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3 Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter

3.1 Bestimmung sozialer Ungleichheit in der Sozialepidemiologie

3.1.2 Lebensstil, Soziale Lage und Lebenslagen

In unterschiedlichsten Lagemodellen werden neben den vertikalen Dimensionen auch horizontale Ungleichheiten erfasst. Diese bilden weitere Ungleichheitsmaße ab, die sich bspw. durch das Alter, Geschlecht, (Herkunfts-)Nationalität, Familienstand oder auch aus der Größe des Wohnortes ergeben können. Derartige Merkmale verlaufen sozusagen horizontal zu den hierarchischen vertikalen Ungleichheiten. Hradil (1987) hat weitere Dimensionen sozialer Ungleichheit neben den vertikalen Dimensionen eingeführt, die bei der Analyse sozialer Ungleichheiten berücksichtigt werden sollten.

Horizontale Dimensionen sozialer Ungleichheit erfassen somit weitere Ungleichheitsmaße, wie z. B.

Wohnsituation, Freizeitgestaltung, kulturelle Teilhabe und soziale Integration, die einen determinierenden Einfluss auf Handlungsbedingungen und Lebenschancen haben könnten (Lampert & Kroll 2009). Hierbei steht auch die Bedeutung von bestimmten Mentalitäten zur Diskussion, welche als „… unbewusste, psychologisch, ‚tief sitzende‘ Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata bezeichnet werden“ (Hradil 2009, S. 44). Der Ursprung oder das Zustandekommen der Mentalitäten wird von Hradil (2009, S. 44) des Weiteren begründet „… durch das Aufwachsen innerhalb der Ressourcenausstattungen und -kombinationen der einzelnen

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65 Schichten…“.31 Hradil (2009) widerspricht dieser Idee aber auch insofern, dass bei Personen aus gleichen Schichten nicht zwingend von ähnlichen Mentalitäten auszugehen sei, sondern es durch Statusinkonsistenzen dazu kommen kann, dass sich Mentalitäten auch schichtgleicher Personen stark unterscheiden. Des Weiteren beschreibt er, dass diese Mentalitäten bzw. Grund- und Werteinstellungen mit dem jeweiligen Krankheits- und Gesundheitsrisiko indirekt zusammenhängen sowie auch mit gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, die auf lagespezifischen Lebenschancen beruhen (Hradil 2009). Die Einbeziehung der horizontalen Dimensionen in die Ungleichheitsforschung wird in Konzepten wie den Lebensstilen (Hradil 1987; Lüdtke 1989) oder der sozialen Lage (vgl. Voges et al. 2003) dargestellt.

(Gesundheits-)Lebensstile

Lebensstile werden definiert als „…regelmäßig wiederkehrender Gesamtzusammenhang von Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbeständen und bewertenden Einstellungen eines Menschen. […] Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und damit Lebensstilgruppierungen ergeben sich u. a. deshalb, weil sich Menschen bei der Gestaltung ihres Lebens an Muster, Vorbilder und Mitmenschen anlehnen“ (Hradil 2005a, S. 437). Somit setzt sich der Lebensstil zusammen aus den Verhaltensweisen und Einstellungen, wohingegen die Lebensbedingungen (wie schicht- und lagespezifische Ressourcen), Lebensformen und kulturelle Einflüsse nach Hradil (2009) nicht Bestandteil des Lebensstils sind, sondern eine Randbedingung bzw. Voraussetzung hierfür darstellen.

