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Kritik an den bisherigen Konzepten zur Bestimmung gesundheitlicher Ungleichheit im höheren Lebensalter

3 Soziale Ungleichheit und gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter

3.4 Kritik an den bisherigen Konzepten zur Bestimmung gesundheitlicher Ungleichheit im höheren Lebensalter

Die zuvor beschriebenen vorliegenden Forschungsergebnisse zur gesundheitlichen Ungleichheit basieren v. a. auf der Grundlage von sozialen Differenzierungen mit vertikalen Schichtindikatoren, welche die soziale Stellung in der Gesellschaft repräsentieren sollen. Diese zu Zwecken der

„Forschungsvereinfachung“, wie Hradil (2009) es beschreibt, vorgenommene soziale Differenzierung ist aus der Perspektive von Sozialstrukturanalysen als zu einfach zu bewerten. Durch dessen Einfachheit sei auch die Akzeptanz des Schichtmodells weit verbreitet, was Hradil (2009) aber kritisch in Frage stellt. Demnach sei der Indikator Berufsstellung nur etwa auf die Hälfte der Bevölkerung übertragbar, nicht aber auf z. B. verrentete Personen (Hradil 2009). Die Fokussierung auf schichtungssoziologische Analysen sei nach Lampert und Kroll (2009) dann gerechtfertigt, wenn entsprechende Lebenschancen lediglich bzw. sehr eng mit der Erwerbsarbeit verknüpft sind, irreführend könnte dies hingegen sein, wenn die Lebenschancen unabhängig von der Arbeitswelt sind.

Das Einkommen basiere sehr oft auf unvollständigen und unzuverlässigen Angaben und der Bildungsgrad sei kein guter Indikator zur Bestimmung der Stellung in der Bildungshierarchie, da Ältere häufig nur über eine einfache Schulbildung verfügen, während die meisten jüngeren Personen eine weiterführende Schulbildung haben (Hradil 2009). Lebenslagenkonzepte oder weitere beschreibende Modelle bzw. Konzepte zur Erfassung der Lebensumstände werden in sozialepidemiologischen Studien eher wenig verwendet. Die Schichtindikatoren seien nach Sperlich und Geyer (2010) aber nur begrenzt in der Lage, differenzierte Belastungen oder Ressourcen bestimmen zu können.

Zur Darstellung und Abbildung von sozialen Ungleichheiten werden in sozialepidemiologischen Studien dennoch häufig die im Erwerbsleben erlangten Dimensionen, wie Bildung und berufliche Stellung, auf das höhere Lebensalter übertragen ohne eine Überprüfung dessen, ob diese Indikatoren als Ungleichheitsdimensionen für das höhere Lebensalter geeignet bzw. sinnvoll sind. Schon Anfang der 1990er Jahre stellte Kohli (1990) bspw. fest, dass sich aus geschlechter- und altersbezogener Perspektive einige Schwierigkeiten in Bezug auf die vertikalen Ungleichheitsdimensionen ergeben, da unbezahlte Arbeit hier weitestgehend unberücksichtigt bleibt. Zudem nimmt die Diversität und Heterogenität der älteren Bevölkerung zu, die sich nur noch schwer in soziale Schichten klassifizieren lässt. Alisch und Kümpers (2015) erläutern und argumentieren, dass die zunehmende Diversität im höheren Lebensalter mit folgenden Aspekten zusammenhängen könnte: Veränderungen der Lebensläufe und Rollen von Frauen, zunehmende Verrentung von Arbeitsmigrant/-innen sowie den nachgezogenen Gruppen von Migrant/-innen und Spätaussiedler/-innen, die erste Generation (sich

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89 bekennender) homosexueller Frauen und Männer sowie die erste Generation von Menschen mit Behinderung, die u. a. den Nationalsozialismus überlebt haben und nun eine bessere medizinische und psychosoziale Versorgung bekommen als die Generationen vorher. Diese Diskussion führt neben der Frage nach geeigneten Ungleichheitsindikatoren auch zu methodischen, die kritisch betrachtet wird z. B. auf Grund der ungleichen Alterskategorisierung in der Studienlage und damit nicht einer

„differentiellen Gerontologie“ entspricht (von dem Knesebeck & Schäfer 2009). Hinzu kommt die steigende Lebenserwartung von Frauen und Männern mit weiter differenzierten geriatrischen Erkrankungen (vgl. z. B. Statista 2016). Auch hier ergibt sich mit den vorhandenen Studien ein Problem in der Vergleichbarkeit der Daten, da die verwendeten gesundheitlichen Indikatoren oder auch Antwortmöglichkeiten zu stark variieren. Diese Problematik soll allerdings nicht im weiteren Verlauf dieser Arbeit behandelt werden.

Steinkamp (1993) hat, wie bereits beschrieben, auf Grund seiner Kritik an den Schichtansätzen ein hierarchisches Mehrebenenmodell beschrieben, da er die klassischen Dimensionen sozialer Ungleichheit (wie Geld, Macht, Prestige und Wissen) zum einen für unzulänglich hinsichtlich der theoretischen Fundierung hält und zum anderen die unzureichende Erfassung der Lage von Individuen und Familien in den sozialen Ungleichheitsstrukturen bemängelt. Zudem beschreibt Steinkamp (1993, S. 113) wie nachfolgend nach ihm weitere Autor/-innen (vgl. z. B.

