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Verknüpfungsmöglichkeit des Capability Approachs mit der gerontologischen Disziplin

5 Verbreitung und Anknüpfungspunkte des Capability Approachs im Public Health- und gerontologischen Bereich Health- und gerontologischen Bereich

5.5 Verknüpfungsmöglichkeit des Capability Approachs mit der gerontologischen Disziplin

„Gelingendes“ Altern unterliegt zahlreichen multifaktoriellen Bedingungen (wie in Kapitel 2.2 bis Kapitel 2.4 aufgezeigt worden ist) und lässt sich mit einer Vielzahl an Determinanten in unterschiedlichen Modellen erfassen. Eine umfassende Erfassung des „gelingenden“ Alterns ist ohne die systemische, strukturelle und ökologische Perspektive nicht möglich. Es gibt zahlreiche Betrachtungsmodelle von der Entwicklung innerhalb des Lebensverlaufs. Hierzu zählen Defizitmodelle (wie die biologische Leistungsfähigkeit) und Kompetenzmodelle (wie Weisheit, Selbsterkenntnis und soziale Kompetenz). Die Suche nach Indikatoren für einen „gelingenden“ Alternsprozess ist dabei nur unter dem Einbezug von quantitativen und qualitativen Aspekten des Lebens möglich. Diese müssen gemeinsam berücksichtigt und zu einer möglichst interpersonell vergleichbaren sowie aussagekräftigen Evaluation der Lebenssituationen miteinander verknüpft werden. Bislang wurde jedoch wenig systematisch der Einfluss individueller (personaler und materieller) Ressourcen und infrastruktureller Rahmenbedingungen auf die psychischen Adaptionsprozesse untersucht (vgl. u. a. Wozniak 2010).

Eine Hauptkritik an bisherigen theoretischen Rahmenarbeiten im gerontologischen Bereich sei nach Gopinath (2018), dass diese sich kaum bzw. gar nicht mit Diversitätsthemen beschäftigen oder mit unterschiedlichen Erfahrungen des Individuums beim Altern. Der CA ist in der gerontologischen Teildisziplin scheinbar erst relativ wenig betrachtet worden, dennoch könnte dieser einen Mehrwert für die Identifikation von verwirklichungschancendeprivierten Älteren haben. Wie Grewal et al. (2006) in ihrer Studie herausgefunden haben, schätzten ältere Personen die Fähigkeiten, etwas zu tun, mehr als das Erreichte an sich. Bereits Ryan und Deci (2000) stellten heraus, dass psychologisches Wohlbefinden ein Resultat dessen ist, wie kompetent sich das Individuum fühlt, ob es die Möglichkeit hat, erfolgreich in einem wertgeschätzten Bereich zu sein und wie seine sozialen Netzwerke ausgeprägt sind. Selbstbestimmung wird hierbei als entscheidender Faktor für eine befriedigende Lebensführung im Alter und im Zusammenhang mit dem Konstrukt Lebensqualität gesehen (vgl. u. a. BZgA 2013). Im Zusammenhang mit dem CA kann individuelle Selbstbestimmung nicht ohne materielle Ausstattung, nicht ohne die soziale Einbettung des Einzelnen, nicht ohne gegenseitige Unterstützung, kritische Auseinandersetzungen etc. gedacht werden (Scholtes 2005). Insbesondere für den gerontologischen Bereich beschreibt Gopinath (2018) einen Vorteil des CAs darin, dass dieser nicht eine spezifische Konzeption oder Inhalte des „guten“ Lebens vorschreibt und in seiner Konzeption offener ist, um die menschliche Diversität abzubilden.

Die vorangegangene Recherche dieser Arbeit zu relevanten Determinanten der Lebensqualität ergab außerdem, dass hierbei Verwirklichungschancenaspekte zwar bisher nicht direkt benannt werden,

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diese jedoch häufig in den Dimensionen latent enthalten sind (siehe Kapitel 2.3). In der Capability-Forschung wird die Handlungsbefähigung v. a. daran gemessen, was Menschen zu einem

selbstständigen Leben befähigt (Grundmann 2010), Unabhängigkeit i. S. v. einer selbstständigen Lebensführung wird in einem engen Zusammenhang mit einer hohen Lebensqualität und Wohlbefinden gesehen (Leischker & Kolb 2007). Die Erfassung von multidimensionalen Aspekten des

Wohlergehens und der interdisziplinäre Charakter prädestinieren den Verwirklichungschancen-Ansatz deshalb zur Bestimmung von Determinanten, Bedingungen und

Voraussetzungen für das „gelingende“ Altern. In der Beschreibung der WHO (2002, S. 12) zum

„aktiven“ Altern spielt der Möglichkeitsaspekt bereits eine zentrale Rolle, was auch dem theoretischen Ansatz von Sen entspricht. Jedoch sind die benannten Dimensionen bei der WHO vorbestimmt worden, was nicht Sens Auffassung einer notwendigen demokratischen und partizipativen Bestimmung je nach Ziel und Zweck der Evaluation von Befähigungen entspricht, die zur Lebensqualität im Alter beitragen sollen. Robeyns (2005, S. 196) sieht ein derartiges Vorgehen kritisch und schreibt hierzu: „Instead, Sen argues that we must leave it to democratic processes and social choice procedures to define the distributive policies. In other words, when the capability approach is used for policy work, it is the people who will be affected by the policies who should decide on what will count as valuable capabilities in this policy question.”