Hurrelmann und Richter (2013) beschreiben den Lebensstil durch Handlungs- und Verhaltensmuster, die durch die sozialstrukturelle Lage als Möglichkeitsraum bedingt sind. Einen Teil der Lebenschancen bilden die Gesundheitschancen, die sich durch die Gesamtheit der begrenzenden und erweiternden Strukturen sowie Ressourcen ergeben und indirekt mit dem Gesundheitsverhalten verflochten sind (Hurrelmann & Richter 2013). Die gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen erfassen bspw. in modernen Gesellschaften neben der Ernährung und der Einnahme von Substanzen, wie exzessiver Alkohol-, Nikotin- und illegaler Drogengenuss, die körperliche Bewegung, die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen und den Umgang mit Stress (Hradil 2005b). In Verbindung mit diesen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen bilden diese zusammen mit gesundheitsrelevanten Einstellungen den individuellen Gesundheitslebensstil (Hradil 2005b). Mit Hilfe von Lebensstilen wird versucht unterschiedliche Verhaltens-, Denk- und Einstellungsmuster von Menschen zu erfassen bzw.

zu gruppieren, die bspw. in Form von konstanten Alltagsgewohnheiten zu einem „persönlichen Stil“

31 Angelehnt ist die Betrachtung von Mentalitäten an der Beschreibung des „Habitus“ von Pierre Bourdieu (1982). Neben der „Habitustheorie“ wird auch der Constrained Choice Ansatz (Franz 1986), der sich mit individuellen Entscheidungshandlungen befasst, als wichtige individualbezogene Theorie des Lebensstils angesehen. Die Diskussion der theoretischen Grundlagen der Habitustheorie oder der Constrained Choice Theorie sollen allerdings nicht weiterer Bestandteil dieser Arbeit sein.

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66 werden, der wiederum bedingt ist durch die individuelle Entscheidungsfreiheit (Hradil 2009). Die schichtspezifischen Bedingungen sind dabei nicht zwingend kompatibel mit spezifischen Lebensstilen.

Das heißt, es existiert nicht zwingend ein Zusammenhang zwischen der sozialen Schicht und der sozialen Lage (Hradil 2009). Die Einbindung von Lebensstilen zeigt sich sinnvoll in Form von intervenierenden und unabhängigen Variablen in der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung (Hradil 2009). Gesundheitsrelevante Einstellungen wurden bspw. kategorisiert in Form der Gesundheits-Interventionisten, Gesundheitspraktiker und Gesundheitsnihilisten (Lüschen 1996). Die Interventionisten verhalten sich rational und bewusst. Diese nehmen bspw. viele Vitaminpräparate und freiverkäufliche Pharmaka ein, wobei sie zugleich im Durchschnitt jedoch keinen guten Gesundheitszustand haben (Lüschen 1996). Der Typus Gesundheitspraktiker verhält sich gesund, das bedeutet z. B. kein Zigarettenkonsum, sportliche Aktivität und wenig Einnahmen von Vitaminen und freiverkäuflichen Pharmazeutika (Lüschen 1996). Die Nihilisten verhalten sich gesundheitsschädigend, indem sie viel rauchen, sich schlecht ernähren und nur wenig sportlich aktiv sind (Lüschen 1996). Aktuelle vertiefende Analysen in Bezug auf das höhere Lebensalter und entsprechende Gesundheitslebensstile sind nicht vorhanden. Aus den bisherigen Ergebnissen lassen sich auch noch keine eindeutigen Erkenntnisse ableiten, ob es einen Zusammenhang zwischen Gesundheitslebensstilen und der Gesundheit im höheren Lebensalter gibt. Die vorhandenen empirischen Ergebnisse weisen auf einen schwachen Zusammenhang. Es bedarf entsprechend noch weiterer Daten zur Abklärung der Frage, inwiefern ein gesunder Lebensstil sich auch positiv auf die objektive Gesundheit auswirkt oder ob wiederum eine sich verschlechternde Gesundheit der Anlass zu einem gesünderen Lebensstil ist (Hradil 2009).

