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Erfassung und Bewertung sozialer Ungleichheiten zur Bestimmung von gesundheitlichen Ungleichheiten mit dem Capability Approach

5 Verbreitung und Anknüpfungspunkte des Capability Approachs im Public Health- und gerontologischen Bereich Health- und gerontologischen Bereich

5.2 Erfassung und Bewertung sozialer Ungleichheiten zur Bestimmung von gesundheitlichen Ungleichheiten mit dem Capability Approach

Seit vielen Jahren beschäftigt sich ein Teilgebiet von Public Health mit der Untersuchung von sozialen Bedingungen der Gesundheit (vgl. z. B. Übersichtsarbeiten von Elkeles & Mielck 1997;

Lampert & Mielck 2008; Richter & Hurrelmann 2009; Geyer 2010; European Commission 2013). Der Beleg zahlreicher Studien, dass Krankheiten und Todesfälle in sozial benachteiligten Gruppen signifikant häufiger vorkommen, ist auch als Problem der sozialen Gerechtigkeit zu betrachten, insofern sie auf Grund einer ungerechten Verteilung sozialer Gesundheitsfaktoren zustande kommen (Rauprich 2010). Soziale Gerechtigkeit bzw. deren Ursachen und Auswirkungen auf Gesundheitsmerkmale sind damit auch Aspekte mit denen sich innerhalb der Public Health Disziplin auseinandergesetzt werden muss. Bisher besteht jedoch ein Mangel v. a. an theoretisch begründeten Erkenntnissen wie sich dieser Zusammenhang erklären lässt (Abel & Fröhlich 2012). Der CA bietet hierfür, neben den weiteren gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen wie dem Utilitarismus und dem Liberalismus60, einen egalitären Anknüpfungspunkt, der sich nicht auf Ressourcen oder Güter bezieht, sondern die Verwirklichungschancengerechtigkeit. Die Auswirkungen von sozialer Gerechtigkeit werden mit umfassendem Wohlergehen aller Menschen in einer Gesellschaft gleichgesetzt (Faden & Powers 2008). Wie bereits angeführt, könnte der CA nützlich sein sowohl bei der Ergänzung bzw. Modifikation für Modelle der gesundheitlichen Ungleichheit als auch bei der Evaluation sozialer Ungleichheiten in Bezug auf gesundheitsrelevante Ressourcen. Nichtsdestotrotz soll an dieser Stelle nicht die bereits vorhandenen kritischen Anmerkungen zum CA als ethische Grundlage für Gerechtigkeitsdebatten im Public Health-Bereich unbenannt bleiben. So argumentieren Faden und Powers (2008), dass die Fähigkeit und Möglichkeit zu etwas alleine als Maßstab für Gerechtigkeit noch nicht ausreiche. Vielmehr sei Gesundheit bzw. Selbstbestimmung als Funktion, das heißt erreichte Größe, ein anzustrebender Outcome (Faden & Powers 2008). Zum anderen bedürfe es nicht innerhalb einer sozial gerechten Gesellschaft zwingend der Gleichheit oder Angleichung jeglicher Dimensionen von Wohlergehen. (Faden & Powers 2008). Ebenso sei es auch nicht ausreichend die einzelnen Dimensionen von Wohlergehen zu bestimmen und als geeignete Methode für die Reduktion von sozialen Ungerechtigkeiten zu verwenden (Faden & Powers 2008).

Hinsichtlich der Gesundheitsaspekte im höheren Lebensalter ist zu beachten, dass altersbedingte Funktionseinschränkungen (durch „normal“ bedingtes Altern) keine ungerechtfertigten

60 Die Einordnung des CAs in die liberale oder egalitäre theoretische Ordnung ist nicht immer ganz eindeutig.

Faden und Powers (2008) ordnen den CA eher in die egalitäre Theorie ein, wohingegen z. B. Robeyns (2005a) den CA eindeutig als liberale Gerechtigkeitstheorie betrachtet. Letztlich scheint eine Mischform und somit ein libertärer und egalitärer Kern des Ansatzes, wie Bittlingmayer und Ziegler (2012, S. 19) es beschreiben, mit einer Ausrichtung auf Autonomie, Freiheit und Gleichheit den CA am besten zu beschreiben. Sen (2002a) selber schreibt hierzu, dass jede Gerechtigkeitstheorie, sei sie egalitär oder liberal etc., eine Form der Gleichheit anstrebt, allerdings sei der Bezugspunkt jeweils unterschiedlich gewählt.