Nussbaum 2003b), dass „Schichtkonstrukte eine geschlechtsspezifische Schlagseite aufweisen, in den die Statusmerkmale des männlichen Haushaltsvorstandes als Ungleichheitsmaß sowohl für die gesamte Familie (bei Verwendung eines Haushaltskonzepts) als auch für ihre einzelnen Mitglieder (bei Verwendung eines Individualkonzepts) herangezogen werden“. Muschik, Jaunzeme und Geyer (2015) beschreiben allerdings, dass je nach gesundheitlichem Outcome bzw. je nach methodischer Praktikabilität und Sinnhaftigkeit (z. B. bei fehlenden Informationen) eine Übertragung des sozialen Status auf den/die Ehegatten/-in prinzipiell möglich erscheint. Diese methodische Komplexitätsreduktion und deren Einfluss auf subjektive oder psychische Gesundheitsmerkmale ist jedoch bisher unzureichend untersucht worden. In der genderbezogenen Forschung wird die Zuschreibung bzw. Übertragbarkeit des sozioökonomischen Status kritisch betrachtet (siehe auch Babitsch, Götz & Zeitler 2016; Babitsch & Götz 2015). Hierbei werden relevante Aspekte wie Haushaltsarbeit, Freiheit von häuslicher Gewalt oder die Verfügbarkeit von sozialer Unterstützung resp. Netzwerken etc. exkludiert (Robeyns 2003a). Die Kritik richtet sich außerdem an die implizierten Annahmen, dass Haushaltseinkommen innerfamiliär gleich verteilt oder eingesetzt werden. Selbst bei einer adäquaten Gleichverteilung des Familieneinkommens sei nach Robeyns (2003a) nicht ausschließbar, dass dies z. B. negative Auswirkungen auf das subjektive Wohlbefinden haben könnte, wenn die Person das Geld nicht selber verdient hat.

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90 Zugleich ist auch die Indexbildung von Indikatorenwerten zu einem Schichtindex kritisiert worden.

Hauptkritikpunkt der Indexbildung ist laut Hradil (2009), dass mit einem additiven Index davon ausgegangen wird, dass die Dimensionen gleichwertig sind und in die gleiche Richtung wirken. Die empirischen Befunde liefern jedoch Hinweise, dass die einzelnen Indikatoren Beruf, Bildung und Einkommen nicht gleiche Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Die Grenzen der Schichtsetzung sowie die Festlegung der Punktwerte sind zudem, wie bereits beschrieben, willkürlich. Es ist fraglich, ob diese der gesellschaftlichen Realität entsprechen. Zugleich sind die dreidimensionalen Schichtgrenzen von Studie zu Studie unterschiedlich, so dass eine Vergleichbarkeit kaum möglich ist.

Mit dem Index sind außerdem keine Statusinkonsistenzen abbildbar, was wiederum die Kritik der Realitätsferne unterstützt. Diese Statusinkonsistenzen, exemplarisch eine hohe Bildung bei einer gleichzeitigen niedrigen beruflichen Stellung und einem geringem Einkommen, können nach Lampert und Kroll (2009) zu psychosozialen Belastungen führen, bedingt durch nicht erfüllte Erwartungen oder berufliche Gratifikationskrisen. Die Einbindung dieser Statusinkonsistenzen in die gesundheitliche Ungleichheitsforschung blieb jedoch bisher weitestgehend aus.

Zur differenzierteren Bestandsaufnahme vorhandener deprivierter Lebensumstände im höheren Lebensalter bedarf es aus der Public Health-Perspektive realitätsnäherer Dimensionen der „sozialen Umwelt“. Das heißt, die Implikation von gesundheitsförderlichen Public Health-Strategien ist mit den vorhandenen vertikalen Dimensionen sozialer Ungleichheit nur begrenzt möglich. Ergänzende Dimensionen sozialer Ungleichheit werden bereits diskutiert, wie z. B. die äußeren Lebensumweltbedingungen in Form von ökologischen, infrastrukturellen und sozialräumlich begünstigenden Faktoren (Day 2008). Die aus der Soziologie kommende Frage nach „neuen“

Ungleichheitsdimensionen ist demnach in der Sozialepidemiologie nicht vollkommen neu, jedoch mangelt es v. a. an empirischen Operationalisierungen und dementsprechenden Daten, so dass es noch keine abschließenden Erkenntnisse über soziale Merkmale gibt, die ergänzend zu Schichtmerkmalen in der Sozialepidemiologie gesehen werden könnten. O’Reilly (2002) ist bereits Anfang der 2000er Jahre der Frage nachgegangen, welche Differenzierungskriterien, neben Einkommen, Bildung und beruflicher Stellung, im höheren Lebensalter relevant und für die soziale Stellung in der Gesellschaft konstituierend sein könnten. Hierfür wurden standardisierte Mortalitätsraten von über und unter 75-Jährigen aus Nordirland mit Armuts- und Deprivationsindikatoren verglichen. Es wurden dabei einzelne materielle Deprivationsindikatoren

untersucht, wie „Besitz eines Autos“ oder „Arbeitslosenrate“ (O’Reilly 2002). Bei den über 75-Jährigen Personen zeigte sich, dass die Zusammenhänge zwischen Einkommen und Mortalität

moderat zusammenhingen sowie der Zusammenhang zwischen den Deprivationsindikatoren und Mortalitätsraten nur schwach war (O’Reilly 2002). Eine weitere empirische Möglichkeit ist die Berücksichtigung von mehrdimensionalen Indikatorensystemen, die ähnlich wie die vertikalen

