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Ideologie im engeren Sinn

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 31-35)

1.1 Eine materialistische Geschichtsauffassung

1.1.3 Ideologie im engeren Sinn

Mit der epistemologischen Dimension ist die Frage nach dem wirklichen Denken, in dem all die-se Verhältnisdie-se überhaupt erst erscheinen, also nach Ideologie, (gedie-sellschaftlichem) Bewusstdie-sein und Fetischismus berührt und die nach ihrem Zusammenhang mit materialistischer Geschichts-auffassung sowie Praxisphilosophie. Es ist dieser Komplex, in den Marx’ Auffassung der Spra-che eingebettet ist, wie im folgenden Unterkapitel (1.2) ausgeführt wird. Und ähnlich wie bei der Sprache ist diese Seite von Marx und Engels nie systematisch ausgearbeitet worden und setzt sich daher zusammen aus einer Fülle vereinzelter allgemeinerer Gedanken und konkre-ter Anwendung in Kritikform (so insbesondere im Rahmen von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie). Ein bedeutender Zweig marxistischer Literatur hat hieran angeschlossen mit der Bemühung, die zunehmende Bedeutsamkeit der Ideologie für das Fortbestehen des Kapitalis-mus im 20. Jahrhundert herauszuarbeiten. Dabei haben sich zwei Bedeutungen von ‚Ideologie‘

voneinander getrennt, deren Unterscheidung für die Rekonstruktion der marxschen Auffassung hilfreich ist: Während etwa bei Gramsci oder Woloschinow der Begriff Ideologie auf Vorstel-lungszusammenhänge und -formationen ohne Ansehung ihrer Wahrheitsgehalte geht, analysie-ren Adorno oder Althusser die systematische gesellschaftliche Produktion von Vorstellungen über eben diese Gesellschaft, die deren Wirklichkeit in signifikanter Weise verfehlen.

Bei Marx und Engels ist dieser zweite der vorherrschende Ideologiebegriff, als dessen Maß-stab der erreichte wissenschaftliche Standard der historischen, materialistischen Erklärung ge-sellschaftlicher Vermittlungsverhältnisse fungiert. So führt Engels im oben zitierten Brief wei-ter aus: „Die Widerspiegelung ökonomischer Verhältnisse als Rechtsprinzipien ist notwendig [. . . ] eine auf den Kopf stellende: Sie geht vor, ohne dass sie den Handelnden zum Bewusst-sein kommt, der Jurist bildet sich ein, mit aprioristischen Sätzen zu operieren [. . . ] Und dass diese Umkehrung, die, solange sie nicht erkannt ist, das konstituiert, was wir ideologische An-schauung nennen, ihrerseits wieder auf die ökonomische Basis zurückwirkt und sie innerhalb gewisser Grenzen modifizieren kann, scheint mir selbstverständlich.“ (MEW 37, 491f) Die-se Stelle konzentriert gleich mehrere Gedanken dieDie-ses ProblemkreiDie-ses, desDie-sen Kern die Frage nach der Stellung des Wissen in materialistischer Geschichtsauffassung und Praxisphilosphie ist. Der Jurist operiert wirklich mit Sätzen, darin besteht in bedeutendem Umfang sein Handeln.

Innerhalb seines praktischen Feldes, staatlichen Rechtsinstitutionen, bleibend behandelt er die Sätze als unmittelbar vorausgesetzte, nicht als historisch gesetzte Resultate von gesellschaft-lichen Kämpfen zur Befestigung ökonomisch-gesellschaftlicher Verhältnisse. Was ihm „zum Bewusstsein kommt“, sind nicht die wirklichen Ursprünge seiner Sätze, sondern er interpre-tiert sie als „Rechtsprinzipien“, „aprioristische Sätze“, also überzeitlich-ideell gerechtfertigte oder zu rechtfertigende (was der Anerkennung einer selbständigen Rechtsgeschichte nicht wi-derspricht). Indem die Rechtsinstitutionen eine relative Selbständigkeit gegenüber den übrigen

gesellschaftlichen Sphären gewinnen, können ihre Akteure sich auf den Schein der Selbstän-digkeit kaprizieren und die Voraussetzung ihres Denkens selbst wieder in Gedanken suchen.