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127 Benachteiligungen darstellen müssen. Venkatapuram (2011) beschreibt außerdem, dass Gesundheit bzw. ein sehr guter Gesundheitszustand einer Gesellschaft nicht konzeptionell als Grundlage in Theorien sozialer Gerechtigkeit verankert werden sollte, so lange u. a. die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Gesundheit sowie ökologischen, sozialen und individuellen Faktoren nicht eindeutig zuordenbar sind. Eine sozial gerechte Gesellschaft eröffnet hingegen allen Mitgliedern das moralische Recht der „capability to be healthy“ (Venkatapuram 2011, S. 19). Dieser Gerechtigkeitsmaßstab schwächt die herausfordernde Stellung der Gesundheitsförderung zwischen dem Gleichheits- und Freiheitspostulat ab. Gleichheit und Freiheitsaspekte sind nicht zwingend gleichgerichtet oder verhalten sich ergänzend zueinander. Bittlingmayer und Ziegler (2012) bringen hierzu das Beispiel des Widerspruchs an, wenn zur Erreichung einer gesundheitlichen Gleichheit Verhaltensgebote oder gar -verbote ausgesprochen werden und somit die Handlungsfreiheit des Individuums beschränkt wird. In den Gerechtigkeitsdebatten scheint die Begrenzung von Freiheiten dennoch eher möglich zu sein als die Begrenzung der Gleichheit. In der Begründung der Verhältnisse zwischen Freiheit und Gleichheit, die das Verständnis sozialer Gerechtigkeit beeinflussen, beschreibt Dabrock (2010) hierzu, dass die Beschränkung der maximalen Gleichheit eher in der Rechtfertigungspflicht ist als die maximale Freiheit (zum Ausgleich von Ungleichheiten), so dass eine Beschränkung in diesem Bereich eher möglich erscheint. Der CA sieht Freiheit und Gleichheit allerdings auch nicht als gegensätzliche Konzepte, sondern ergänzt diese für Gerechtigkeitsmaßstäbe.

Verteilungsfragen im Gesundheitsförderungs-, aber auch sozial- und gesundheitspolitischen Bereich können sich nicht normativen und ethischen Gerechtigkeitsfragen entziehen. Um Gerechtigkeit

„messbar“ zu machen, sind Operationalisierungen der Kriterien vorgenommen worden, die auf Axiomen oder Werturteilen basieren (Damm & Graf v. d. Schulenburg 2012). Dabei kann der Begriff Gerechtigkeit zwei Bedeutungen innehaben, wie Damm und Graf v. d. Schulenburg (2012, S. 506) es darlegen: „Einerseits bezeichnet Gerechtigkeit, eine Tugend, eine Haltung, aus der heraus Menschen rechtens handeln, also jedem das Seine zugestehen. Gerechtigkeit wird andererseits auch als institutioneller Maßstab verstanden, anhand dessen grundlegende politische, soziale, rechtliche oder wirtschaftliche Entwicklungen der Gesellschaft beurteilt und Handlungsnormen abgeleitet werden können. Beide Bedeutungsformen bedingen sich dabei gegenseitig. So braucht es ein gewisses Maß an Tugend, um die gesellschaftlich gewünschten gerechten Verhältnisse aufzubauen und zu erhalten.“

Der CA sowie die Verteilungsfragen in der Public Health Forschung beziehen sich beide v. a. auf die Auseinandersetzung mit sozialer Gerechtigkeit und dessen Allokation sowie Wirkmechanismen und damit auf die institutionelle Gerechtigkeit und weniger auf die tugendbedingte Gerechtigkeit. Nach dem CA von Sen sind Gleichheit (Verfügbarkeit von Verwirklichungschancen) und Gerechtigkeit gleichzusetzen oder ersteres stellt die zwingende Voraussetzung für Gerechtigkeit dar (vgl. auch Bittlingmayer & Ziegler 2012). Sen argumentiert an dieser Stelle mit der interpersonellen

