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Anknüpfungspunkte des Capability Approachs mit einem integrativen Verständnis von Gesundheit, gesundheitsbezogener Lebensqualität

5 Verbreitung und Anknüpfungspunkte des Capability Approachs im Public Health- und gerontologischen Bereich Health- und gerontologischen Bereich

5.1 Anknüpfungspunkte des Capability Approachs mit einem integrativen Verständnis von Gesundheit, gesundheitsbezogener Lebensqualität

und gelingendem Leben

Erkannt wurden bereits die Verbindungslinien zwischen dem Modell der Salutogenese und dessen Ausrichtung auf positive Entwicklungs- und Widerstandsressourcen für ein gesundes, selbstbestimmtes Leben mit der Idee des CA-Konzeptes und dessen intersektoraler politischer Einbindungsmöglichkeit (Keupp 2010). In vielerlei Hinsicht ist der CA bzw. die Berücksichtigung von Verwirklichungschancen bereits implizit innerhalb der begrifflichen Grundlagen und dem Konzept der Gesundheitsförderung zu finden, wie der Forderung nach einer „[…] Stärkung der gesundheitlichen Entfaltungsmöglichkeiten“ (Hurrelmann, Klotz & Haisch 2010, S. 13). Dem Themenfeld Gesundheitsförderung, als ein Eckpfeiler in der Public Health Forschung58, ist historisch betrachtet eine sehr ähnliche normative Grundidee wie der CA inhärent. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist das umfassende Verständnis von Gesundheitsförderung, das in der Ottawa-Charta (1986, S. 1) definiert wurde: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel.“ Evaluative Kriterien zur Bewertung des Outcomes von Gesundheitsförderungsmaßnahmen beziehen sich neben veränderten Verhaltensweisen v. a. auf gesundheitsbezogene Lebensqualitätskonstrukte. Die Zielsetzung von menschlicher Freiheit und Wohlergehen bei einer gleichzeitigen Interaktion bzw. Gestaltungsmöglichkeit, und damit ein Einbezug der Umwelt, ist jedoch bisher in vielen Konzepten der gesundheitlichen Lebensqualität nicht angemessen berücksichtigt worden, wohingegen v. a. der inhaltlichen Identifikation von konkreten Dimensionen mehr Beachtung geschenkt wurde (Gutwald 2016). Die Offenlegung des konzeptuellen Verständnisses bzw. eine theoretische oder gar philosophische Auseinandersetzung und Vorklärung der Frage, was gelingendes Leben oder (gesundheitsbezogene) Lebensqualität inkl.

der einzubeziehenden Dimensionen in Form des CAs theoretisch ausmachen könnte, ist in der gesundheitswissenschaftlichen Forschungsausrichtung dagegen kaum erforscht. Nach dem CA ist der Erfolg einer Gesellschaft und des einzelnen Lebens anhand dessen zu bewerten, wie groß die genossene substantielle Freiheit ist (Sen 2007). Diese Informationsbasis ist wie der

58 Die Inhalte und Forschungsfelder der Public Health Forschung sind auch aus der Stellungnahme der DGPH (2012) zu entnehmen.

5.1 Anknüpfungspunkte des Capability Approachs mit einem integrativen Verständnis von Gesundheit, gesundheitsbezogener Lebensqualität und „gelingendem“ Leben

124 Gesundheitsbegriff normativ geprägt. Möglichkeiten und Fähigkeiten in Form von positiven Freiheiten werden als positiv bewertet, wenn sie das Individuum mit guten Gründen wertschätzt. Für gesundheits- und sozialpolitische sowie gesundheitswissenschaftliche Bereiche würde dies heißen, dass die Möglichkeit zur Gesunderhaltung in bestimmten Bereichen des menschlichen Lebens ein angemessenes gesellschaftliches Ziel darstellen könnte, wohingegen es diktatorische Ausmaße hätte, Menschen zu bestimmten Aktivitäten zu zwingen (Nussbaum 2010). Die Frage nach politischen Maßnahmen zum Schutz und Förderung der tatsächlichen Gesundheit (wie das Verbot von Alkohol oder gefährliche Sportarten etc.) ist gesellschaftsethisch diskutabel, deshalb wird bspw. von der CA Vertreterin Nussbaum eine liberale Regelung bevorzugt und politische Maßnahmen abgelehnt (Nussbaum 2010). Die Erweiterung von gesundheitsförderlichen Handlungsspielräumen eröffnet auch den Konflikt zwischen Handlungsfreiheit per se und damit ggf. die Inkaufnahme gesundheitsabträglichen Verhaltens, wie die Entscheidung zu rauchen oder sich nicht mehr zu Fuß zu bewegen, sowie dem normativ gewünschten gesundheitsförderlichen Verhaltens (Abel & Schori 2009). Fraglich bleibt, wie mit derartigen unerwünschten Verhaltensweisen bei einer Gesundheitsförderungsstrategie, die Verwirklichungschancen erweiternd ist, umgegangen werden soll.

Gesundheit ist in der gesellschaftlichen Normvorstellung durchweg ein begünstigender Aspekt, der demnach als Form von „Well-Being Freedom“ im Sinne des CAs zu erfassen ist. Innerhalb des CAs ist Gesundheit demgegenüber aber auch als erreichtes Wohlergehen („Well-Being Achievement“) begründbar. Damit nimmt Gesundheit sowohl eine Befähigungs- als auch Funktionsdimension innerhalb des CAs ein. Zugleich beinhaltet Gesundheit auch die Rolle eines Umwandlungsfaktors.

Individuelle Eigenschaften, wie z. B. vorhandene Behinderungen, können somit zum einen die Erreichung von Verwirklichungschancen determinieren, aber auch zum anderen selbst eine Fähigkeit sein, wie z. B. frei von vermeidbaren Krankheiten zu sein. Der erreichte Gesundheitszustand als Funktion kann ebenso ein Aspekt der Lebensqualität sein. Gesundheit ist demnach multidimensional mehrfach innerhalb des CAs zuordenbar und umfasst, wie in der Definition der WHO, ein breit angelegtes theoretisches Verständnis. Subjektive Zustände, wie Wohlbefinden, werden nach der Definition der WHO mit diesem umfassenden Gesundheitsbegriff miterfasst, so dass sich Wohlbefinden und Gesundheit gegenseitig zu bedingen scheinen und demnach auch miteinander zu verknüpfen sind.59 Das Interesse der WHO an einem breit angelegten Verständnis von Gesundheit zeigt sich in der bekannten Gesundheitsbegriffsdefinition: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von

59 In der Ottawa-Charta (1986, S. 1) heißt es hierzu: „Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse

befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw.

verändern können.“

5.1 Anknüpfungspunkte des Capability Approachs mit einem integrativen Verständnis von Gesundheit, gesundheitsbezogener Lebensqualität und „gelingendem“ Leben

125 Krankheit oder Gebrechen“ (Ottawa-Charta 1986, S. 1). Demnach ist Wohlergehen als Wirkungsziel auch nach der WHO ein angestrebter Aspekt der Gesundheitsförderung. Das Verständnis von Sens Konzept von Wohlergehen sowie des Wohlbefindens von der WHO in Form von „körperlichen, seelischen und sozialen“ (Ottawa-Charta 1986, S. 1) Kategorien scheint damit weitgehend bedeutungsgleich zu sein (vgl. auch Sting 2011). Das Rahmengerüst des CAs könnte deshalb für die bisher wenig theoretisch begründete Definition bzw. Offenlegung der evaluativen Perspektive und der einzelnen konzeptuellen Bestandteile von Gesundheit aus der Ottawa-Charta (1986) eine Legitimationsbasis bieten, dessen weitere systematische Auseinandersetzung sicherlich fruchtbare Ergebnisse erzielen könnte, die in dieser Arbeit jedoch nicht weiter verfolgt werden.

Die Operationalisierung von Lebensqualität nach den Grundannahmen des CAs kann ebenfalls als erweitertes, alternatives oder modifiziertes Messinstrument betrachtet werden. Vorhandene Konzeptionen zur Bestimmung von Lebensqualität stellen damit keinen Widerspruch zu der Operationalisierung nach dem CA dar. Wie in Kapitel 4.5 beschrieben, ist das Evaluationsinteresse dabei maßgeblich für Gerechtigkeitsurteile als relevant zu beurteilen. Dies können Zielgrößen wie Wohlfahrtsökonomie, Entwicklungshilfe oder eben Lebensqualitätskonstrukte sein. Vorhandene Ansätze, die sich z. B. auf psychologische Faktoren beziehen wie den internen Einfluss von Selbstakzeptanz, Umweltbewältigung oder Selbstständigkeit und deren Einfluss auf das Wohlergehen bzw. die Lebensqualität oder auch die Evaluation des subjektiven Wohlbefindens, welche den Fokus v. a. auf die Identifizierung von Determinanten wie bspw. emotionales und kognitives Wohlbefinden

legen, sind nicht zwingend aus dem Konstrukt des CAs auszuschließen (vgl. Al-Janabi, Flynn & Coast 2012). Vielmehr können derartige Erkenntnisse über die

Einflussfaktoren auf das Wohlergehen sinnvolle Ergänzungen im Rahmenmodell darstellen i. S. v.

Umwandlungsfaktoren oder auch bei der präferenzbasierten Auswahl von Funktionen aus dem Capability-Set.

5.2 Erfassung und Bewertung sozialer Ungleichheiten zur Bestimmung von gesundheitlichen Ungleichheiten mit dem Capability Approach

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5.2 Erfassung und Bewertung sozialer Ungleichheiten zur Bestimmung von