Die „ideologische Anschauung“ des Juristen entspringt demnach seinem unmittelbaren prakti-schen Bewusstsein, dessen Ausgangspunkt die gegebenen Rechtsprinzipien sind, indem er diese als wirklichen Ausgangspunkt seiner übrigen Sätze nimmt. Darin erscheinen Sätze als Ausflüsse allgemeinerer Sätze, Gedanken als Ausflüsse allgemeinerer Gedanken, also aus dem „Kopf“ statt aus praktisch-ökonomischen Verhältnissen herkommend, was wiederum die wirklichen Verhält-nisse auf dem „Kopf“, das heißt verkehrt, darstellt.

Die Metapher der Verkehrung oder Widerspiegelung taucht auf, wo eine Abhängigkeit ver-schiedener Instanzen sich inhaltlich ausdrückt, also als Widerspiegelung der ökonomischen Verhältnisse in den Überbaustrukturen oder der gesellschaftlichen Verhältnisse im Denken und den Vorstellungen der sich in ihnen bewegenden Menschen. Zuweilen erhält die Metapher einen

‚mechanischen‘ Charakter, wenn etwa von der optischen Verkehrung des Lichts im Auge die Rede ist. Welche weitergehenden Probleme das ganze dem zugrunde liegende Repräsentations-paradigma in der Sprachtheorie verursacht, wird später zu betrachten sein. Aus dem Vorher-gehenden ist allerdings festzuhalten, dass an eine eindeutige, also mechanische Repräsentation nicht zu denken ist, wenn es gleichzeitig der Sache nach um relative Selbständigkeit geht. Statt-dessen führt Engels am Beispiel des Rechtssystems selber aus, dass es zwar notwendig von der Absicherung (ökonomischer) Herrschaftsverhältnisse abhängige Inhalte haben wird (im Ka-pitalismus vor allem die rechtliche Absicherung des Privateigentums an Produktionsmitteln), diese aber darin nicht unbedingt als klarer Ausdruck auftreten, sondern ‚verzerrt‘ durch die Ver-mittlung mit anderen Ansprüchen, die an die Ausformung des Rechts gestellt werden. Diesen Ansprüchen, wie etwa in Engels’ Brief dem der Konsistenz, Genüge tun kann ein Jurist, ohne Materialist zu sein oder sich über die ursächlichen Zusammenhänge seiner Tätigkeit mit der ökonomischen Sphäre seiner Gesellschaft im Klaren zu sein.

Aber auch und gerade aus der ökonomischen Sphäre kapitalistisch produzierender Gesell-schaften selbst entspringt ein ideologisches, verkürztes praktisches Bewusstsein, das gewordene gesellschaftliche Formen nicht in ihrer ganzen Vermittlung auffasst, sondern nur die subjekti-ve Position darin bzw. das Wissen des eigenen Tätigkeitskreises subjekti-verallgemeinert: „Und es sind diese fertigen Verhältnisse und Formen, die in der wirklichen Produktion als Voraussetzungen erscheinen, weil die kapitalistische Produktionsweise sich in den von ihr selbst geschaffenen Gestalten bewegt und diese, ihr Resultat, im Prozess der Reproduktion, ihr ebensosehr als ferti-ge Voraussetzunferti-gen ferti-geferti-genübertreten. Als solche bestimmen sie praktisch das Tun und Treiben der einzelnen Kapitalisten etc., geben die Motive her, wie sie als solche in ihrem Bewusstsein sich widerspiegeln. Die Vulgärokonomie tut nichts, als dies seinen Motiven und seinen Vorstel-lungen nach in der Erscheinung der kapitalistischen Produktionsweise befangene Bewusstsein

in doktrinärer Form auszusprechen.“ (MEW 26.3, 476f.) Die fortgesetzt reproduzierten (arbeits-teiligen) Verhältnisse geben den in ihnen agierenden Individuen mehr oder weniger bestimmte Praxisfelder vor, die einerseits sich in diese Reproduktion einfügen und andererseits bei den Individuen, die sich in ihnen betätigen, nur das auf einen engen Ausschnitt des ganzen ge-schichtlichen Reproduktionszusammenhangs beschränkte Wissen voraussetzen, das wiederum als allgemeine Vorstellungen ausgesprochen und dann als Gedankengut verbreitet werden kann.

