• Keine Ergebnisse gefunden

5

1.1 Stand der Forschung

Die Erforschung von Zusammenhängen zwischen Gesundheitsvariablen und sozialen Ungleichheiten, das heißt gesellschaftliche Vor- und Nachteile, die auf Grund von konsistenten, asymmetrischen Verteilungen von begrenzten Gütern und Ressourcen bestehen, hat bereits eine lange Tradition (Hradil 2009). Steinkamp (1993) beschreibt, dass sich die Verknüpfungen von sozialer Ungleichheit mit Krankheiten bzw. der Lebenserwartung bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, wobei die Ursachen hierfür bis heute umstritten sind. Demgegenüber ist die Erforschung sogenannter gesundheitlicher Ungleichheiten im höheren Lebensalter auf Grund diverser Umstände, auf die im Kapitel 3.3 näher eingegangen wird, noch nicht derart umfassend analysiert worden wie im mittleren Erwachsenenalter (vgl. z. B. Lampert et al. 2016). Die alterssoziologische Analyse von Ungleichheiten im höheren Lebensalter lässt sich nach von dem Knesebeck und Schäfer (2009, S. 242) grundsätzlich in zwei Ebenen betrachten: Durch die Ungleichheit des Alters und Ungleichheit im Alter. Die erste Perspektive nimmt Bezug auf den Aspekt der Altersschichtung, der erkennen lässt, dass der Status älterer Menschen interkulturell und gesellschaftsbedingt variabel ist, was u. a. zu einer stärkeren Heterogenität des Verlaufs des Alterns führt (von dem Knesebeck & Schäfer 2009).

Die Forschungsanstrengungen im Bereich Ungleichheit im Alter beziehen sich auf diese Erkenntnis und analysieren die Ungleichverteilungen statusrelevanter Indikatoren und sozialer Merkmale im höheren Lebensalter (von dem Knesebeck & Vonneilich 2009). Bisher sind die in sozialepidemiologischen Forschungsanstrengungen geführten Diskussionen über geeignete Indikatoren zur Darstellung der gesundheitlichen Ungleichheit eher als ausbaufähig einzustufen. Zum einen ist dies begründet durch die mangelnde Theoriefundierung in diesem Feld. Zum anderen werden bisherige Erkenntnisse über „gelingende“ Dimensionen des Alterns, die auch als Basis für soziale Differenzierungen einsetzbar wären, zu wenig berücksichtigt.

In der höheren Lebensphase wird dennoch immer mehr erkannt, dass diese Phase durch deutliche interindividuelle und soziale Ungleichheiten geprägt ist (von dem Knesebeck & Vonneilich 2009).

In Bezug auf die sozial bedingten gesundheitlichen Unterschiede im höheren Lebensalter ist bisher kaum feststellbar, u. a. auf Grund der nicht lückenlosen nationalen Datengrundlage von Menschen im höheren Lebensalter, inwieweit gesundheitliche Unterschiede im weiteren Lebensverlauf zu- oder abnehmen bzw. sich persistieren (Lampert et al. 2016). Das höhere Lebensalter wurde in Bezug auf die Untersuchung gesundheitlicher Ungleichheiten bisher weitestgehend unberücksichtigt bzw.

wurde diese Lebensphase nicht miteinbezogen in Untersuchungen (vgl. z. B. Lampert 2016).

Soziale Differenzierungen in der Sozialepidemiologie werden auch im höheren Lebensalter v. a. durch die vertikalen Schichtindikatoren vorgenommen (siehe z. B. den „Deutschen Alterssurvey“ (DEAS)) (vgl. Mahne et al. 2017), den „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“ (SHARE)