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128 Heterogenität, welche gerechtigkeitsbasierte Vergleiche auf Nutzen- oder Güterbasis vor Schwierigkeiten stellt. Als praktisches Beispiel für die diffizile Verteilungsgerechtigkeit von Grundgütern nennt Sen folgendes Beispiel: „So kann etwa ein Behinderter über einen größeren Korb von Grundgütern verfügen und dennoch eine geringere Chance haben, ein normales Leben zu führen (oder seine Zwecke zu verfolgen), als ein Nichtbehinderter mit einem kleineren Korb von Grundgütern.

Ähnlich mag ein älterer oder kränklicher Mensch in einem allgemein akzeptierten Sinn benachteiligter sein, ungeachtet der Tatsache, daß [sic.] er ein größeres Bündel von Grundgütern besitzt“

(Sen 2007, S. 95). Gegen die Bewertungsgrundlage des Nutzens in den Gesundheitswissenschaften sprechen hingegen die Bewertung von subjektiven Wahrnehmungen sowie die Berücksichtigung von adaptiven Präferenzen. Als gesundheitsrelevantes Beispiel kann von Sen das folgende Zitat benannt werden: „Selbst wenn ein depressiver oder behinderter oder auch kranker Mensch dieselbe Nachfragefunktion über Güterbündel hat wie ein anderer, nicht benachteiligter Mensch, wäre es unsinnig zu behaupten, er hätte denselben Nutzen (dasselbe Wohl oder dieselbe Lebensqualität) von einem gegebenen Güterbündel wie ein anderer“ (Sen 2007, S. 88). Für gerechtigkeitstheoretische Allokationsdebatten bietet der CA deshalb eine konzeptionelle Grundlage.

Neben der Frage der Ausgestaltung von Freiheitsrechten ist zu berücksichtigen, dass auch die Gestaltung von Lebensstilen durch kontextgebundene Bedingungen determiniert ist.

Abel und Schori (2009) beschreiben, dass es in modernen Gesellschaften mehr und mehr notwendig sei, sich für gesundheitsförderliche bzw. -abträgliche Verhaltensweisen zu entscheiden (Abel & Schori 2009). Giddens formulierte bereits Anfang der 1990er Jahre hierzu: „… in conditions of high mordernity, we all not only follow lifestyles, but in an important sense are forced to do so we have no choice but to choose“ (Giddens 1991, S. 81). Dies impliziert auch steigende Anforderungen und Herausforderungen an die Individuen, sich in den Unmengen von Informationen und Dienstleistungen zurechtzufinden und informierte Entscheidungen treffen zu können (Abel & Schori 2009). Hierbei ist das Feld der ungleich verteilten Entscheidungs- und Handlungsspielräume bisher erst wenig untersucht worden. Die Vielzahl an sozialepidemiologischen Studien, welche zumeist die deskriptiven Ergebnisse und statistischen Zusammenhänge gesundheitlicher Ungleichheit (z. B. Morbiditäts- und Mortalitätszahlen) darstellt, geht bislang wenig auf die Kontextgebundenheit dieser gesundheitsförderlichen bzw. -schädigenden Umstände ein (Abel & Schori 2009). Die Betrachtung des Handlungs- und Entscheidungsspielraums, aus dem das Individuum seine gesundheitsbeeinflussende Entscheidung treffen kann, bleibt somit häufig unberücksichtigt, ebenso wie die relative Bedeutung von finanziellen, sozialen und kulturellen Ressourcen für gesundheitsförderliche Lebensstile, die nach Abel und Schori (2009) noch nicht ausreichend untersucht seien.