Infolgedessen, dass bisher vor allem querschnittlich angelegte Studiendesigns analysiert worden sind in Bezug auf Gesundheitslebensstile, gibt es bislang noch keine evidenten Aussagemöglichkeiten über die Erklärungskraft von mehrdimensionalen Gesundheitslebensstilmodellen auf die individuell ungleichen Gesundheitschancen (Mergenthaler 2012). Eine Ausnahme bildet der

„Lebenserwartungssurvey“ aus dem Jahr 1998. Im Rahmen dessen wurden von Hradil (2005b) mit Daten aus zwei Erhebungszeitpunkten die Einflussgrößen auf Gesundheitslebensstile untersucht.

Diese Längsschnittstudie zur Erklärung von Lebensstilen auf die Gesundheit von Hradil (2005b) zeigte schwache, positive Zusammenhänge des Gesundheitslebensstils auf die Gesundheit. Das Geschlecht hatte den stärksten Einfluss auf den verhaltensbezogenen Gesundheitslebensstil (Frauen zeigten einen gesünderen Lebensstil als Männer) (Hradil 2005b). Zudem wiesen Singles im Vergleich zu anderen Lebensformen einen gesünderen Verhaltenslebensstil auf (Hradil 2005b). Es ergaben sich keine signifikanten Lebensstilunterschiede bei den unterschiedlichen Altersgruppierungen (Hradil 2005b). Eine leicht negative Korrelation ergab sich zwischen einer besseren beruflichen Stellung und einem gesunden Lebensstil, jedoch ergab sich ein positiver Zusammenhang zwischen

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67 der besseren beruflichen Stellung und der selbstberichteten Gesundheit (Hradil 2005b). Die Schichtzugehörigkeit von Menschen zeigte insgesamt allerdings einen unabhängigen und auch stärkeren Einfluss auf den Gesundheitszustand als der Gesundheitslebensstil. Im Vergleich mit der sozialen Schichtzugehörigkeit deuteten die Ergebnisse darauf hin, dass die Mitglieder der höheren Schichten gesündere Verhaltensweisen zeigen, wobei sich der Zusammenhang in Bezug auf den Bildungsgrad und eine gesunde Ernährung nicht so eindeutig erwies (Hradil 2005b). Dieses wird ursächlich in den Schichtdimensionen selbst, aber auch in den schichtspezifischen Lebenschancen, Mentalitäten und gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen gesehen (Hradil 2009).

Mergenthaler (2012) resümierte hieraus, dass Gesundheitslebensstile als Ergänzung von sozialstrukturellen Einflüssen für Erklärungsmodelle von ungleichen Gesundheitschancen angesehen werden können, dennoch keine Alternative darstellen und somit als Drittvariablen (Confounder) in Analysen berücksichtigt werden sollten. Mergenthaler (2012) beschreibt außerdem, dass die vorliegenden empirischen Erkenntnisse bisher keinen Rückschluss zulassen, ob Lebensstile eine unabhängige Ursache für eine hohe gesundheitliche Lebensqualität darstellen im Vergleich zu Schichtzugehörigkeiten.

Lebenslagen

Otto Neurath führte den Begriff sowie die theoretischen und methodischen Grundlagen der Lebenslagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und betonte hierbei die Wichtigkeit der Berücksichtigung der Mehrdimensionalität von Lebensumständen, die zu einer Lebenslage führen (Clemens 2004). Neurath definierte den Begriff „Lebenslage“ als ein Konzept zur Erfassung der Lebenssituation von Individuen (Leßmann 2006). Weitere wichtige Vertreter, die den Lebenslagenansatz prägten und weiterentwickelten, waren z. B. Gerhard Weisser sowie zur Einbindung in die Sozialstrukturanalysen Hradil (1987) und Backes (1997) neben zahlreichen weiteren. Lebenslagen stellen ebenso wie Schichtmodelle gesellschaftlich hergestellte soziale Ungleichheiten dar, die auch zu unterschiedlichen kohortenbezogenen Start- und Entwicklungschancen führen, welche sich in strukturellen Gegebenheiten, aber auch in den Handlungen und letztlich in der Summe als ein Produkt in der Lebenslage des Alters wiederfinden lassen (Clemens 2004). Die Definition von Naegele (1998, S. 106) stellt zusätzlich die Erklärungs- und Beurteilungsfähigkeit durch die Abbildung von Lebenslagen heraus: „Das Lebenslagenkonzept gilt in den Sozialwissenschaften als ein Konzept zur Beschreibung, Erklärung, Beurteilung und Prognose der materiellen und immateriellen Lebensverhältnisse von Personengruppen.“ Ergänzende Merkmale von Lebenslagen sind nach Clemens (2004, S. 47): „Lebenslagen bedeuten aber auch Spielräume, die Einzelne innerhalb dieser Verhältnisse zur Gestaltung ihrer Existenz potenziell vorfinden und tatsächlich verwerten. Lebenslagen vermitteln somit Lebenschancen als strukturierte