1.1 Stand der Forschung

6 (vgl. Börsch-Supan et al. 2015) oder die „Gesundheitsberichterstattung des Bundes zur gesundheitlichen Ungleichheit im höheren Lebensalter“ (vgl. Lampert et al. 2016). Diese Erhebungen basieren damit zumeist lediglich auf quantitativen Größen, wie dem Einkommen, oder Verhaltensabfragen, wie der Anzahl der sozialen Kontakte oder die Abfrage des konkreten Gesundheitsverhaltens (siehe z. B. im Deutschen Alterssurvey (Engstler et al. 2015)). Bisher zeigte sich, dass neben dem gesundheitsrelevanten Verhalten im Erwerbsleben auch der Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren, wie die Häufigkeit und Qualität sozialer Kontakte, nur einen geringfügigen Anteil der gesundheitlichen Ungleichheit im höheren Lebensalter erklären kann (von dem Knesebeck & Vonneilich 2009). Es bleibt deshalb noch zu überprüfen, welche Zusammenhänge mit weiteren psychosozialen Faktoren bestehen. Im Allgemeinen ist bislang wenig über Art und Weise der Zusammenhänge der gesundheitlichen Ungleichheiten im höheren Lebensalter bekannt (siehe z. B. Lampert et al. 2017; von dem Knesebeck & Schäfer 2009). Ebenso wie die Frage, welchen Erklärungsbeitrag die vorwiegend für das mittlere Erwachsenenalter verwendeten Faktoren, wie materielle Lebensbedingungen, gesundheitliche Versorgung, Gesundheitsverhalten und psychosoziale Faktoren, auch im höheren Lebensalter haben (von dem Knesebeck & Schäfer 2009). Das heißt, es besteht nach wie vor ein Forschungsdesiderat bezüglich der Frage nach dem Beitrag bzw. der Sinnhaftigkeit von der Verwendung vertikaler Schichtindikatoren zur sozialen Differenzierung aus der Phase des Erwerbslebens für das höhere Lebensalter (von dem Knesebeck & Vonneilich 2009). Lampert und Kroll (2009) plädieren für eine generelle Erweiterung der schichtungssoziologischen Konzepte, wie sie in Lebenslagen- oder Lebensstilmodellen stattfindet, für die gesundheitliche Ungleichheitsforschung, da bspw. für ältere Personen Belastungen und Ressourcen, die mit der Erwerbsarbeit in direkter Verbindung stehen, in der Rentenphase an Bedeutung verlieren. Zudem erleben Ältere in dieser Lebensphase häufig weitere lebenssituationsverändernde Ereignisse, die sich nicht mit den vertikalen Statusdimensionen abbilden lassen (Lampert & Kroll 2009). Die Wahrnehmung von positiv verfügbaren Freiheiten könnte, trotz geringerer Ressourcenausstattung und funktioneller-physischer Einschränkungen im Alter, eine bedeutsamere Rolle für subjektive gesundheits- und lebensqualitätsbezogene Aspekte innehaben, anstatt soziale Aspekte bzw. weitere konventionelle Sozialindikatoren (vgl. auch Jopp et al. 2013). Bislang ist auch unzureichend untersucht worden, welche Gestaltungsmöglichkeiten in Form von Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten insbesondere für ältere Personen zur Förderung ihres Wohlergehens verfügbar sind. Eine Verknüpfung gerontologisch theoretischer Grundlagen und sozialepidemiologischer Untersuchungen ist damit erst wenig vorangebracht worden, obwohl in der gerontologischen Disziplin das „gelingende“ Altern bereits hinlänglich erforscht worden ist.