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129 Bisher bleibt in der sozialepidemiologischen Forschung auch die Frage offen, „was“ gleich verteilt sein muss („equality of what?“), damit soziale Schichtunterschiede nicht zu schlechteren gesundheitlichen Chancen führen. Aus der Perspektive der sozialen Gerechtigkeit muss somit erst spezifiziert werden, was innerhalb einer Gesellschaft „anzugleichen“ ist, um gerechte Gesundheitschancen herzustellen (Sen 2002a). Der Zusammenhang zwischen Strukturvariablen wie Alter, Geschlecht oder den vertikalen Schichtindikatoren und Gesundheitsvariablen ist in der Sozialepidemiologie bereits eindrücklich belegt worden. Es existieren allerdings immer noch Desiderate für die multidimensionale Berücksichtigung diverser Faktoren. Allgemein werden innerhalb sozialepidemiologischer Analysen zur Ursache-Wirkungsforschung, u. a. sicherlich auf Grund der empirisch überfordernden Komplexität der verschiedenen möglichen Kombinationen von Heterogenitätsdimensionen, nur vereinzelte Dimensionen betrachtet. Dies sind bspw. aggregierte Maßzahlen, wie der Schicht-Index (vgl. z. B. Lampert et al. 2013c) oder auch einzelne Strukturvariablen, wie betrachtete Alters- und Geschlechtszusammenhänge (vgl. z. B. RKI 2014), im Zusammenhang mit Gesundheitsvariablen Die bisherige Studienlage bietet erst wenige, über die Betrachtung der sozialepidemiologischen Zusammenhänge hinausgehende, theoretische Erklärungsansätze für ungleiche Gesundheitschancen, welche die soziale Differenzierung näher analysieren und auf diese in einem ganzheitlichen Modell eingehen.

Neben den bereits existierenden weiterführenden Sozialstrukturmodellen, die in der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung existieren (siehe Kapitel 3), wird der CA als sinnvolle weiterentwickelte bzw. parallele Alternative des Lebenslagenansatzes betrachtet (vgl. z. B. Sperlich, Babitsch & Hofreuter-Gätgens 2011; Leßmann 2006). Die Parallelen der beiden Ansätze ergeben sich z. B. durch die Fokussierung der interpersonellen Vergleichbarkeit und der Annahme, dass sich der individuell verfügbare und wahrgenommene Handlungsspielraum auf das Wohlergehen auswirkt, wobei die Handlungsspielräume multidimensional, bestenfalls partizipativ, konzipiert werden sollen (vgl. hierzu auch Leßmann 2006, 2009). Bisher ist der CA v. a. zumeist innerhalb von volkswirtschaftlichen, philosophischen und soziologischen Schriften aufgearbeitet worden, so dass dessen Bezugspunkt in den Bereichen Philosophie und Volkswirtschaftslehre zugeordnet werden kann (Leßmann 2009). Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2009) beschreibt den CA als geeignetes Konzept, um die multifaktoriellen Zusammenhänge zwischen sozialen Lagen und den Gesundheitschancen abbilden und analysieren zu können und gleichzeitig verschiedene Politikbereiche zu integrieren, die auf eine Verminderung der Ungleichheiten abzielen. Der CA berücksichtigt damit zum einen die multidimensionale Beziehung zwischen sozialer und gesundheitlicher Gerechtigkeit. Zum anderen differenziert er aber auch zwischen gesundheitlichen Wahlmöglichkeiten, die dann als ungerecht eingestuft werden, wenn das Individuum auf Grund inadäquater gesellschaftlicher Arrangements

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130 nicht die Chance hatte, eine andere gesundheitlich zuträgliche Wahl zu treffen (Sen 2002a). Aus gesundheits- und sozialpolitischer sowie gerechtigkeitstheoretischer Perspektive ist dies eine andere Position, als davon auszugehen, dass Individuen sich aus benachteiligten sozialen Schichten nicht für ihre Gesundheit interessieren oder diese sich sogar bewusst gesundheitsschädlich verhalten. Sen (2002a, S. 660) gibt hierfür folgendes Beispiel: „In this sense, an illness that is unprevented and

untreated for social reasons (because of, say, poverty or the overwhelming force of a community-based epidemic), rather than out of personal choice (such as smoking or other risky

behaviour by adults), has a particularly negative relevance to social justice”. Demnach besteht ein sozialepidemiologisches Interesse daran, die Erkrankungen bzw. gesundheitlichen Risiken zu identifizieren, die auf Grund eines Mangels an Verwirklichungschancen entstehen und hierbei im Sinne der antipaternalistischen Gesundheitsförderung die schon erwähnte „capability to health“ zu fördern. Übergeordnetes angestrebtes Ziel ist es somit, die individuell ungleich verteilten Chancen auf Gesundheit, bedingt durch die sozialen Umstände sowie die natürlichen Begabungen, zu vermindern (Bittlingmayer & Ziegler 2012).

