living Standard

Ein weiterer Aspekt des CAs ist die Differenzierung zwischen den Konzepten Agency und Well-Being.

Diese Unterscheidung bezieht sich auf das persönliche Wohlergehen einer Person und die Verwirklichung der gesamten Handlungsziele, die nicht zwingend mit dem persönlichen Wohlergehen einhergehen müssen, aber beide relevante Evaluationsmaßstäbe sind. Diese konzeptuelle Differenzierung definiert Sen wie folgt: „Tätigsein (Agency) umfasst alle Ziele, die sich eine Person mit Grund setzt, also nicht nur die Steigerung des eigenen Wohlbefindens, sondern womöglich auch andere Zwecke. Somit kann Tätigsein auch andere, nicht am Wohlergehen orientierte Rangordnungen schaffen“ (Sen 2013, S. 315). Agency beschreibt damit Handlungsziele, wohingegen Well-Being54 das Wohlsein des Menschen selbst meint, welches in einem breiteren Verständnis als nur materiellen Wohlstand besteht (Scholtes 2005).

Das Wohlergehen und die Handlungsziele können in dem Konzept von Sen unter der Berücksichtigung von den Ebenen Freiheit und Erreichtes in vierfacher Hinsicht evaluiert werden.

Daraus ergeben sich folgende Ebenen der Freiheitsdimensionen:

1.1 Verfolgung des individuellen Wohlergehens („Well-Being Freedom“) 1.2 Verfolgung von individuellen Zielen („Agency Freedom“)55

Der Bereich der „Well-Being Freedom“ ergibt sich demnach aus dem Capability-Set einer Person (Robeyns 2005a). Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, da je nach Zielgröße der Evaluation eine andere Informationsbasis gewählt werden muss. Eine Evaluation, die sich auf erreichte Zustände richtet, resultiert aus den Funktionen. Auch diese sind im Hinblick auf die Perspektiven des Wohlergehens („Well-Being“) und der persönlichen Handlungsziele („Agency Goals“) differenzierbar in zwei Ebenen:

2.1 Erreichung des individuellen Wohlergehens

2.2 Erreichung von individuellen Handlungszielen (Sen 1993, S. 35)

Wobei Sen hier wie in seiner gesamten Beschreibung des Ansatzes wenig dogmatisch ist und die Hinzunahme weiterer Informationsquellen offenlässt (Robeyns 2005a). Sen setzt somit keine normativ-ethische Hierarchie voraus und weist darauf hin, dass das Individuum auch

54Well-Being wird in dieser Arbeit auch mit Wohlergehen oder Wohlbefinden übersetzt. Diese Begriffe sind synonym zu verstehen. Jedoch verweist der Begriff des Wohlbefindens in der deutschen Sprache auf einen eher flüchtigen, affektiven kurzweiligen Status, Zustand oder Gefühlslage, deswegen wird im Folgenden zumeist der Begriff Wohlergehen verwendet, um einen länger andauernden Status bzw. Gefühlslage zu erfassen (vgl. auch Abel & Schori 2009, S. 61). In den (gerechtigkeits-)ökonomisch ausgelegten Arbeiten von Sen wird auch der Begriff welfare verwendet. Dieser Begriff ist jedoch eher in der deutschen Sprache an den materiellen Wohlstand gekoppelt (Hajek 2013, S. 14).

55 Diese Ziele können u. a. andere Ziele als das eigene Wohlbefinden einer Person umfassen.

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117 wohlbegründete andere Ziele als sein eigenes Wohlergehen verfolgen kann. Dies führe dazu, dass die beiden Konzepte Wohlergehen und persönliche Handlungsziele nicht kongruent bzw. isomorph sind (vgl. u. a. Sen 1993). Diese vier Evaluationsrichtungen bauen hierarchisch nicht aufeinander auf, sondern die Verflechtungen sind jeweils kontext- und situationsabhängig zu analysieren. Zur Übersicht der verschiedenen möglichen Ziel- und Evaluationsgrößen nach Sen siehe auch Abbildung 22.

Abbildung 22: Übersicht möglicher Zielgrößen des CAs nach Sen (1993) Quelle: Eigene Darstellung.

Als Beispiel führt Sen an, dass mehr verfügbare Freiheiten nicht automatisch zu einem „mehr“ an realisiertem Wohlergehen oder Handlungszielen führen muss, sondern die erreichten Merkmale können auch abnehmen (Sen 1993). Die beiden Konzepte, Handlungsziele und Wohlergehen, sind damit nicht zwingend kongruent (Sen 2013). Die Evaluation von Well-Being oder auch Wohlergehen erfasse einen kleineren Ausschnitt als Agency-Ziele (Sen 1993). Der Einbezug auch mentaler Zustände wird deshalb nicht vollkommen von Sen abgelehnt, viel mehr kritisiert er die einseitige, exklusive Ausrichtung auf derartige mentale Zustände (vgl. auch Robeyns 2005a). Durch den Begriff Agency ist somit angedeutet, dass auch Ziele und Anliegen Dritter verfolgt werden können, die auch weitreichende gesellschaftliche Ziele beinhalten, die für das Wohlergehen einer Person relevant sein können (Volkert 2005). Dies können entsprechend andere Ziele sein, die in keinem direkten Zusammenhang mit dem persönlichen Vorteil stehen und z. B. aus obligatorischen Gründen bzw.

