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3 Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter

3.1 Bestimmung sozialer Ungleichheit in der Sozialepidemiologie

3.1.1 Schichtansätze in der Sozialepidemiologie

Die soziale Differenzierung anhand der Schichtkonzepte ist empirisch seit dem 20. Jahrhundert weit verbreitet auf Grund dessen, dass sich der Beruf und nicht länger das Besitztum zu einer gesellschaftlichen Statusdeterminante entwickelte (Hradil 2005a). Hradil (2005a, S. 40) definiert das Schichtkonzept wie folgt: „Gruppierungen von Menschen mit ähnlich hohem Status innerhalb einer oder mehrerer berufsnaher Ungleichheitsdimensionen werden üblicherweise als Schichten bezeichnet.

Dementsprechend finden sich Einkommensschichten, Berufsprestigeschichten und Bildungsschichten.

Werden Statusgruppierungen im Hinblick auf mehrere berufsnahe Dimensionen sozialer Ungleichheit zugleich angeordnet, so wird von ‚sozialen‘ Schichten gesprochen“. Diese in den modernen Industriegesellschaften „berufsnahen“ Dimensionen stellen Gruppierungen im Ungleichheitsgefüge dar, die vergleichbar miteinander sind (Hradil 2009). Die Schichtkonzepte gehen von einer ungleichen Verteilung von gesellschaftlich differenzierten vertikalen Dimensionen aus, die zu unterschiedlichen Lebenschancen führen (Winkler & Stolzenberg 2009). Diese gesellschaftlich bedingten Funktionszusammenhänge führen durch die stabilisierenden politischen und gesetzgeberischen Rahmenbedingungen zu weiteren Ausdifferenzierungen (Lampert & Kroll 2009). Die Untersuchungen von Scheuch aus den 1960er Jahren stellten in Deutschland den Beginn dar, drei Dimensionen der sozialen Schicht zu operationalisieren, die in dem sogenannten Scheuch-Index eingebunden wurden.

Die ursprüngliche Grundidee von Erwin K. Scheuch war es, als Grundlage das Sozialprestige zu verwenden und dieses weiter zu unterteilen in unterschiedliche Dimensionen, die aus der

„wirtschaftlichen Lage“, dem „Sozialprestige von Berufskreisen“ und dem „kulturellen Niveau“

bestehen (Winkler & Stolzenberg 1999). Nachdem Scheuch den drei Dimensionen anfänglich mehrere Indikatoren zuwies, erwiesen sich letztlich das Einkommen (des Haushaltsvorstandes) für die wirtschaftliche Lage sowie die Berufszugehörigkeit für das Sozialprestige des Berufs und die schulische Bildung für das kulturelle Niveau als aussagekräftige Indikatoren (Lampert & Kroll 2009).

Winkler und Stolzenberg (1999) haben den Scheuch-Index zur Anwendung im Bundes-Gesundheitssurvey 1998 adjustiert, um damit entsprechende soziale Differenzierungen bei der Verteilung von Gesundheitsrisiken darzustellen. Diese haben, ähnlich wie beim Scheuch-Index, folgende zugrunde gelegten Annahmen beschrieben: Das Einkommen ist mit unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten verbunden, der Bildungsgrad gilt als Indiz für bestimmte Verhalten und die berufliche Stellung ist assoziiert mit einer gewissen Wirkung des sozialen Umfeldes (Winkler & Stolzenberg 1999). Der Index wurde entsprechend modifiziert, z. B. in Form der Anpassung der Einkommensdimensionen, auch als „Scheuch-Winkler-Index“ (SWI) bekannt

(Winkler & Stolzenberg 1999). Hierbei können die drei Einzeldimensionen Werte zwischen 1-7 annehmen, die im Gesamtindex entsprechend Skalenpunkte zwischen 3-21 ergeben

