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Wittgensteins Philosophie der Mathematik als Teil einer Idealismuskritik 69

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 75-80)

2.2 Positionierung Wittgensteins

2.2.1 Wittgensteins Philosophie der Mathematik als Teil einer Idealismuskritik 69

So findet seine Auseinandersetzung mit Idealismus auf einer ganz eigentümlichen Schiene statt.

Wittgenstein selbst versteht unter ‚Idealisten‘ eigentlich Skeptiker (Wittgenstein 1999b, 282), und mit dem Idealismus, den Marx mit dem Deutschen Idealismus vor Augen hatte, hat er sich inhaltlich nicht befasst.10 Versteht man unter Idealismus allerdings die Auffassung, die

Wirk-9Eine wichtige Beobachtung Wittgensteins ist, dass der Sinn eines neu gebildeten Satzes nicht durch den bekannten Sinn seiner Elemente bestimmt ist, auch wenn in vielen Fällen eine bestimmte Verwendung des neuen Satzes naheliegt.

10Es ist jedoch offensichtlich, dass die meisten Positionen Wittgensteins den philosophischen Ideen des Deutschen Idealismus diametral entgegengesetzt sind, sei es die Idee einer philosophischen Fundierungswissenschaft, die

lichkeit sei eigentlich oder ihrem Wesen nach ideell strukturiert, dann ist Wittgensteins Kritik an der zu einem früheren Zeitpunkt von ihm selbst imTractatusvertretenen Auffassung als Idea-lismuskritik zu deuten. In diesen Gedankenkreis gehört auch seine Kritik der Idee, Mathematik hätte überhistorische Wahrheit, also seine Kritik einer idealistischen Missdeutung unzeitlicher Sätze. Dabei scheint es sich zunächst um ein sehr spezielles Problem zu handeln. Die daran erarbeitete Kritik lässt sich aber durchaus mit der Idealismuskritik verbinden, wie Marx sie in der Einleitung in dieGrundrisseanschneidet, und als weiter ausgreifende, praxisphilosophische Darstellung dieser Position auffassen.

Was ist die idealistische Deutung der Mathematik? Sie versteht mathematische Sätze als Aus-sagen über „mathematische Gegenstände [. . . ] und ihre seltsamen Eigenschaften“ (Wittgenstein 1999a, 262), über einen a priori und überzeitlich feststehenden ideellen ‚Raum‘ mathematischer Wahrheit. Hier werden die mathematischen Tätigkeiten in Abhängigkeit von der unabhängigen Existenz dieses Raums bzw. seiner Objekte gedacht11. Wittgenstein versucht nun vor allem an-hand einer Untersuchung über mathematische Reihen zu zeigen, wie Mathematik in einer Praxis des Regelfolgens konstituiert wird, die ganz und gar nicht überzeitlich ist, und welche Um-stände dieser Praxis zur Annahme einer ideellen Welt verleiten. Die idealistische Auffassung identifiziert er unter anderem in Aussagen über den zwingenden Charakter der Mathematik und deutet nun den Gehalt dieser Aussagen: „Wir sagen: ‚Wenn ihr beim Multiplizieren wirklich der Regel folgt, MUSS das Gleiche herauskommen.‘ Nun, wenn dies nur die etwas hysterische Aus-drucksweise der Universitätssprache ist, so braucht sie uns nicht sehr zu interessieren. Es ist aber der Ausdruck einer Einstellung zu der Technik des Rechnens, die sich überall in unserem Le-ben zeigt. Die Emphase des Muss entspricht nur der Unerbittlichkeit dieser Einstellung sowohl zur Technik des Rechnens, als auch zu unzähligen verwandten Techniken.“ (Wittgenstein 1999a, 430) Das Zwingende, das von einer ideellen Wahrheit der Mathematik herzurühren und allen, die über sie Aussagen treffen, als Maßstab zu dienen scheint, hat also einen normativen Unterbau.

Und der besteht einerseits in den mathematischen Regeln selbst, also den Regeln, nach denen beispielsweise Zahlen oder Folgen gebildet werden, und andererseits im (historisch-kulturell bestimmten) Begriff der Mathematik, nach dem nur ein bestimmter Umgang mit mathemati-schen Regeln als Mathematik akzeptiert wird, womit selbstverständlich nicht im Vorhinein für alle neuen Fälle ausgemacht ist, was noch zur Mathematik gezählt werden soll und was nicht.