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68 Wahlmöglichkeiten. Die mit der jeweiligen Lebenslage verbundenen ‚Handlungsspielräume‘ verweisen auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Interessensentfaltung und Interessensbefriedigung.“

Voges (2002) erfasste vier Aspekte, welche die unterschiedlichen Lebenslagenansätze gemeinsam miteinander verbinden: a) Lebenslagenansätze bestehen aus verschiedenen strukturellen Ebenen der Gesellschaft, b) anders als ökonomische Ansätze sind sie multidimensional angelegt, c) Lebenslagen beschäftigen sich kontrovers mit Debatten um subjektive versus objektive oder immaterielle versus materielle Dimensionen der Unter- und Überversorgung, d) Lebenslagenansätze sind nicht in Ursache-Wirkungs-Relationen abbildbar, so dass sich Ursache und Wirkung, vermittelt durch die Kategorie Zeit, häufig gegenseitig bedingen bzw. vermischen. Voges (2002) beschreibt des Weiteren, dass sich Lebenslagen bzw. Handlungsspielräume erfassen lassen durch die Dimensionen Bildung, Erwerbstätigkeit, Wohnen, Gesundheit und Einkommen. Für die Lebenslage des höheren Lebensalters werden sieben Bereiche an Spielräumen unterschieden:

(1) Einkommens- und Vermögensspielraum

(2) Materieller Versorgungsspielraum (z. B. in Bezug auf Wohnbereich, Bildung- und Gesundheitswesen, infrastrukturelle Einrichtungen etc.)

(3) Kontakt-, Kooperations- und Aktivitätsspielraum (z. B. Möglichkeiten der Kommunikation, Interaktion etc.)

(4) Lern- und Erfahrungsspielraum (z. B. Möglichkeiten der Weiterentwicklung, die durch soziale und räumliche Mobilität und das jeweilige Wohnumfeld bedingt ist)

(5) Dispositions- und Partizipationsspielraum (bestimmt wird dieser z. B. anhand des Ausmaßes der Mitbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten in verschiedenen Lebensbereichen)

(6) Muße- und Regenerationsspielraum (wird determiniert durch alterstypische psychische und physische Veränderungen des Gesundheitszustandes)

(7) Spielraum bedingt durch Unterstützungsressourcen (z. B. ist dieser abhängig vom familialen oder nachbarschaftlichen Umfeld im Falle der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit) (Naegele 1998;

Clemens 2004).

Clemens (2004) hat hierzu speziell in Bezug auf das höhere Lebensalter ergänzt, dass in dieser Lebensphase, neben den finanziellen und materiellen Aspekten, immaterielle Merkmale wichtig werden könnten, wie familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen, soziale Netzwerke, gesundheitliche Eigenschaften des betroffenen Individuums sowie normative und kulturspezifische Bedingungen des Alterns. Die Verwendung der Handlungsspielräume ist verknüpft mit erlernten Mustern und Gewohnheiten des Handelns und der Wahrnehmung, was wiederum eng gebunden ist an schicht- und geschlechtsspezifische Erfahrungsausprägungen (Clemens 2004).

Die Begriffe Lebenslagen bzw. Soziallagen werden häufig in der Literatur nicht einheitlich definiert und deshalb auch synonym verwendet (Sperlich, Babitsch & Hofreuter-Gätgens 2011). Für eine

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69 potenzielle Einbindung in den sozialepidemiologischen oder medizinsoziologischen Kontext zur

Bestimmung von relevanten Lebenslagen sprechen sich Sperlich, Babitsch und Hofreuter-Gätgens (2011) dafür aus, eine theoriegestützte Auswahl auf Grundlage des bisherigen

Wissens über gesundheitsrelevante Lebensbedingungen festzulegen. Des Weiteren wird von Sperlich, Babitsch und Hofreuter-Gätgens (2011) empfohlen, im medizin- und gesundheitssoziologischen Kontext den Begriff „Lebenslagen“ zu verwenden, da dieser stärker von der strukturgebenden Bedeutung der Schichtindikatoren ausgeht als der Soziallagenansatz, der in Zusammenhang mit dem angenommenen Bedeutungsverlust der vertikalen Dimensionen benannt wird. Diese Annahme des Verlusts bzw. der Abnahme der Einflüsse von vertikalen Schichtdimensionen konnte bisher allerdings bekannterweise nicht bestätigt werden. Der Lebenslagenansatz beinhaltet somit das Potenzial, die klassischen Elemente der Klassen- und Schichtanalyse mit der horizontalen Betrachtungsweise der Lebensstiluntersuchungen zu verbinden (Sperlich & Geyer 2010).

Theoretisch wie auch empirisch ist der Lebenslagenansatz in der nationalen gesundheitlichen Ungleichheitsforschung erst wenig bearbeitet worden, wohingegen er in der Armutsforschung und der sozialen Gerontologie bereits konzeptuell mehr aufgearbeitet worden ist (Naegele 1998). Einige Ausnahmen in der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung sind bspw. die bereits angeführten Arbeiten von Sperlich, Babitsch und Hofreuter-Gätgens (2011) oder Sperlich und Geyer (2010).

Insgesamt sind diese weiterführenden Analysen der Sozialstrukturen in der Sozialepidemiologie und medizinischen Soziologie allerdings erst wenig verbreitet. Sperlich und Geyer (2010) zeigten jedoch die Relevanz von weiterführenden Konzepten in einer Studie, welche die Lebenskontexte von Müttern mit besonderen Gesundheitsrisiken analysierte. Hierbei ergab sich, dass zum Teil bei den Müttern die psychosoziale Belastung einen größeren Erklärungsanteil hatte als die Schichtindikatoren (Sperlich & Geyer 2010).

Im Rahmen des aktuellen siebten Altenberichts der Bundesregierung wird auch auf das Konzept der Lebenslagen eingegangen, dieses allerdings kritisch betrachtet. Dies bezieht sich auf die Tatsache, dass sich die meisten Studien, die sich empirisch mit dem Lebenslagenansatz auseinandergesetzt haben, auf die „objektiven“ Merkmale beziehen und eine subjektive Wahrnehmung und Bewertung dieser außen vor lassen (BMFSFJ 2016). Als Alternative und zusammenführender Ansatz wird in diesem Rahmen des siebten Altenberichts auf den Verwirklichungschancen-Ansatz verwiesen (BMFSFJ 2016). Leßmann (2006, 2009) hat sich vertieft beschäftigt mit dem Vergleich und der Analyse des Lebenslagen- und des Verwirklichungschancen-Ansatzes. Grundsätzlich weisen demnach die beiden Ansätze einige Parallelen auf, indem sie sich bspw. beide auf das individuelle Wohlergehen, die Multidimensionalität von Faktoren zur Armutsbestimmung und dem bis heute ungelösten Problem der Vergleichbarkeit in der Wohlfahrtsökonomie beziehen (Leßmann 2006).