Verpflichtungen, wie die (aufopfernde) Betreuung und Pflege von hilfsbedürftigen Angehörigen, bestehen. Diese uneigennützigen Handlungsziele können zwar begründet verfolgt werden von Individuen, seien aber nicht immer gleichbedeutend mit dem persönlichen Wohlergehen bzw. diese

Umfang der Messung/

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118 haben keine vorteilhafte Wirkung für die Person selbst. Insofern jedoch die Outcomes bspw.

Mitempfinden oder Anteilnahme sind (z. B. dadurch, dass einer Person geholfen werden konnte und damit das eigene Wohlergehen gesteigert wird), ist dies gleichbedeutend mit persönlichem Wohlergehen (Robeyns 2005a).

Sen beschreibt die Bedeutung von Handlungszielen auch als „Tätigkeitsaspekt“ des Individuums (Sen 2007). Dazu erläutert er: „Der Gebrauch des Wortes ‚Tätigkeit‘ (agency) bedarf einer kurzen Klärung… Ich verwende den Ausdruck ‚agent‘…in seiner älteren und ‚tieferen‘ Bedeutung, nämlich als Bezeichnung für jemanden, der tätig ist und Veränderungen bewirkt und dessen Leistungen in bezug [sic.] auf seine eigenen Werte und Ziele zu bewerten sind, unabhängig davon, ob wir sie auch noch hinsichtlich irgendwelcher äußeren Kriterien beurteilen“ (Sen 2007, S. 30 f.). Dies beinhaltet die normative Aussage, dass Werte und Ziele nicht immer eindeutig bewertbar erscheinen von Dritten, sondern umfasst, was das Individuum für erstrebenswert und richtig hält. Die Unterscheidung von Agency und Well-Being bzw. eine Kategorisierung in ein systemtheoretisches Modell erscheint empirisch schwierig. Prinzipiell können die angeführten Zielgrößen als (Sekundär-)Outcomegröße (siehe auch Abbildung 19) eingestuft werden. Wie bereits angeführt, hat der CA damit je nach Bezugspunkt bzw. epistemologischer Zielgröße einen anderen normativen Bedeutungs- und Analyseinhalt. Dies können neben der Lebensqualität hoch geschätzte Dimensionen, wie Entwicklung (Sen 2007), gesundheitliches Wohlergehen (Abel & Schori 2009), Wohlfahrt (Volkert 2005) oder eben der Wert des Lebensstandards (Sen 2000) sein.

Der Bezugsrahmen des Lebensstandards56 (Standard of Living) resultiert aus den erreichten Tätigkeiten etc. (den Funktionen) und stellt damit einen Primäroutcome dar (siehe auch Abbildung 19). Der Lebensstandard stellt dabei nach Sen (1993) einen Outcome dar, dem eine sehr verkürzte Betrachtung des Konzeptes Wohlergehen inhärent ist und nur einen Teil dieser abbildet.

Diese enge begriffliche Erfassung von Well-Being deutet an, dass zur Bewertung des Lebensstandards ein direkter Bezug zum eigenen Leben der Person gegeben sein muss (Robeyns 2005a). Hierzu erklärt Sen mit einem Beispiel, dass die Erreichung von Zielen (Agency Goals), die nicht eine direkte Bedeutung für das eigene Wohlergehen haben, wie z. B. die Befreiung politisch Gefangener, zwar auch das eigene Wohlergehen positiv beeinflussen vermögen, jedoch von keiner Steigerung des Lebensstandards ausgegangen werden kann (Sen 1993). Dieser komplexe Zusammenhang der Konzepte ist insbesondere für evaluative Aufgaben wichtig, da es zu bestimmen gilt, was der Bezugsrahmen für die Bewertung sein soll. Für die praktische Relevanz bedeutet dies, dass bspw.der Staat ein größeres Interesse haben könnte durch die Verteilung von Geldleistungen (z. B. für

56 Zur Begriffserklärung sei auch angemerkt, dass die Begriffe Lebensstil und Lebensstandard in den übersetzten Schriften von Sen synonym verwendet werden (vgl. z. B. Sen 2000, S. 64).

4.5 Zielgrößen des Capability Approachs: Well-Being, Agency und Living Standard

119 Pflegebedürftige) eine Erhöhung von Well-Being oder Agency Achievements zu verfolgen, sondern eine Erweiterung der Freiheiten und verfügbaren Möglichkeiten und damit auf eine gerechte Verteilung von Well-Being bzw. Agency Freedom abzielt.

5. Verbreitung und Anknüpfungspunkte des Capability Approachs im Public Health-und gerontologischen Bereich

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5 Verbreitung und Anknüpfungspunkte des Capability Approachs im Public