1.1 Stand der Forschung

7 Kruse und Schmitt (2016) formulieren den Erhalt der Selbstständigkeit und Autonomie, Teilhabe und Integrität als zentrale Zielgößen der gesundheits- und sozialpolitischen Versorgungsstrukturen, bisher mangelt es aber an entsprechender Berücksichtigung dieser Merkmale in der nationalen gesundheitlichen Ungleichheitsforschung. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bezeichnet in seinem Sondergutachten den CA als geeignetes Konzept sowohl für die Ableitung von Interventionsbedarfen als auch zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und Gesundheitschancen, der „[…] die multifaktorielle Ätiologie sozialer und damit auch gesundheitlicher Benachteiligung sowie auch die verschiedenen Politikfelder, die zur Verminderung dieser Ungleichheit einen Beitrag leisten können, integrieren [könnte]“ (SVR 2009, S. 46). Als unbestrittener Umstand gilt bereits, dass selbstbestimmte und soziale Teilhabe für die Verwirklichung und menschenwürdiges Leben unerlässlich ist, wobei zugleich älteren Menschen häufig nur ein eingeschränkter Fokus der Möglichkeiten eingeräumt wird (Alisch & Kümpers 2015). Alisch und Kümpers (2015, S. 5) beschreiben diese beschränkte Perspektive wie folgt: „… [Der] Fokus [liegt] auf Dabeisein, Teilnehmen-können…; Mitgestaltung und Mitentscheidung werden selten thematisiert, was einem emanzipatorischen Alternsbild kaum entspricht.“

Die Frage nach den Gesundheitschancen von sozial niedrig gestellteren Personen ist unabhängig davon, welche Hypothese zutreffend ist, aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive höchst interessant. Die bisherigen Kausalitätsannahmen sind ohne weitere Ursachenforschung für die Ableitung von Präventionskonzepten nicht besonders nützlich. Hradil (2009, S. 41) beschreibt die Problematik der unzureichenden Analyse wie folgt: „… die zahlreichen Befunde zur schichtspezifischen Morbidität und Mortalität [sagen] über die wirklichen Verursachungsprozesse innerhalb der weit häufigeren Wirkungsrichtung ‚niedrige Schichtzugehörigkeit macht krank‘ fast nichts [aus]. Fest steht zunächst nur, dass die Schichtzugehörigkeit als solche kaum je die direkte Ursache von Erkrankung und frühem Tod sein kann. Kaum jemand erkrankt, weil er nur einen Hauptschulabschluss vorzuweisen hat...“. Für die Ableitung von Public Health Strategien, z. B. für die Gestaltung gesundheitsförderlicher und altersgerechter Lebensumwelten, ist diese Erfassung sozialer Ungleichheiten somit zu abstrakt und lebensfern. Die Ableitung von Maßnahmen aus schichtspezifischen Ungleichheitsindikatoren ist für sozialpolitische Akteure kaum möglich. Eine Angleichung der Einkommensverhältnisse ist ebenso wie die Angleichung der Bildungsabschlüsse für alle Bürger/-innen ein sehr fragliches Ziel für sozialstrukturelle Maßnahmen zur gerechteren Verteilung von Gesundheitschancen (Hradil 2009). Somit fehlt es auch weitestgehend im nationalen Kontext an sozialepidemiologischer Begleitforschung für die vorhandenen Gesundheitsziele und gesundheits- bzw. sozialpolitischen Maßnahmen (Lampert et al. 2016). Zudem ist bisher nicht abschließend geklärt, inwiefern die Kausationshypothese auch für das höhere Lebensalter zutreffend

1.1 Stand der Forschung

8 ist. Das heißt, ob die Zugehörigkeit zu einer unteren Schicht zu einer größeren bzw. verfrühten Morbiditäts- und Mortalitätswahrscheinlichkeit führt (hierfür sprechen bisher mehr empirische Daten) oder ob die Selektions- und Drifthypothese anzunehmen ist. Das heißt, Krankheiten sind ursächlich dafür, dass eine niedrigere Schichtzugehörigkeit besteht bzw. dadurch erreicht wird (Hradil 2009). Diese Diskussion soll jedoch nicht Bestandteil dieser Arbeit sein.