In ähnlicher Weise bildet sich natürlich auch Engels’ Jurist seine ideologischen Vorstellungen nicht als isoliertes Individuum aus seiner einsamen Praxis allein heraus, sondern findet sie bei seinen Lehrern und Kollegen vorgeprägt. Sobald diese zweite Quelle von Vorstellungen und Gedanken, nämlich die anderer Menschen, teils derselben Gesellschaft, teils vergangener Ge-sellschaften, theoretisch vermittelt werden muss mit der ersten: den in Erfahrungen und dem praktischen Leben der Individuen wurzelnden, wird die Komplexität einer entsprechenden Be-wusstseinsauffassung erahnbar, die ansatzweise zumindest in ihren Versatzstücken bei Marx und Engels vorfindlich ist, ohne von ihnen systematisch entwickelt worden zu sein.

Die kohärenteste, aber dennoch stückwerkhafte Darstellung findet sich wieder in der Deut-schen Ideologie, worin die Grundpositionen der materialistiDeut-schen Geschichtsauffassung bereits entwickelt sind, aber die Auseinandersetzung mit der Bewusstseinsphilosophie noch frisch und daher die Gegenposition explizit ist. Dabei wird der Bewusstseinsbegriff als zentraler Begriff zur Beschreibung von Subjektivität nicht aufgegeben, sondern um seinen philosophischen Status als Kategorie, von der aus alles anhebt, gestutzt und den materiellen und praktischen Verhältnissen nachgeordnet: „Nachdem wir bereits vier Momente, vier Seiten der ursprünglichen, geschicht-lichen Verhältnisse betrachtet haben“, nämlich Produktion von Lebensmitteln, Erweiterung der Bedürfnisse, Reproduktion der Gattung und Zusammenwirken der Menschen in der Produkti-on, „finden wir, dass der Mensch auch ,Bewusstsein’ hat.“ (MEW 3, 30) Gemeint ist hier nicht praktische Intelligenz, die schon in die Lebensmittelproduktion mit eingeschlossen ist, sondern reflektiertes Wissen, ein reflektiertes Verhältnis zur natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt:

„Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es für mich, das Tier ‚verhält‘ sich zu Nichts und über-haupt nicht. Für das Tier existiert sein Verhältnis zu anderen nicht als Verhältnis.“ Entstanden aus der mit gesellschaftlicher Lebensproduktion einhergehenden „Notdurft des Verkehrs mit an-deren Menschen“ ist das Bewusstsein, weil über den Ideenaustausch mit anan-deren vermittelt,

„von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt“ (MEW 3, 30f) – in zweierlei Sinne: nur in Gesellschaft entstehend und in seinem Inhalt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse der Individuen zueinander und zur Natur bestimmt. Das „gesellschaftliche Sein“ (MEW 13, 9), das das Bewusstsein bestimmt, ist, soweit es das Verhältnis zur Natur betrifft, von der gesamtge-sellschaftlichen Kontrolle und Modifikation der Natur überhaupt abhängig, andererseits aber entsprechend arbeitsteiliger Verhältnisse auch in sich geschieden, verbunden mit geschiedenen

Praxen und Subjektpositionen.

Das Erste betrifft das gesellschaftliche Bewusstsein in seiner Abhängigkeit von der Stellung der ganzen Gesellschaft oder Epoche im Welt- und Naturzusammenhang. Die hier zugrunde liegende Perspektive ist eine menschheitsgeschichtliche. Dass die Natur „den Menschen an-fangs als eine durchaus fremde, allmächtige und unangreifbare Macht gegenübertritt“ (MEW 3, 31) wird diesen Menschen bewusst in der Form von Naturreligion: „Diese Naturreligion oder dies bestimmte Verhalten zur Natur ist bedingt durch die Gesellschaftsform und umgekehrt.“

(ebd.) Ein Bewusstsein über die menschlichen Ursachen von Weltklimaveränderungen und ent-sprechend die Notwendigkeit der Reduktion des Kohlendioxid-Ausstoßes setzt dagegen einen gewaltigen Verbrauch natürlicher Ressourcen einerseits und ein hoch entwickeltes Wissen über das Funktionieren von Ökosystemen andererseits voraus.20

Das Zweite beschreibt ein ‚doppelt geteiltes‘ Bewusstsein, das man in einem Spiel von