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70 Dennoch gibt es einige Unterschiede je nach Ausgestaltung des Konzeptes der Lebenslagen. In dem Lebenslagen-Konzept von Neurath ist die Lebenslage bspw. ein Instrument zur Bestimmung des Nutzens und Nutzen die Kategorie, mit der Wohlergehen gemessen wird, während bei Sen bewusst Funktionen statt Nutzen verwendet werden (Leßmann 2006). Als weiteren Kritikpunkt führt Leßmann (2006, 33 f.) an, dass die vielfältigen Bezüge und Deutungen des Lebenslagen-Konzeptes diesen Ansatz „verschwimmen lassen“ haben und der Begriff Lebenslage auch in der Alltagssprache manchmal ohne Bezug auf den theoretischen Ansatz verwendet wird. Im Gegensatz hierzu stellt Sen den Verwirklichungschancen-Ansatz auch theoretisch formal dar und beschreibt die angenommenen Zusammenhänge detaillierter zwischen Umwandlungsfaktoren, Verwirklichungschancen und Funktionen.

3.2 Medizinsoziologische und sozialepidemiologische Erklärungsansätze

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3.2 Medizinsoziologische und sozialepidemiologische Erklärungsansätze

In der soziologischen Gesundheitsforschung wird unterschieden zwischen der „Sozialepidemiologie“, das heißt der Analyse der gesellschaftlichen Einflüsse auf Entstehung und Verlauf von Krankheit und Gesundheit, sowie der „sozialwissenschaftlichen bzw. medizinsoziologischen Versorgungsforschung“, die sich sowohl mit der Analyse von gesellschaftlichen Einflüssen auf die Struktur und Funktion des Versorgungssystems, der Inanspruchnahme durch Patient/-innen als auch der Leistungserbringung durch Gesundheitsfachberufe befasst (Badura & von dem Knesebeck 2012, S. 193). In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung von gesellschaftlichen Kontextfaktoren, die zum

„gelingenden“ Altern beitragen und sich auf Gesundheitsmerkmale positiv auswirken, so dass diese Studie im Bereich der Sozialepidemiologie anzusiedeln ist mit daraus ableitbaren Empfehlungen für sowohl die Versorgungsforschung als auch der medizinsoziologischen Theorieentwicklung. Die Sozialepidemiologie entstammt aus der medizinischen Epidemiologie sowie aus der quantitativen Sozialforschung und hat sich bisher v. a. mit Determinanten als Ursache für die Verbreitung von Krankheiten beschäftigt (Badura & von dem Knesebeck 2012). Die Ziele, der durch Interdisziplinarität gekennzeichneten Sozialepidemiologie, beziehen sich dabei auf die Suche von Risikofaktoren und Kausalitäten zwischen identifizierten Risikofaktoren und Gesundheitsvariablen sowie der Aufgabe, diese zu vermindern und in der Gesellschaft Gesundheit herzustellen (Badura & von dem Knesebeck 2012).

Der Einbezug medizinsoziologischer Theorien bietet durch die Berücksichtigung soziogenetischer Einflüsse auf Krankheit und Gesundheit eine relevante Voraussetzung zur Weiterentwicklung und Erweiterung der Handlungsgrundlagen von Versorgungssystemen (Borgetto, Mann & Janßen 2007).

Soziologische Theorien in der medizinsoziologischen Versorgungsforschung sind insofern relevant, dass durch diese veränderte Rahmenbedingungen und Anforderungen an das gegenwärtige Versorgungssystem konzeptionell abgebildet und aufgearbeitet werden können. Dies impliziert nach Borgetto, Mann und Janßen (2007, S. 67), dass Theorien des sozialen Wandels, v. a. in Bezug auf den demographischen und epidemiologischen Wandel, „[…] aber auch durch soziale Prozesse wie Rationalisierung, Bürokratisierung, Globalisierung, Ökonomisierung und Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, bzw. von Teilsystemen der Gesellschaft erfasst werden.“ Derartige Kenntnisse über soziale Strukturen, z. B. auch über Lebensstile und Verhaltensweisen, sind notwendig, um die Anforderungen, Rahmenbedingungen und Entwicklungen der Versorgungsforschung modellhaft zu antizipieren und entsprechend auf diese proaktiv reagieren zu können.

Epidemiologisch ist vielfach belegt, dass der sozioökonomische Status von Personen einen Zusammenhang mit gesundheitsgefährdenden- bzw. krankheitsbezogenen Risikofaktoren hat. Da sich für fast alle Erkrankungen sowohl zwischen der niedrigen und mittleren sozioökonomischen

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72 Statusgruppe signifikante Unterschiede hinsichtlich der Gesundheitszustände ergeben als auch zwischen der mittleren und hohen Statusgruppe, wird wie bereits benannt von einem sozialen Gradienten gesprochen (vgl. RKI 2015a, S. 150). Unlängst besteht auch Einigkeit darüber, dass nicht nur die „traditionellen“ Schicht-Indikatoren wie Einkommen, erreichtes Bildungsniveau und berufliche Stellung einen Zusammenhang mit gesundheitsrelevanten Ressourcen bzw. Risikofaktoren beinhalten, sondern auch Bereiche wie die soziale Unterstützung oder der soziale Nahraum, das heißt räumliche Effekte (Sahrai & Bittlingmayer 2010). Die positiven und negativen Effekte, die sich aus diesen Faktoren ableiten lassen für den individuellen Gesundheitszustand, auch im Zusammenspiel miteinander, werden jedoch umso komplexer, wenn der Frage nachgegangen wird, welche Zusatzannahmen in sozialepidemiologische Ansätzen notwendig sind, um von einer gesundheitsförderlichen bzw. gefährdenden Lage ausgehen zu können (Sahrai & Bittlingmayer 2010).

Somit besteht eine Erklärungslücke zwischen dem Zusammenhang der individuellen Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bzw. der umweltbezogenen, strukturellen Faktoren und den Gesundheits- bzw.

Krankheitszuständen. Dieser „missing link“, wie Sahrai und Bittlingmayer (2010) es bezeichnen, zwischen sowohl der Schichtzugehörigkeit, das heißt den formalen Handlungsressourcen, als auch der strukturellen Gegebenheiten und Gesundheitseinschränkungen bzw. Krankheitsrisiken wird bisher mit dem individuellen Gesundheitsverhalten erklärt.

Die bestehenden Modelle berücksichtigen damit mehrere intervenierende Faktoren, deren jeweiliger Einflussfaktor empirisch kaum möglich zu erfassen ist. In der Folge werden kausale Wirkungspfade in diesen Modellen eher nicht betrachtet. Bisher konnte auch noch nicht in sozialepidemiologischen, empirischen Studien abschließend identifiziert werden, wie groß der Anteil einzelner Faktoren von sozialer Ungleichheit auf die gesundheitliche Ungleichheit ist (vgl. auch den systematischen Review von Richter, Ackermann & Moor 2011). Siegrist (2005) beschreibt, dass durch soziale Selektion (siehe

„Drift- oder Selektionshypothese“) nur ein geringer Teil der Varianz des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität von höchstens 5 bis 10 % aufgeklärt werden kann. Des Weiteren beschreibt er, dass die frühzeitige Sterblichkeit von Personen aus der unteren Sozialschicht durch ärztliche Interventionen nur ca. 10 bis 15 % nach Expertenschätzung zur Varianzaufklärung des sozialen Gradienten beiträgt, wohingegen die schichtspezifischen Belastungen für die ungleiche Krankheitslast wesentlich verantwortlich zu sein scheinen (Siegrist 2005). Einige Studien weisen bereits darauf hin, dass das Gesundheitsverhalten bis zu 50 % gesundheitlicher Ungleichheit erklären kann (Mielck 2010; Laaksonen et al. 2007).