Im Kindes- und Jugendalter ist die Bedeutung und der Versuch einer Angleichung sozial bedingter Ungleichheiten in Bezug u. a. auf Gesundheit zu einer persistenten politischen Anstrengung geworden, wobei eine Gleichheit der Ergebnisse (gleicher Gesundheitszustand) abgelehnt wird und die Chancengleichheit betont wird (vgl. z. B. BMFSFJ 2013). Nichtsdestotrotz ist auch hier, u. a. vor dem Hintergrund der genannten fehlenden Kausalitätsprüfungen, nicht geklärt, „was“ bzw. welche Dimensionen überhaupt angeglichen werden sollten, um gleiche „Gesundheitschancen“ zu erreichen (vgl. auch Babitsch & Götz 2016). Auch für das höhere Lebensalter ergeben sich ähnliche Fragen, was zu ungleichen Chancen in Bezug auf selbstberichtete Gesundheitsvariablen führt. Hradil (2009) hält die Berücksichtigung von Lebenschancen für notwendig in Kausalmodellen zur Abbildung von gesundheitlichen Ungleichheiten, neben Ressourcen, Mentalitäten, Wissensbeständen, Meinungen und Verhaltensweisen. Der Fokus auf die Angleichung von Gesundheitschancen ist auch in nationale Maßnahmen und Initiativen, wie dem Kooperationsverbund „Gesundheitliche Chancengleichheit", eingeflossen. Dieser beschäftigt sich u. a. speziell mit der Gesundheitsförderung und Prävention für sozial benachteiligte Ältere, um die Chancen für ein gesünderes Älterwerden anzugleichen (Meyer 2015). Hierbei werden die Einflussfaktoren für ein gesundes Älterwerden in Anlehnung an die Komponentengliederung der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) dargestellt (Meyer 2015). Eine theoretische Aufarbeitung oder konzeptionelle Fundierung der Thematik um Lebens- bzw. Gesundheitschancen bleibt hierbei aus.

Der CA wird häufig in der politischen Diskussion und anderen Forschungsfeldern gefordert als Maxime der Bemessung von Lebensumständen (siehe z. B. Armuts- und Reichtumsbericht (BMAS 2005) oder Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2013)) sowie zur Handlungsorientierung in der Sozialen Arbeit und den Erziehungswissenschaften (vgl. z. B. Grundmann 2010; Röh 2011). Neuere Publikationen, wie der siebte Altenbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2016), verweisen ebenfalls auf das Konzept der Verwirklichungschancen als potenziell geeigneten Ansatz, um soziale Ungleichheiten in der älteren Bevölkerung abzubilden. Sozialstaatliche und -politische Daseinsvorsorge kann demnach als eine wesentliche Voraussetzung für die Ermöglichung von Verwirklichungschancen verstanden werden (BMFSFJ 2016). Im siebten Altenbericht wird deshalb für die Stärkung des Konzeptes der Verwirklichungschancen plädiert: „Eine solche Abkehr von einem reinen ‚Versorgungsverständnis‘ hin zu einer Orientierung auf Ermöglichung rückt vielmehr das

1.1 Stand der Forschung

9 Individuum und Gruppen (als eigenständige Mitglieder der Gesellschaft) in den Mittelpunkt, berücksichtigt (individuelle und räumliche) Unterschiede und ermöglicht und fordert differenzierte Strategien und Förderungen“ (BMFSFJ 2016, S. 35). Im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (BMAS 2005) wurde sich erstmalig auf das Konzept der Verwirklichungschancen bezogen, wobei diese konzeptionelle Grundlage auch im aktuellen 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verwendet wird (BMAS 2017). Der 1. Armuts- und Reichtumsbericht bezog sich noch lediglich auf den Lebenslagenansatz (BMAS 2001). Da sich das Konzept der Verwirklichungschancen international durchsetzen konnte, wurde dieser als eine Ergänzung bzw.