‚Zentripetal- und Zentrifugalkräften‘ verorten kann: Das innergesellschaftliche (arbeitsteilige) Auseinanderdriften von Lebensrealitäten ist verbunden mit einer entsprechenden Teilungvon Praxen und daher von Wahrnehmungen und Bewusstseinsinhalten; andererseits findet (heute vor allem über Medienöffentlichkeit und staatliches Ausbildungssystem) eine Vereinheitlichung und gesellschaftliche Verallgemeinerung bestimmter Vorstellungen über Welt und Ereignisse statt, die also von vielen, über die Schranken ihrer getrennten Lebenswirklichkeiten hinweg, geteiltwerden können. Die ‚Zentrifugalkraft‘ und die damit verbundene Herausbildung eines besonderen Bewusstseins zeigt sich an dem historischen Weg der Arbeiterklasse, wie sie sich 1846 Marx und Engels dargestellt hat, dass nämlich „eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Ge-sellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen andern Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsglieder bildet und von der das Bewusst-sein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische BewusstBewusst-sein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den andern Klassen vermöge der Anschauung der Stel-lung dieser Klasse bilden kann“ (MEW 3, 69). Über 150 Jahre später hat zwar der Umfang der Klasse der Lohnarbeiter beträchtlich zugenommen und nimmt weiter zu, aber ebenso ihre Diver-sität und partiell ihre Beteiligung an den „Vorteilen“, umgekehrt hat „das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution“ entsprechend abgenommen, vor allem aber hat die Bedeutung der ‚Zentripetalkräfte‘ zugenommen, die bei Marx und Engels nur beiläufig und in großer Allgemeinheit erwähnt werden, ohne differenziert analysiert zu werden. Die materialis-tische Geschichtsauffassung „erklärt nicht die Praxis aus der Idee, erklärt die Ideenformationen aus der materiellen Praxis“ (MEW 3, 38), was erstens das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur

20Dass die Ermangelung einer gemeinschaftlichen Kontrolle über die Produktion einer politischen Umsetzung ent-gegenwirkt, ist eine weitere Frage, die aber nicht das Verhältnis zur Natur, sondern die besonderen ökonomischen und ideologischen Bestimmungen der kapitalistischen Gesellschaften betreffen.

betrifft, zweitens die Bildung entgegengesetzter Ideen aus Klassengegensätzen und schließlich die Vormacht herrschaftsstabilisierender Ideen: „Die Klasse, welche die herrschendematerielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschendegeistigeMacht. Die Klasse, die die Mit-tel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die MitMit-tel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“ (MEW 3, 46) Die erfolgreiche

„Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit“ (ebd.) erfordert geistige Arbeit, die die Gedanken in eine von allen aneigenbare Form bringt. Die Teilung von körperlicher und geisti-ger Arbeit leistet dem Vorschub, indem von der körperlichen Arbeit freigestellte Intellektuelle bereitstehen, als „konzeptive Ideologen“ (ebd.) die Gedanken zu wälzen, um „sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen“ (MEW 3, 47).

Die ganze Darstellung der „Produktion des Bewusstseins“ (MEW 3, 37) in der Deutschen Ideologie ist in groben und zum Teil unhistorischen Strichen gezeichnet. Die ganzen Elemente, die in die Bildung wirklicher Gedanken eingehen, werden hier theoretisch nicht zueinander in Beziehung gesetzt bzw. miteinander vermittelt. Allein die Aufzählung ist nützlich. Zusammen-fassend lässt sich sagen: Bewusstsein ist als ideelle Reproduktion der Lebenswelt gefasst. Es bestimmt sich aus historisch konkreten Praxiserfahrungen und aus zirkulierenden Gedanken, die tradierte Elemente enthalten. Befangenheit des Alltagsverstands in der Alltagspraxis, objektives Verschwinden von Vermittlungsverhältnissen aus der unmittelbaren Erscheinung besonders in kapitalistischen ökonomischen Verhältnissen sowie ideologieinteressierte Herrschaftsverhältnis-se müsHerrschaftsverhältnis-sen für eine wisHerrschaftsverhältnis-senschaftliche Durchdringung einer GeHerrschaftsverhältnis-sellschaft gedanklich abgearbeitet werden. Insbesondere folgt daraus, dass nicht, was Menschen über sich selbst denken, zur ers-ten Grundlage genommen werden kann zur Beurteilung, was sie sind, sondern umgekehrt ihre materiellen und praktischen Verhältnisse dafür, welche Bedeutung ihre Gedanken haben.

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 31-35)