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62 (Winkler & Stolzenberg 1999). Aus den Abstufungen der drei Dimensionen wird somit ein individueller Punktwert gebildet, der in einen bestimmten Punktewertbereich fällt und die Zuordnung zu einem Status in dem dreidimensionalen Schichtgefüge ermöglicht (Hradil 2009). Im Zusammenhang mit den schichtungssoziologischen Analysen wird damit der sozioökonomische Status erfasst (auch abgekürzt bekannt als SES – Socio-Economic Status), der eine Zuordnung zu den Schichten ermöglicht (Lampert & Kroll 2009). Die Zuordnung zu den Schichten erfolgt in der Regel dadurch, dass 25 % der Bevölkerungsgruppe mit den niedrigsten Statuswerten in die Unterschicht, die nächsten 25 % oder 50 % in die Mittelschicht und die verbleibenden 25 % in die Oberschicht eingeteilt werden (Hurrelmann & Richter 2013). Die Anzahl der abgegrenzten Schichten ist dabei jeweils von der Fragestellung abhängig (Lampert & Kroll 2009). Nach Lampert und Kroll (2009) lässt sich für diese Unterteilung keine theoretische Begründung finden, so dass diese als willkürliche statistische Konstrukte mit einem hohen normativen Ausmaß von diesen benannt werden. Winkler und Stolzenberg (1999) weisen zudem darauf hin, dass diese empirisch ordinale Skalenumsetzung, wie z. B. in Bezug auf das Einkommen oder die Bildung, immer relational im Zeitvergleich anzupassen sei.

Der sozioökonomische Status wird dennoch als geeigneter Indikator gesehen, um nicht nur materielle Benachteiligungen und Vorteile darzustellen, sondern auch potenzielle psychosoziale Belastungsfaktoren wie finanzielle Unsicherheiten, Arbeitsplatzunsicherheiten, Arbeitsunfälle sowie weitere sozial- und umweltbedingte Stressoren (vgl. auch Committee on Assuring the Health of the Public in the 21st Century 2003). Zugleich werden die drei Merkmale als „meritokratische Triade“

bezeichnet, da sie in Abhängigkeit von den Leistungen stehen, die erbracht worden sind (Hurrelmann & Richter 2013). In der sozialwissenschaftlichen und gesundheitswissenschaftlichen Forschung wird der sozioökonomische Status teilweise als wichtigste sozial strukturierende Kategorisierungsmöglichkeit zur Klassifikation der sozialen Positionen angesehen (Hurrelmann & Richter 2013). Im Allgemeinen können die Schichtindikatoren damit als Hilfsmittel des autonomen Handelns gesehen werden (Hradil 2009).

Bei stark aggregierten Indikatoren stellt sich auch die Frage, welche zugrundeliegenden Annahmen und Merkmale mit diesen Indikatoren, neben dem Sozialprestige in Bezug auf gesundheitsrelevante Ressourcen bzw. Belastungen, erfasst werden sollen. Geyer (2010) beschreibt die angenommenen Inhalte der einzelnen Indikatoren wie folgt: Schulbildung sei eine Variable, die näherungsweise quantitatives Wissen erfasst und damit die unterschiedlichen Möglichkeiten erfasst, auf Anforderungen adäquat reagieren zu können sowie auch die Bereitschaft nach Informationen zu suchen und sich mit anderen Individuen zu vernetzen, was die Durchsetzungsmöglichkeiten maximiert. Die Operationalisierung der Bildungsgrade erfolgt in der Regel nach den erreichten allgemeinbildenden Abschlüssen, wie Hauptschulabschluss, mittlere Reife etc. (Hradil 2009). Die

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63 Zusammenhänge zwischen Gesundheitsvariablen und der Bildung sowie auch mit dem Lebensstil und den Selbststeuerungs- bzw. Kontrollüberzeugungen werden auch mit der „Humankapitaltheorie“ im sozialepidemiologischen Bereich diskutiert (vgl. u. a. Mirowsky & Ross 1998). Durch Bildung ist es demnach möglich, Ressourcen und Handlungskonzepte auszubilden, die dazu beitragen, dass das Individuum sich Ziele setzen und Strategien zur Erreichung dieser Ziele anwenden kann (Kruse & Schmitt 2016). Es wird zudem angenommen, dass das Individuum durch Bildung befähigt wird materielle und immaterielle Mittel einzusetzen, die zur Erreichung bzw. der Erhaltung von Gesundheit(szielen) nützlich sind (Kruse & Schmitt 2016). Zugleich stellt die Dimension Bildung bzw.