Dies könnte unter der moralethischen Betrachtung insbesondere im Kindes- und Jugendalter bedeutsam werden, das heißt in einer Phase des Lebens, die durch gesundheitsrelevante Entwicklungsthemen geprägt ist und gesundheitliche Risiken sowie auch gesundheitsfördernde Chancen beinhaltet (Keupp 2010). Gesundheitsrelevante Entwicklungsthemen beziehen sich im jüngeren und mittleren Lebensalter v. a. auf körperliche, psychosoziale und kognitive Bereiche.

Bereits in dieser Lebensphase wirken sich die sozialen Unterschiede, gemessen anhand der vertikalen Schichtindikatoren, auf Gesundheits- bzw. Entwicklungsmerkmale aus. Kinder und Jugendliche aus sozial niedrigeren Statusgruppen haben hierbei für eine Reihe gesundheitlicher Erkrankungen im Vergleich zu sozial höheren Statusgruppen konsistent ein höheres gesundheitliches Risiko (vgl. z. B. Krause et al. 2014; Hölling et al. 2014; Schlack et al. 2007). Für die Entfaltungspotenziale und Entwicklungsmöglichkeiten im Kindes- und Jugendalter wird Gesundheit auch als

Basic Capability“ von Sting (2001) beschrieben, die eine zentrale Komponente für eine positive individuelle und soziale Entwicklung einnimmt. Der CA geht jedoch nicht davon aus, dass gleiche Startbedingungen realisierbar wären auf Grund der Vielzahl komplexer individueller Faktoren bzw.

der menschlichen Verschiedenheit, jedoch sind nach Sen (2007) die freiheitlichen Möglichkeiten so zu stärken, dass eine Angleichung der Verwirklichungschancen stattfindet. Im höheren Lebensalter wurde der CA vor dem Hintergrund einer versorgungsgerechten Gesundheitspolitik bereits diskutiert, indem ein Mangel an Verwirklichungschancen Unterstützungsbedarf indiziert (Kümpers & Rosenbrock 2010).

Hierbei gilt es diejenigen sozialen Arrangements zu identifizieren, die präventiv vermeidbare gesundheitliche Beeinträchtigungen darstellen sowie diesbezüglich frühzeitiges Versterben

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131 verringern könnten (vgl. auch Venkatapuram 2011). Die Identifikation dieser sozialen Komponenten, wozu entsprechende Langzeitstudien unerlässlich sind, könnte in der Folge zu zielgruppengerechteren Gesundheitsförderungsmaßnahmen führen als die bisherigen eher unspezifisch ausgerichteten Angebote.

Obwohl der CA, wie auch andere konzeptuelle Grundlagen zur Gesundheitsförderung, Partizipation61 und Empowerment62 als maßgebliche Zugänge für die Stärkung gesundheitsrelevanter Ressourcen beschreibt (Abel & Schori 2009), zielt der CA anders als andere Konzepte, wie bspw.

Gesundheitskompetenzen (vgl. z. B. Nutbeam 2008; Sommerhalder & Abel 2007), nicht primär auf eine defizitäre Betrachtung ab. Bittlingmayer und Ziegler (2012) beschreiben, dass das Gesundheitskompetenzkonzept gegenüber dem CA als tautologisch defizitär angelegt ist, da Menschen mit Gesundheitseinschränkungen nach diesem Konzept nicht über genügend Gesundheitskompetenzen verfügen, wohingegen gesunde Individuen über ausgezeichnete Gesundheitskompetenzen verfügen müssten. Auch impliziert das Konzept der Gesundheitskompetenzen, dass es ein Missverhältnis zwischen dem (maximal) gesundheitskompetenten Expertenwissen und dem Wissen von zu belehrenden (nicht ausreichend gesundheitskompetenten) Individuen gibt, so dass der Ansatz in seiner Grundanlage paternalistisch erscheint (,jedoch in seiner modernen Ausrichtung der kompetenzorientierten Ausrichtung mehr Raum lässt). Die Messung von Kompetenzen wäre des Weiteren für Gerechtigkeitsurteile nicht geeignet, da gleiche Kompetenzausstattungen bei ungleicher Ressourcenverteilung genauso zu Ungerechtigkeiten führe, wie umgekehrt ungleiche Kompetenzausstattungen bei gleichen Ressourcen (Bittlingmayer & Ziegler 2012). Nach dem CA bedarf es damit einer erweiterten Erfassung sozialer Ungleichheiten, die neben Ressourcen auch Kompetenzen erfasst bzw. die sich auf die verwirklichbaren Lebensentwürfe bezieht, die aus diesen Ressourcen und Kompetenzen resultieren.

Der CA nach Sen ist hingegen auf die Ressource „Verwirklichungschance“ ausgelegt, allerdings ist auch dieser Ansatz nicht per se als rein ressourcenorientierter Ansatz zu verstehen. Zumindest das ganzheitliche Konzept des CAs impliziert, dass Ungleichheiten auf der Individualebene (z. B. durch Einkommen oder Bildung) zu ungleichen Verwirklichungschancen führen, so dass auch hier von einer indirekten Defizitausrichtung ausgegangen wird, indem weniger gebildeten oder finanziell ärmeren Menschen durch die begrenzten Umwandlungsfaktoren weniger Verwirklichungschancen zur Verfügung stehen. Bittlingmayer und Ziegler (2012) weisen darauf hin, dass soziale

61 Partizipation beinhaltet einen sozialen Prozess in Form der aktiven Teilhabe, in dem Individuen oder Gruppen für ihre eigene Gesundheit wie auch für die Wohlfahrt der Gemeinde die Verantwortung übernehmen

(Loss, Warrelmann & Lindacher 2016).

62 Unter Empowerment wird die Vermittlung von Handlungskompetenzen zur Kontrolle und Verbesserung der gegebenen individuellen oder gruppenbezogenen Lebensumstände beschrieben, die durch einen

mehrschichtigen sozialen Prozess gekennzeichnet ist und sich auch durch die Veränderung des sozialen und politischen Umfelds zeigen kann (Loss, Warrelmann & Lindacher 2016).

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132 Ungerechtigkeiten nach dem CA jedoch nicht nur durch ein Mehr oder Weniger an Einkommen, Bildung, Gesundheit usw. erkennbar sind, sondern auch die strukturellen Verhältnisse eingebunden werden, wie Ausgrenzung, Demütigung, Diskriminierung, etc. (Bittlingmayer & Ziegler 2012).

Aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive sozialer Ungleichheiten blieb der CA bisher in der Sozialepidemiologie in der nationalen Ausrichtung nahezu unberücksichtigt. Eine der wenigen Ausnahme hiervon ist der Aufsatz von Abel und Schori (2009), der den CA ergänzt um Bestandteile der Kapital-Interaktionstheorie63 von Bourdieu und sich mit den Grundfragen sozialer Ungleichheit beschäftigt. Dieser bezieht sich u. a. auch auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit von Maßnahmen der Gesundheitsförderung bzw. der Förderung von gesundheitsrelevanten Handlungsspielräumen (Abel & Schori 2009). Im Hinblick auf eine gerechtigkeitsorientierte Versorgungsforschung betrachtet der CA Personen dann als benachteiligt und depriviert, wenn sie weniger positive Freiheiten haben als andere Personen. Dennoch haben diese Personen die gleichen Rechte und Ansprüche für ein gelingendes Leben und gelten nicht nur als bemitleidenswerte Subjekte im Gegensatz zu anderen gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen (Bittlingmayer & Ziegler 2012).64 Benachteiligte Personen nach dem CA sind demnach auch diejenigen Personen, die sich z. B. auf Grund des Alters, des Geschlechts oder durch Behinderungen unterscheiden und deshalb geringere Chancen auf Lebensqualität oder bestimmte Funktionen haben, obwohl sie über das gleiche Güterbündel verfügen (Sen 2007). Diese benachteiligenden Faktoren werden nicht nur in Form der persönlichen Eigenschaften bei der Umwandlung von Einkommen zu Verwirklichungschancen gesehen, sondern sie verringern nach Sen (2007) zugleich die Fähigkeit, Einkommen zu erwerben. Personen mit derartigen Handicaps sind nach gerechtigkeitstheoretischer Auffassung des CAs entsprechende Mittel und Ressourcen bereitzustellen, damit sie die gleichen Chancen auf eine gleich hohe Lebensqualität wie eine nicht benachteiligte Person haben. Soziale Ungleichheit bedarf damit auch einer Bewertung der Vor- und Nachteile in Bezug auf derartig bedingte ungleiche Lebenschancen. Diese Bewertungsgrundlage und Einbezug der Diversität von persönlichen Eigenschaften sind auch insofern wichtig, wenn gesundheitswissenschaftliche Interventionen, z. B. zur Gesundheitsförderung bei Älteren, unter gerechtigkeitsrelevanten Aspekten beurteilt werden sollen. Eine kritische Selbstreflexion und Evaluation der Public Health Disziplin kommt also nicht umher, auch einen Bezugsrahmen zu benennen, der die abgezielten Outcomes auch hinsichtlich der gewählten Gerechtigkeitsnormen bestimmt (vgl. auch Bittlingmayer & Ziegler 2012). Die Berücksichtigung der Heterogenität

63 Abel und Schori (2009) haben den CA ergänzt um das soziale, ökologische und ökonomische Kapital und beschreiben dieses in ihrer Darstellung als sozialen Kontext, der die Verfügbarkeit von Verwirklichungschancen bedingt.

64 Nussbaum beschreibt (2010, S. 157 ff.), dass Rawls bspw. in seiner Theorie der politischen Verteilungsgerechtigkeit und Konzeption der Grundgüter keinen Platz für die besonderen sozialen und gesellschaftlichen Anforderungen eingeräumt hat, derer Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung bedürfen, um umfassend partizipieren und an der Gesellschaft teilhaben zu können.

5.2 Erfassung und Bewertung sozialer Ungleichheiten zur Bestimmung von gesundheitlichen Ungleichheiten mit dem Capability Approach

133 menschlichen Daseins bei der Beurteilung von individuellen Vorteilen ist einer der zentralen Gründe,

warum der CA als theoretische Rahmung prädestiniert erscheint für den Einsatz im Public Health-Bereich. Des Weiteren versucht der CA durch seinen Bezug auf „objektive“

Verwirklichungschancen, das Problem adaptiver Präferenzen zu umgehen. Diese treten bei subjektiven Bewertungsindikatoren, wie der Abfrage des subjektiven Wohlbefindens, Glück oder Zufriedenheit auf und unterliegen damit immer einem individuellen Einfluss. Adaptive Präferenzen werden allerdings dann problematisch, wenn Individuen in benachteiligten Lebensumständen diese inkorporieren und sich an diese gewöhnen. Derartige Adaptionen sind nicht grundsätzlich negativ zu bewerten, jedoch eignen sich diese in der Folge nicht für objektive, vergleichbare Aussagen bezüglich des Wohlergehens von Personen (vgl. auch Teschl & Comim 2005). Weitere Bedenken äußert Sen bezüglich des Verzerrungsrisikos durch selbst auszufüllende Gesundheitsberichtsfragebögen. Hierbei könnten schlechter gebildete Personen ihre eigenen Diagnosen nicht benennen können oder kennen (Sen 2002b). Diese Annahme scheint in westlichen Ländern jedoch nicht so bedenkenswert wie in Entwicklungsländern, so dass dieser Aspekt an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden soll.

5.3 Verbindungslinien zwischen dem Capability Approach und der Gesundheitsökonomie

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5.3 Verbindungslinien zwischen dem Capability Approach und der