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91 Dimensionen weitere v. a. materielle Ungleichheitsdimensionen darstellen, die im höheren Lebensalter eine prägende Größe sein könnten. Robert und House (1996) haben als alternative bzw.

ergänzende Indikatoren bspw. finanzielle (liquide) Mittel und Haus- bzw. Wohnbesitz untersucht, um damit zu versuchen, akkumulierte Benachteiligungen im Lebensverlauf abzubilden. Zwischen dem 45. Bis 84. Lebensjahr hatten liquide Mittel einen unabhängigen, in den Altersgruppen kontinuierlich steigenden Effekt auf die funktionale Gesundheit, wohingegen sich in jüngeren Lebensjahren Bildung und Einkommen als beste Prädiktoren zeigten (Robert & House 1996). Der Besitz von Haus- oder Wohneigentum hatte die größten signifikanten Effekte auf die funktionale Gesundheit zwischen dem 75. bis 84. Lebensjahr. Demnach ergeben sich Hinweise, dass weitere Dimensionen der sozialen Ungleichheit statt der üblichen vertikalen Schichtindikatoren als beeinflussende Größen im höheren Lebensalter sinnvoll sein könnten.

Robert und House (1996) beschreiben Einkommen an sich als eine besonders kritische Größe im höheren Lebensalter zur Bestimmung des sozialen Status. Zum einen ist dies dadurch begründet, dass ältere Personen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nur noch in der Regel einen verminderten (Renten-)Beitrag bekommen (Robert & House 1996). Zum anderen sei der Einkommensindikator alleinig nicht geeignet, um Aussagen über die finanzielle Situation und Möglichkeiten von älteren Personen zu tätigen, so dass Einkommen keine geeignete Proxy-Größe sei, um die finanziellen Ressourcen und Verfügbarkeiten hierüber zu bewerten (Robert & House 1996).

Ältere Personen mit dem gleichen Einkommen könnten entsprechend zudem vollkommen unterschiedliche Bedarfe in der Verwendung der finanziellen Mittel haben, so dass eine behinderte bzw. chronisch kranke Person ggf. mehr Mittel zum Erhalt der Selbstständigkeit ausgeben muss als eine nicht eingeschränkte Person. In der Folge hätte die nicht eingeschränkte Person deutlich mehr finanzielle Mittel zur „freien“ Verfügung, was sich unter dem Aspekt der Einkommensgleichheit der beiden beschriebenen Personen allerdings nicht im Sozialstatus unterscheiden lässt.

Ein Faktor, der beitragend ist für die gesundheitlichen Unterschiede im höheren Lebensalter, ist das gesundheitliche (Risiko-)Verhalten aus der Erwerbslebenszeit, was aber nur zu einem kleinen Teil zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheiten beiträgt (von dem Knesebeck & Vonneilich 2009).

Zusätzlich werden auch psychosoziale Faktoren diskutiert, z. B. in Form von Qualität und Häufigkeit menschlicher Kontakte, allerdings konnten diese nur geringfügig die ungleichheitsbedingten Gesundheitsunterschiede im Alter erklären (von dem Knesebeck & Schäfer 2009;

von dem Knesebeck & Vonneilich 2009). Nichtsdestotrotz ist bekannt, dass es direkte Effekte von sozialen Beziehungen auf gesundheitliche Merkmale gibt sowie dessen abschwächende Wirkung, z. B. in Stresssituationen und bei kritischen Lebensereignissen (von dem Knesebeck & Schäfer 2009).

Dennoch sei noch nach von dem Knesebeck und Schäfer (2009) die Frage ungeklärt, inwieweit

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92 Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit, sozialen Beziehungen und Gesundheitsmerkmalen im höheren Lebensalter bestehen. Weitere psychosoziale Erklärungsfaktoren für die gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter sind noch nicht allumfassend überprüft worden.

Als ein geeigneter Ansatz zur Identifizierung für psychosoziale Ressourcen wird der Capability Approach (CA) im Folgenden erläutert und empirisch überprüft. Derartige Rahmenkonzepte, wie der CA, könnten weitere empirische Erhebungsgrundlagen darstellen und zur Beschreibung der individuellen Lebenssituationen im höheren Lebensalter ergänzende Hinweise liefern. Die Analyse daraus resultierender Indikatoren könnte zur „altersfreundlichen“ Gestaltung von gesundheitsförderlichen Wohn- bzw. Lebensverhältnissen dienen.