vielversprechende Weiterentwicklung des Lebenslagenansatzes gesehen, um Exklusions- und Inklusionsdiskussionen breiter erfassen zu können. Armut und Reichtum wurden dabei wie folgt definiert: „Armut ist … gleichbedeutend mit einem Mangel an Verwirklichungschancen, Reichtum mit einem sehr hohen Maß an Verwirklichungschancen, deren Grenzen nur punktuell oder gar nicht erreicht werden“ (BMAS 2005, S. XVI).4 Die Argumentationslinie des Berichtes findet v. a. auf der Makroebene statt und plädiert für eine sozial gerechte Politik auf Bundesebene und die Schaffung gleich verteilter sozialer und ökonomischer Teilhabe- und Verwirklichungschancen für alle Gesellschaftsmitglieder. Trotz der vielseitigen Fürsprecher für das Konzept der Verwirklichungschancen ist eine empirische Untersuchung der Einsatzmöglichkeiten oder der Anwendbarkeit in gesundheitswissenschaftlichen und sozialepidemiologischen Kontexten erst wenig erforscht. Einige Ausnahmen stellen die theoretischen Arbeiten von Abel und Schori (2009), Bittlingmayer und Ziegler (2012) sowie Venkatapuram (2011) dar. Erste aktuelle nationale Anstrengungen, die Einbeziehung von Verwirklichungschancen bei der Betrachtung von gesundheitlichen Ungleichheiten in verschiedenen Lebensphasen vorzunehmen, liegen durch die Gesundheitsberichterstattung des Bundes vor (Lampert et al. 2017). Diese beziehen sich allerdings lediglich auf das Set an Kernindikatoren aus der Armuts- und Reichtumsberichterstattung, die sich auf die Gesundheit beziehen5 (Lampert et al. 2017). Diese Indikatoren heben v. a. jene Aspekte hervor, auf die der Staat und die Gesellschaft einen Einfluss ausüben können, um somit die Auswirkungen staatlichen Handelns bestimmen zu können und gleichzeitig den gesellschaftlichen Reformbedarf zur Schaffung einer sozialen Gerechtigkeit ableiten zu können (BMAS 2005). Diese Operationalisierung vernachlässigt allerdings den von Sen (2007) als Kernkriterium genannten Aspekt, diejenigen Aspekte an freiheitlichen Möglichkeiten zu identifizieren, die das Individuum mit

4 Im 5. Armuts- und Reichtumsbericht werden andere Begrifflichkeiten gewählt. Hierzu heißt die Definition von Armut: „Armut wird dabei im Wesentlichen als ein Mangel an Mitteln und Möglichkeiten verstanden, das Leben so zu leben und zu gestalten, wie es in unserer Gesellschaft üblicherweise auf Basis des historisch erreichten Wohlstandsniveaus möglich ist…“ (BMAS 2017).

5 Einbezogene Kernindikatoren in den RKI-Bericht „Gesundheitliche Ungleichheit in verschiedenen Lebensphasen“ von Lampert et al. (2017) waren die „Lebenserwartung bei Geburt“, „Subjektive Gesundheit“

und „Behinderung“.

1.1 Stand der Forschung

10 guten Gründen wertschätzt. Das heißt, die grundlegende Anforderung von Sen, eigene Präferenzen, Wünsche und Erwartungen äußern zu können und ihnen ein Gewicht geben zu können, bleibt hierbei außen vor (vgl. z. B. Bonvin 2009).

Für die Darstellung und Operationalisierung der Lebenschancen im höheren Lebensalter könnte der CA jedoch einen theoretisch-konzeptionellen Beitrag leisten, der durch die durchgeführte pilothafte empirische Studie in dieser Arbeit geprüft wird. Ebenfalls könnte der CA auch Hinweise aus der Perspektive der salutogenetischen Betrachtung bringen, inwiefern Verwirklichungschancen eine Form von Widerstandsressourcen oder Schutzfaktoren darstellen, die trotz gesundheitlicher Belastung oder Beeinträchtigung zur Gesunderhaltung beitragen. Die Verknüpfung bzw. Ergänzung der gesundheitspsychologisch relevanten Ressourcen des Kohärenzgefühls in Form von Fähigkeiten, Erwartungen und Überzeugungen mit dem ressourcenorientierten CA könnte ein konstruktiver Beitrag für die theoretische Grundlagenarbeit in der salutogenetisch ausgerichteten Gesundheitsforschung sein. Die Kombination der theoretischen Konstrukte könnte förderlich sein,

um weitere psychosoziale Determinanten zu identifizieren und in die gesundheitsressourcenorientierte Modellentwicklung mit aufzunehmen. Anders als in der

pathogenen Denkweise werden hierbei nicht krankmachende Einflüsse alleinig fokussiert, sondern nach dem salutogenetischen Paradigma wird ein Fokus zusätzlich auf die Stärkung von Ressourcen gelegt, welche den Organismus gegen belastende Einflüsse resistenter macht (Bengel, Strittmatter & Willmann 2001).