In der „Health and Retirement Study“ fanden Shaw et al. (2014) heraus, dass der Erklärungsbeitrag des Gesundheitsverhaltens auf die Mortalitätsunterschiede insgesamt zwischen 5 % bei Frauen über 65 Jahren und 23-45 % bei Männern und Frauen im mittleren Lebensalter lag. Die Unterschiede in der Funktionsbeeinträchtigung konnten durch das Gesundheitsverhalten mit ca. 33 % bei den Frauen

3.2 Medizinsoziologische und sozialepidemiologische Erklärungsansätze

73 sowie 9-14 % bei den Männern erklärt werden (Shaw et al. 2014). Somit sind alters- und geschlechtsbezogene Unterschiede des Einflusses nicht auszuschließen. Richter und Mielck (2000) beschreiben, dass das Gesundheitsverhalten hinsichtlich der subjektiven Gesundheit von Männern einen Gesamterklärungsanteil von 41 % hat, wovon allerdings nur 20 % auf das Gesundheitsverhalten zurückzuführen seien und 21 % durch den Einfluss materieller und struktureller Faktoren bestehen, welche auf das Gesundheitsverhalten einwirken. Der Erklärungsanteil von materiellen/strukturellen Faktoren wird entsprechend auf insgesamt 64 % geschätzt (Richter & Mielck 2000). Hiervon sind ca. 43 % direkt auf die strukturellen Lebensbedingungen zurückzuführen und die verbleibenden 21 % führen durch das Gesundheitsverhalten zu Ungleichheiten in der subjektiven Gesundheit (Richter & Mielck 2000). Die Beachtung von strukturellen Lebensbedingungen ist damit bei Analysen gesundheitlicher Ungleichheit ein wichtiger, nicht zu vernachlässigender Faktor. Eine sehr vereinfachende Darstellung dieser angenommenen direkten und indirekten Zusammenhänge zeigt das Modell von Stronks et al. (1996) (siehe Abbildung 14).

Abbildung 14: Direkte und indirekte Zusammenhänge zwischen dem sozioökonomischen Status und Gesundheit

Quelle: Stronks et al. (1996): S. 656. (Eigene Übersetzung).

Richter, Ackermann und Moor (2011, S. 10) differenzieren die Systematisierung der Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit in ähnlicher, aber ausdifferenzierterer Form:

1. Erklärung durch Artefakte (artefact explanation)

2. Erklärung durch natürliche und soziale Selektion (natural/social selection explanation) 3. Erklärung durch kulturelle/verhaltensbezogene Faktoren (cultural/behavioural explanation) 4. Erklärung durch materielle/strukturelle Faktoren (material/structural explanation).

Um die Konsequenzen von gesellschaftlichen bzw. sozialen oder umwelträumlichen Veränderungen und Prozessen abschätzen und kontrollieren zu können, wurden komplexere mikro-, meso- und makrosoziologische Erklärungsmodelle konzipiert, welche gesundheitliche Auswirkungen des sozialen Systems darstellen sollen. Gesundheitszustände und gesellschaftliche Verhältnisse bzw. soziale Systeme werden eher selten in Form einer Wechselbeziehung aufgefasst, das heißt die Auswirkungen der „Drift- oder Selektionshypothese“32 wird für die Mortalität und physische Morbidität einer

Um die Konsequenzen von gesellschaftlichen bzw. sozialen oder umwelträumlichen Veränderungen und Prozessen abschätzen und kontrollieren zu können, wurden komplexere mikro-, meso- und makrosoziologische Erklärungsmodelle konzipiert, welche gesundheitliche Auswirkungen des sozialen Systems darstellen sollen. Gesundheitszustände und gesellschaftliche Verhältnisse bzw. soziale Systeme werden eher selten in Form einer Wechselbeziehung aufgefasst, das heißt die Auswirkungen der „Drift- oder Selektionshypothese“32 wird für die Mortalität und physische Morbidität einer