Es findet sich, als anthropologische Naturtatsache, dass die meisten Menschen in der Lage sind, mathematische Regeln zu erlernen, und dass Gesellschaften diese Art von Regelspielen kultivie-ren, und zwar meistenteils im Kontext lebenspraktischer Berechnungen. Bei der Reproduktion

zentrale Stellung des Selbstbewusstseins oder die Fixierung auf Kategorien und sogar deren Deduktion – nichts läge Wittgenstein ferner.

11Selbstverständlich fällt auch Kants Auffassung unter den Idealismus. Apriorität und Objektivität der Mathematik bei Kant unterliegen letztlich ebenso Wittgensteins Kritik.

dieser Kulturtechnik tritt es auf, dass einigen Menschen mathematische Regeln gar nicht beige-bracht werden können, und auch, dass solchen Regeln immer wieder mal auf verschiedene Weise

‚gefolgt‘ wird. Es ist Teil des Umgangs mit mathematischen Regeln, diese Umstände gleichsam aus der mathematischen Wahrheit auszugliedern. Es ist mathematische Norm, dass Rechnen kein Experiment ist, dass bei zwei Versuchen nicht Verschiedenes herauskommen ‚darf‘. Und wenn es doch passiert, so ‚muss‘ ein Fehler gemacht worden sein. Dass diese Norm gebildet werden kann, setzt voraus, dass in den meisten Fällen tatsächlich Fehler gefunden werden (in anderen Fällen jedoch gibt man die Fehlersuche früher oder später auf).

Die Art, wie mathematische Regeln gelernt werden und darunter auch der Umgang, der mit mathematischen Regeln gelernt wird, ebenso wie die Erfahrung, dass sich Fehler finden lassen, und die Deutung, dass bei Nichtfinden der Fehler nochnicht gefunden wurde, aber existieren muss, und auch, dass die Umstände des Betreibens der Mathematik nicht als bestimmend für ihren Inhalt angenommen werden, so dass ihre Sätze als zeitlose, nicht als historische Sätze ge-braucht werden – all dies legt die Deutung der Mathematik als zeitlose, ideale Objektwelt nahe.

Im Fall der mathematischen Reihe drückt sich diese Vorstellung in der „mythologischen Be-schreibung des Gebrauchs einer Regel“ (PU 221), und zwar in den Worten aus: „Die Übergänge sindeigentlichschon gemacht; auch ehe ich sie schriftlich, mündlich, oder in Gedanken mache.“

(PU 188) Die Festigkeit, die einer solchen Aussage zugrunde liegt, ist in Wahrheit eine andere:

„Wenn wir [. . . ] diese Übergänge in einem ganz anderen Sinne bestimmen, indem wir nämlich unsern Schüler einer Abrichtung unterziehen [. . . ] – wenn also die Übergänge, die Einer auf den Befehl ‚+2‘ zu machen hat, durch Abrichtung so bestimmt sind, dass wir mit Sicherheit vor-aussagen können, wie er gehen wird, auch wenn erdiesenÜbergang bis jetzt noch nie gemacht hat, – dann kann es uns natürlich scheinen, als Bild dieses Sachverhalts den zu gebrauchen: die Übergänge seien bereits alle gemacht, er schreibe sie nur noch hin.“ (Wittgenstein 1999a, 46)

Diese Herangehensweise an die Deutung mathematischer Sätze, sie nicht isoliert zu betrach-ten, sondern ihr Gebrauchsumfeld zu beschreiben und sie als Teil einer endlichen historischen gesellschaftlichen Praxis zu betrachten, gliedert sich ein in Wittgensteins sprachphilosophische Methode. Dabei identifiziert er in Aussagen über das ‚Zwingende‘ der Mathematik ‚grammati-sche Sätze‘, die auszeichnet, dass sie als apriori‚grammati-sche Aussagen über einen Gegenstand er‚grammati-schei- erschei-nen, während ihr rationaler Gehalt eigentlich der einer Begriffsbestimmung ist, die changieren kann zwischen normsetzend und praxisbeschreibend; die also in einer irreführenden Weise ent-weder sagt, man solle die Sache auf diese Weise betrachten, oder, die Sachepflege auf diese Weise behandelt zu werden. Grammatische Sätze über das Zwingende der Mathematik treffen also durchaus etwas Richtiges, was sie eben als evident wahr erscheinen lässt. Dieses Richti-ge ist aber nicht, was sie unmittelbar ausdrücken. Unmittelbar sugRichti-gerieren sie die idealistische Auffassung der Mathematik, als handele es sich um etwas unendlich Starres und Klares, das

irgendwie objektiv hinter dem Mathematik Betreiben liege, während die Wahrheit ein Normen-zusammenhang der mathematischen Praxis ist, der die Mathematik konstituiert, statt auf sie zu referieren oder sie zu beschreiben. Daher legt Wittgenstein soviel Energie in die Bemühung, zu-mindest ontogenetisch zu zeigen, wie das Erlernen mathematischer Regeln beschrieben werden kann, ohne den Begriff mathematischer Regeln vorauszusetzen. Das Erlernen mathematischer Regeln geht dem Erlernen des Begriffs ,mathematische Regel’ notwendig voraus. Die Basis für den Inhalt dieses Begriffs ist die kollektive Aneignung dieser bestimmten Fähigkeit.

2.2.2 Grammatische Sätze und die sprachphilosophische Kritik philosophischen Wissens

Der Kern von Wittgensteins Idealismuskritik liegt in seiner Kritik grammatischer Sätze, Kritik dabei im zweifachen Sinne verstanden als Aufhebung mystifizierender Deutungen und als Be-stimmung der Grenzen des sinnvollen Gebrauchs. Der Begriff des grammatischen Satzes beerbt die philosophische Kategorie apriorischer Aussagen, aber nicht mehr eingebettet in ein Feld ver-schiedener ‚Wissensarten‘, sondern eingebettet in eine Analyse der Sprache als Regelkomplex.

Statt grammatische Sätze als Ausdruck einer besonderen Art von Wissen zu interpretieren, stellt Wittgenstein genau diese Verwendung des Wissensbegriffs in Frage und untersucht die Funktion und den Mitteilungswert grammatischer Sätze in der Sprachpraxis. Die Grundlage seiner Deu-tung ist überhaupt, dass Sprache regelgeleitet ist, also unter anderem dass die Bestimmtheit von Aussagen auf der Bestimmtheit einer sozialen Praxis des Regelfolgens beim Gebrauch von Wör-tern und Sätzen beruht. In diesem Normenzusammenhang können Sätze die Rolle von MusWör-tern einnehmen, so dass sie also nicht die Funktion haben, den Normen gemäß mitzuteilen, sondern selbst eine Norm auszudrücken oder festzulegen. Aus dieser besonderen Rolle entspringen nach Wittgenstein die besonderen Eigenschaften grammatischer Sätze, insbesondere dass sie, wenn als gewöhnliche Aussage verstanden, notwendig erscheinen, da sie dann als normentsprechen-der Ausdruck eines Inhalts genommen werden, während sie gleichzeitig mit diesem Inhalt die Norm setzen. Sie sind der Urmeter, von dem man im gewöhnlichen Sinne zu behaupten vorgibt, dass seine Länge einen Meter betrage, und dabei über die besondere Rolle, die er in der Län-genmessung einnimmt, hinweggeht. Dass er eine besondere Rolle hat, wird daran sichtbar, dass seine Kürzung ganz andere (praktische) Folgen hat als die gewöhnlicher Stäbe.12

Mit Grammatik sind bei Wittgenstein nicht nur die Sprachregeln gemeint, die die Linguistik

12Heute ist der Meter freilich nicht mehr über einen einzelnen Gegenstand als Längenmuster definiert, sondern über den Weg, den das Licht in einer bestimmten Zeit zurücklegt, also über Naturkonstanten. Und selbst bei Definition über einen Urmeter hätte dessen Kürzung in Wirklichkeit natürlich nicht die Folge, dass nun plötzlich die Länge von allem anderen mit größeren Zahlen angegeben werden müsste, sondern aufgrund der Objektivation des Längenmaßes in einer vielfältigen Praxis der Längenmessung würde man einen neuen Urmeter erzeugen, der dem alten möglichst genau entspricht.

darunter versteht, sondern vor allem, um es in deren Vokabular auszudrücken, die Semantik und Pragmatik konstituierende Regeln. Die mystifizierende Sicht auf einen grammatischen Satz ist dadurch gekennzeichnet, dass man ihn als Ausdruck eines (Erfahrungs-)Wissens nimmt, dessen Inhalt man sich ‚anders nicht vorstellen kann‘, der ‚so sein muss‘, der also mit einer unbeding-ten Notwendigkeit versehen wird (PU 251). Wittgenstein hält dagegen, dass tatsächlich in dieser Weise mit dem Satz nichts mitgeteilt wird, denn wenn das Gegenteil oder Anderes nicht mög-lich ist, dann ist eben nichts Bestimmtes darüber ausgesagt. Daher sein Beharren, diese Sätze nicht als wahr oder als Wissen zu kennzeichnen, da sie ja nicht auch falsch sein könnten, son-dern als unsinnig.13 Tatsächlich können diese Sätze aber sinnvoll gebraucht werden, und zwar auf sehr verschiedene Weise, jedoch so, dass das Thema nicht ein als notwendig Gewusstes ist, sondern eine Norm, also etwas offensichtlich nicht Notwendiges. So etwa, wenn eine Spra-che erst gelehrt wird, wo also jene Normen noch nicht bekannt sind. Oder wo gesagt wird, die Sache solle auf diese Weise betrachtet werden, das heißt bestimmte in dem Satz hergestellte Verbindungen sollen nicht in Frage gestellt werden. Dass es auch eines der wichtigsten rheto-rischen Mittel ist, scheinbar Evidentes in einem grammatischen Satz auszusprechen, ohne die normativen Grundlagen offenzulegen, ist bei Wittgenstein kein Thema, da es ihm ja um die philosophischen Probleme geht, nicht um die ganze Breite der wirklichen Sprache. Das ist zu vergegenwärtigen angesichts von Wittgensteins Zug zum gewöhnlichen Gebrauch der Sprache – es wäre ein Irrtum, dies so zu verstehen, als ginge es ihm um die Leitfrage, welche Rolle Sprache im wirklichen Leben spielt. Es ist nur die Charakterisierung allgemeinster Züge dessen, die er zur Behandlung seiner philosophischen Probleme benötigt.

Ein Beispiel für Wittgensteins philosophische Anwendung seiner Reflexionen über grammati-sche Sätze ist das Problem des Inneren der Seele und der Empfindungen: „Nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der Andere kann es nur vermuten. – Das ist in einer Weise falsch, in einer andern unsinnig. Wenn wir das Wort ‚wissen‘ gebrauchen, wie es normalerweise gebraucht wird (und wie sollen wir es denn gebrauchen!), dann wissen es Andre sehr häufig, wenn ich Schmerzen habe.“ (PU 246) In dieser Hinsicht ist der Satz also falsch. Es ist die Hin-sicht, wie vom Wissen über Schmerzen tatsächlich geredet wird. In der anderen Hinsicht wäre der Satz gebraucht als grammatischer Satz über Schmerzen, also als wäre es eine notwendige Eigenschaft von ‚Schmerz-Entitäten‘, dass ein anderer nicht denselben sicheren Zugang zu mei-nen Schmerzen hätte, wie ich selbst. Doch dies auf der Objektebene zu verhandeln führt nur immer tiefer in den Irrgarten. Dagegen Wittgenstein: „Das ist richtig: es hat Sinn, von Andern zu sagen, sie seien im Zweifel darüber, ob ich Schmerzen habe; aber nicht, es von mir selbst zu sagen.“ (ebd.) Wittgensteins Umformulierung des grammatischen Satzes spricht im Gegensatz

13Diese Analyse ist in Anbetracht der philosophischen Tradition nichts Geringes: Jeder apriorische Allgemeinheits-anspruch, insbesondere Kategorienlehren fallen unter diese Kritik.

zu diesem explizit auf der Ebene von den Regeln („richtig“), die den Begriff Schmerz bestim-men, nämlich dass es davon abhängt, wer über die Schmerzen spricht, ob auch von Irrtum die Rede sein kann (was nicht heißt, dass die Schmerzen anderer immer zweifelhaft seien, nur dass sie manchmal zweifelhaft sind).

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 75-80)