Empirische Operationalisierungen des CAs mit Primärdaten erfolgten bereits durch die Arbeiten zum ICECAP-O (siehe z. B. Coast et al. 2008a), ICECAP-A (siehe z. B. Al-Janabi, Flynn & Coast 2012) und

ICECAP-SCM (Sutton & Coast 2014) aus dem Vereinigten Königreich, die alle auf der theoretisch-konzeptionellen Basis von Sen entwickelt worden sind. Diese Assessmentinstrumente

bemessen die individuelle generische Lebensqualität auf Basis von Selbstauskunftsfragebögen und werden v. a. für gesundheitsökonomische Evaluationen eingesetzt. Für die generische Lebensqualitätsbemessung im höheren Lebensalter wird der ICECAP-O als gesundheitsökonomisches Assessmentinstrument verwendet (vgl. auch Grewal et al. 2006, Coast et al. 2008a, b).

Grewal et. al (2006) führten zur Operationalisierung eine Studie mit 40 qualitativen Interviews durch, um zu untersuchen, ob der CA ein geeigneter Ansatz zur Bestimmung von Lebensqualität im Alter sein könnte. Gesundheit sei demnach als eine Voraussetzung zu verstehen, durch die eine Erreichung von Fähigkeiten erst möglich sei (Grewal et al. 2006). Ein Ergebnis dieser Studie war, dass es für ältere Menschen wichtiger gewesen sei, die Fähigkeit resp. Möglichkeit zu haben bestimmte Dinge erreichen zu können, anstatt diese wirklich erreicht haben zu müssen (Grewal et al. 2006). Die allgemeine Betrachtung des CAs zu gesundheitsökonomischen Evaluationszwecken wurde auch z. B.

1.1 Stand der Forschung

11 von Cookson (2005) diskutiert, der den CA und das QALY Konzept gegenüberstellt und einen Mehrwert in der Verknüpfung dieser beiden Konzepte sieht. Coast, Smith und Lorgelly (2008) argumentieren in ihrer theoretischen Arbeit für den Einsatz des CAs in der Gesundheitsökonomie, da dieser einen breiteren und v. a. gerechtigkeitsorientierten Evaluationsrahmen für die Bewertung von Interventionen habe (mehr hierzu in Kapitel 5.3).

Eine interdisziplinäre Verknüpfung der Versorgungsforschung mit der gerontologischen Fachdisziplin in Verbindung mit dem lebensqualitätsorientierten CA stellt potenziell eine konzeptionelle Bereicherung für die Sozialepidemiologie dar zur Erfassung und Bewertung gesundheitlicher Ungleichheiten. Hierbei sollen in dieser Arbeit die verschiedenen konzeptionellen Grundlagen der Sozialepidemiologie, der Gerontologie, aber auch der gesamten Gesundheitswissenschaften genutzt werden, die sich auf das höhere Lebensalter beziehen und mit dem CA verglichen bzw. angereichert und erweitert werden könnten. Hieraus könnte ein Indikatoren-Set resultieren, das sowohl für gesundheitswissenschaftliche als auch für gerontologisch ausgerichtete Lebensqualitätsforschungsziele eingesetzt werden kann und damit auch eine Zusammenführung der angeführten vielfältigen Forderungen an eine moderne Ausrichtung der Gesundheitsförderung voranbringt. Die zuvor beschriebenen Fragen sind Gegenstand dieser Arbeit, die sich mit der gesundheitlichen Ungleichheit im höheren Lebensalter und der konzeptionellen Aufarbeitung des CAs in Form einer ersten Operationalisierung anhand von nationalen Primärdaten für das höhere Lebensalter sowie einer quantitativen Pilotstudie befasst.