Eine Studie von Stephens, Breheny & Mansvelt (2015) hat bereits den CA als Grundlage für die Erarbeitung eines breiteren „healthy ageing“ Verständnisses eingesetzt und 145 Interviews in Neuseeland mit älteren Personen durchgeführt. Allerdings wurden die Interviews dahingehend ausgewertet, wertgeschätzte Funktionen zu operationalisieren, das heißt das, was die Menschen tatsächlich „machen“ oder „tun“ (Stephens, Breheny & Mansvelt 2015). Es konnten somit von Stephens, Breheny und Mansvelt (2015, S. 720) sechs Domänen an Funktionen identifiziert werden:

„physical comfort“, „social integration“, „contribution“, „security“, „autonomy“ und „enjoyment“. Diese sechs Bereiche seien nach Stephens, Breheny und Mansvelt (2015) beitragend zum „successful ageing“ und damit eine Grundlage für Gerechtigkeitsfragen. Bisher hat dennoch der CA erst wenig Berücksichtigung in der nationalen gerontologischen Ungleichheitsforschung erhalten. Einige wenige Ausnahmen stellen z. B. die Arbeiten von Kümpers dar (siehe Alisch & Kümpers 2015;

Kümpers 2012b; Kümpers & Rosenbrock 2010). Die Operationalisierung des theoretischen CAs ist ein Beitrag zur anwendungsbezogenen Alter(n)ssoziologie und dient u. a. der Unterstützungsfunktion für (politische und strukturelle) Planungen. Die notwendige Betrachtung der Verknüpfung von räumlichen bzw. umweltbezogenen Gegebenheiten und der Verwirklichungschancen könnten dabei zu anderen Ergebnissen führen, als alleinig die Betrachtung realisierter Funktionen. Infolgedessen sind nach dem CA die Individuen zu fördern, die wenige Verwirklichungschancen zur Verfügung haben und nicht zwingend diejenigen, die einen niedrigen (vertikalen) Sozialstatus haben.

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144 Sen (2007, S. 50 f.) schreibt hierzu: „Selbst wenn der Betroffene kein unmittelbares Interesse an Meinungsfreiheit und Partizipation hat, würde er immer dann einiger Freiheiten beraubt, wenn er in diesen Dingen keine Wahl hat. Entwicklung, verstanden als Erweiterung von Freiheit, muß [sic] sich um solche Mangelerscheinungen kümmern.“

Durch empirische Untersuchungen könnte eine Beurteilung der sozialen Sachverhalte der individuellen Alterns- und Alterssituation ermöglicht werden, welche ggf. relevante Praxisfunktionen hinsichtlich soziologischer Erkenntnisse sowie einen Informations- und Aufklärungsbeitrag für relevante Akteure im Altenbereich haben.

Der CA könnte auch insbesondere für die Weiterentwicklung von Indikatoren-Sets für Evaluationen von gerontologischen Interventionen oder für geriatrische Assessments ein interessanter Bezugspunkt sein. Gerade die Finanzierungsstrukturen für Pflegeleistungen könnten insofern weiterentwickelt werden, als dass nicht nur spezielle erreichte Fähigkeiten, wie ADLs etc., Bestandteile der Vergütungsstrukturen sind. Diese schlagen sich indirekt in den Pflegestufen wieder und könnten ökonomisch betrachtet zu fehlgeleiteten Anreizsystemen führen. Wohingegen die finanzielle Förderung des Erhalts von Befähigungen (z. B. Selbstständigkeit), durch bspw.

Maßnahmen wie Sturzpräventionsübungen und damit auf langfristiger Sicht eine Vermeidung von Fixierungen, innovative Bonus-Malus-Finanzierungsregelungen darstellen. Bislang fehlen die (ökonomischen) Anreizstrukturen für pflegerische Institutionen, die eine Verbesserung oder Erhalt

eines (funktionellen Pflege-) Status befördern würden. Insbesondere für die langfristige Outcome-Messung von gesundheitsbezogenen und sozialen Dienstleistungen für ältere Menschen

sind allumfassend messende Lebensqualitätskonstrukte (Qol) sinnvoll und notwendig (Makai et al. 2014). Somit sei bei Interventionsevaluationen (für Ältere) das maximale Spektrum an Outcomes besser abbildbar (Makai et al. 2014).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass eine (systematische) Berücksichtigung der konzeptionellen Ansätze des CA in der gerontologischen Teildisziplin im nationalen Kontext kaum stattgefunden hat.

Auch im internationalen Kontext wurde der CA bislang kaum in die gerontologische Forschung einbezogen (Gopinath 2018). Ähnliches gilt für die beschriebene Anwendungsmöglichkeit des CAs zur Erfassung von Gesundheit oder gesundheitsbezogener Lebensqualität (siehe Kapitel 5.1), der Einbezug in der Bewertung von sozialen Ungleichheiten zur Bestimmung von gesundheitlichen Ungleichheiten (siehe Kapitel 5.2) sowie in der Anwendung von der Gesundheitsförderung oder der Wirkungsforschung von Interventionen (siehe Kapitel 5.4). In diesen Bereichen mangelt es bisher an nationalen empirischen oder theoretischen Forschungsvorarbeiten, welche methodisch konsequent den CA nach Sen aufarbeiten und die einzelnen Forschungsstränge miteinander systematisch verknüpfen. Wohingegen in der Gesundheitsökonomie (siehe Kapitel 5.3) bereits mehrere

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145 Grundlagenarbeiten zur Operationalisierung des CAs (v. a. aus dem internationalen Raum) vorhanden sind. Die Einbindung der theoretisch-konzeptionellen Idee des CAs in die deutsche gesundheitsökonomische Forschung, ist im internationalen Vergleich allerdings erst rudimentär vorhanden.