dessen Indikator die ungleiche Verteilung von ökonomischen, sozial-psychologischen und verhaltensbezogenen Ressourcen dar, die sich durch latente Wirkungen der diversifizierenden Variable auf Gesundheitsvariablen zeigt (Leopold & Engelhardt 2011). Bildung trägt auch zur Umsetzung von Durchsetzungs- und Handlungsstrategien bei, die sich der Theorie nach positiv auf gesundheitsförderliche Lebensstile auswirken (Kruse & Schmitt 2016). Außerdem wird angenommen, dass höher gebildete Personen ein besseres Wissen über Krankheitsursachen und entsprechender Prävention bzw. Hygiene haben, das Gesundheitsverhalten besser ist sowie auch der Umgang mit Gesundheitsrisiken (Hradil 2009). Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass ein Zusammenhang zwischen Bildung und materiellem Wohlstand vorhanden ist durch die Erreichbarkeit höherer beruflicher Positionen sowie des Vorhandenseins besserer Problemlösekompetenzen und Ressourcen zur Stressbewältigung (Kruse & Schmitt 2016).

Die berufliche Position gibt Hinweise über das Ausmaß der Kontrolle der eigenen Tätigkeit und die Selbststimmungsmöglichkeiten bei der Arbeit (Geyer 2010). Dieses zeigt sich auch in den Kontrollspielräumen, die bei sogenannten „Gratifikationskrisen“ bspw. in einem Missverhältnis mit quantitativen Anforderungen der Arbeit stehen (vgl. hierzu auch das „effort-reward imbalance model“ (ERI) von Siegrist 2012). Zudem wird angenommen, dass in den unteren Gruppen der hierarchischen beruflichen Stellung hohe Belastungen durch „Stressoren“, bspw. in Form von schädlichen Umweltfaktoren (Lärm, Luftverschmutzung etc.) und geistig-seelische Belastungen (z. B. in Form von einseitiger Konzentration etc.), vorhanden sind (Hradil 2009). Die vertikale Ordnung

der Berufsgruppen ergibt sich aus den Kriterien „Stellung im Beruf“, wie Arbeiter/-in, Angestellte/-r etc., und dem „Ausbildungsniveau“, wie beruflich-betriebliche Lehre etc. (Hradil 2009).

Der Indikator Einkommen erfasst die unterschiedlich möglichen Arten der Lebensführung sowie auch Möglichkeiten zur Vertretung der eigenen Interessen, indem durch finanzielle Mittel die Durchsetzungschancen verbessert werden können (Geyer 2010). In der sozialepidemiologischen Forschung wird häufig das Haushaltsnettoeinkommen herangezogen, um den finanziellen Handlungsspielraum des Haushaltes abzubilden (Lampert & Kroll 2009). Die Bestimmung dieses setzt sich nach Lampert und Kroll (2009, S. 322) wie folgt zusammen: „Das Haushaltsnettoeinkommen

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64 ergibt sich aus der Summe der durch die Teilnahme am Wirtschaftsprozess erzielten Einkommen aller Haushaltsmitglieder zuzüglich öffentlicher und nicht-öffentlicher Transferzahlungen nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen“. Häufig wird zur Gewichtung des Einkommensbedarfs eine OECD-Äquivalenzskala verwendet, die diesen Bedarf nach dem Alter der Haushaltsmitglieder wiedergibt. Die OECD-Skala hat sich als Standard in der sozialepidemiologischen Forschung mittlerweile durchgesetzt (Lampert & Kroll 2009). Hierbei wird jedem Haushaltsmitglied eine Größe, im relativen Verhältnis zum Haushaltsvorstand zugeordnet, die wiederum zu einer Haushaltsäquivalenzgröße summiert wird (Eurostat 2016). Das verfügbare Äquivalenzeinkommen, das jedem Haushaltsmitglied nach diesem Konstrukt zur Verfügung steht, wird berechnet, indem das gesamte verfügbare Haushaltseinkommen durch die Haushaltsäquivalenzgröße geteilt wird (Eurostat 2016).

Weitestgehend anerkannt ist mittlerweile auch, dass die Schichtzugehörigkeit keine direkten gesundheitlichen Auswirkungen hat und im Normalfall mit der schichtspezifischen Ressourcenausstattung zusammenhängend ist, die wiederum mit benachteiligenden Lebensbedingungen und -chancen verknüpft ist (Hradil 2009). In den letzten Jahren sind deshalb vermehrt laut Hradil (2009) in den Sozialstrukturanalysen Modelle verwendet worden, die nicht nur vertikale, sondern auch horizontale Statusdeterminanten beinhalten. Auf diese wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen.