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Die ökonomische Basis, ihr Überbau und Subjektivität

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 20-31)

1.1 Eine materialistische Geschichtsauffassung

1.1.2 Die ökonomische Basis, ihr Überbau und Subjektivität

An diese Überlegungen lassen sich einige Grundfragen der marxistischen Geschichts- und Ge-sellschaftsauffassung anschließen: wenn Umfang und Form der materiellen Produktion zum Ausgangspunkt des Studiums einer Gesellschaft gemacht werden soll, wie lässt sich das Ver-hältnis zu den übrigen Gestaltungen dieser Gesellschaft bestimmen; außerdem, wenn jeweils

die Produktionsweise das Gravitationszentrum einer Gesellschaftsformation darstellt, wie ver-hält sich dies zu Aussagen, die das aktive Geschichtemachen der Menschen und Klassenkämpfe in den Vordergrund der Geschichtsauffassung rücken; und schließlich, wenn die besonderen Formen der historischen Gesellschaftsformationen nicht durch ein überspannendes allgemeines Prinzip miteinander im Zusammenhang stehen, in welchem Verhältnis stehen dann die allgemei-neren Aussagen der materialistischen Geschichtsauffassung zu den auf die besonderen Forma-tionen konzentrierten Analysen?

Die erste Frage ist im Marxismus anhand der Begriffe ‚Basis‘ und ‚Überbau‘ bzw. ‚Super-struktur‘ diskutiert worden – in einem Spektrum an Positionen, das von mechanistischem Öko-nomismus, der Überbauphänomene für Schein erklärt und aus den ökonomischen Bedingungen ableiten zu können meint, bis zu Auffassungen reicht, die das Begriffspaar schon wegen sei-ner deterministischen Tendenz lieber aus der Diskussion tilgen wollen. Dies ist nicht allein eine spätere Entwicklung, sondern bei Marx und Engels selbst schwanken die Formulierungen, infol-gedessen der alte Engels sich zu der Bemerkung veranlasst sah: „Dass von den Jüngeren zuwei-len mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleug-nete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen.“ (MEW 37,465) Die Schwierigkeiten, den theoretischen Status des Begriffspaars zu klären, fällt zusammen mit seiner Verteidigung, dass nämlich diese Metapher bei Marx nie zu technischem Vokabular geron-nen ist.9Setzt man den Vorrang der Empirie vor der Geschichtskonstruktion, also die Forderung voraus, die (historisch bestimmte) „Logik der Sache“ vor der „Sache der Logik“ (MEW 1, 216) zur Geltung zu bringen, dann lässt sich die Logik von Basis und Überbau nicht als schematische Theorie der Gesellschaft auffassen, sondern sie erhält zunächst heuristischen Charakter: Da sich jede Gesellschaft materiell reproduzieren und dies in einer bestimmten Form organisieren muss, kann diese Struktur auch jeweils theoretisch rekonstruiert und als Erklärungsgrundlage für die übrigen Einrichtungen, Kulturformen, Gedankenformen herangezogen werden. Eine These ent-hält das Begriffspaar nur insofern, als eine asymmetrische epistemologische Abhängigkeit un-terstellt wird, indem derersteErklärungsgrund in der ökonomischen Struktur identifiziert wird.

Selbst die berühmte Formulierung aus dem Vorwort zurKritik der Politischen Ökonomie, wo von einer Entsprechung zwischen Basis und Überbau die Rede ist, lässt bei genauem Hinsehen eine

9So auch Thompson gegen Althussers Unterstellung des Klassenkampfs als „Motor“ der Geschichte: „Analogies, metaphors, images are not the same thing as concepts. They cannot be transfixed with the arrow of theory, plucked from the side of the text which they explicate, and mounted as concepts, on a plinth inscribed ‚Basic Proposition‘.

It may not matter much in this case. But it does matter, very much, in the case of another analogy, which has more generally been petrified into a concept: that of basis and superstructure. The graveyard of philosophy is cluttered with grand systems which mistook analogies for concepts. A headstone is already being prepared for Marxist structuralism.“ (Thompson 1978, 104)

Lesart, es müsse eine eindeutige Zuordnungsbeziehung geben, also einen Ableitungsdetermi-nusmus nicht zu. Dort heißt es zwar: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Pro-duktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen.“ (MEW 13, 8) Hier ist offen, ob die Entsprechung a priori oder a posteriori verstanden werden soll, doch drei Sätze vorher wird bereits darauf verwiesen, dass es sich dabei um Erklärungsbeziehungen dreht, dass nämlich „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln“ (MEW 13, 8). Die Gestaltungen des Überbaus sind also zunächst unabhängig beschreibbar, so wie die idealistische Geschichtsschreibung es vorführt, aber nicht für sich genommen zu begreifen, sondern zum Zwecke der Erklärung auf die ökonomische Basis zu beziehen (was wiederum Rückwirkung auf die Beschreibung haben muss). Die Formulierungen aus derDeutschen Ideologiesind hierzu deutlicher: „Die empirische Beobachtung muss in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und po-litischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen.“ (MEW 3, 25) Wenn auch in jedem einzelnen Fall ein Erklärungszusammenhang nachgewiesen werden kann, so heißt das selbstverständlich nicht, dass aus der ökonomischen Struktur alles erklärt werden kann.10 Eine ökonomische Struktur ist ja gerade nicht überhis-torisch allgemein, ein hisüberhis-torischer Vergleich verschiedener ökonomischer Strukturen kann also gerade nicht durch Analogiebildung herangezogen werden, um die jeweiligen Superstrukturen zu erklären, sondern die Erklärung erwächst aus den Verhältnissen der zugehörigen besonderen ökonomischen Basis. Die relative Selbständigkeit des Überbaus besteht aber nicht nur darin, dass verschiedene Gestaltungen den sich aus der ökonomischen Struktur ergebenden Anforde-rungen, Klasseninteressen und organisatorischen Möglichkeiten ‚entsprechen‘ können, sondern auch in seiner Rückwirkung auf die ökonomischen Verhältnisse: „Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozess, und zwar von der materiellen Produk-tion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser ProdukProduk-tionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ih-ren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewusstseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären und

10„Es wird schwerlich gelingen, die Existenz jedes deutschen Kleinstaates der Vergangenheit und Gegenwart oder den Ursprung der hochdeutschen Lautverschiebung [. . . ] ökonomisch zu erklären, ohne sich lächerlich zu ma-chen.“ (Engels an Bloch, 21./22.9.1890, MEW 37, 464)

ihren Entstehungsprozess aus ihr zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Tota-lität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiedenen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann.“ (MEW 3, 37f)11

Es ist klar, dass eine ‚Erklärung‘ von Superstrukturen aus ihrer Basis, oder besser: von ihrer Basis ausgehend (und selbstverständlich weitere Umstände mit einbeziehend), tatsächliche Wir-kungszusammenhänge voraussetzt, dass heuristische Formulierungen nur die epistemologische Seite ausmachen, deren Kehrseite jeweils in den historischen strukturalen Bestimmungsverhält-nissen zu suchen ist. Wenn hier zunächst auf jene erste Seite abgehoben wurde, so aus dem Grund, dass darin die genaue Wirkungsform bzw. der Zusammenhang mit individuellem Han-deln vorläufig unbestimmt bleiben kann; dass die Theoretisierung der zweiten Seite zusätzliche Bestimmungen verlangt. Dabei wird die erste konstitutive Spannung der marxschen Auffassung sichtbar, die sich am knappsten in der Formulierung ausdrückt, dass „die Umstände ebenso die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“ (MEW 3, 38), also die Spannung zwischen strukturalen Aussagen wie im Vorwort zurKritik der politischen Ökonomie, aus denen mensch-liche Akteure herausgekürzt scheinen, und solchen, in denen die Menschen die Subjekte der Ge-schichte sind, wonach Strukturanalysen einem falschen Objektivismus aufsitzen, wenn sie von der subjektiven Vermittlung abstrahieren: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittel-bar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (MEW 8, 115) Diese Umstände sind aber (in den zur Diskussion stehenden Gesellschaften) schon antagonistische, verschiedene Menschen finden sich qua Geburt schon in verschiedene Stellungen versetzt mit verschiedenen Verfügungen über den materiellen Reichtum der Gesellschaft, mit verschiedenen Bedingungen und Formen, sich das Leben zu verdingen, und mit verschiedenen Voraussetzungen und vor allem uneinheitlichen Interessen, diese vorgefundenen Umstände umzugestalten. Eine Produk-tionsweise ist eine gesellschaftliche Form, die sowohl die individuelle Reproduktion vermittelt, als auch ihre eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen reproduziert (was natürliche Schran-ken oder innere Widersprüche, die sich in langer Sicht geltend machen, nicht ausschließt), so dass die Individuen, indem sie sich entsprechend der vorgefundenen Form am Leben halten, auch die Form am Leben halten. Die Voraussetzungen für eine grundlegende „Umwälzung“ der Form selbst sind nicht allezeit gegeben. Diese Voraussetzungen werden von Marx so bestimmt,

11Beide Bestimmungen (relative Selbstständigkeit des Überbaus, Rückwirkung) finden sich auch imKapital: „Die spezifische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. [. . . ] Dies hindert nicht, dass dieselbe ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllose verschiedene empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wir-kende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind.“ (MEW 25, 799f)

dass sie in erster Linie materieller Natur und in zweiter Linie subjektiver Natur sind. Das Vorwort zurKritik der politischen Ökonomiebeschränkt sich auf das erste Moment: „Eine Gesellschafts-formation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Exis-tenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“

(MEW 13, 9) Woran sich messen ließe, für welche Produktivkräfte eine Gesellschaftsformation weit genug ist, außer durch den faktischen Entwicklungsstand in der Periode ihres Untergangs, wird nicht beantwortet, so dass für den ersten Teil des Satzes der Verdacht der Unbegründbar-keit naheliegt. Doch der Grundgedanke wird verständlicher, wenn er umgekehrt als Erklärung für das Fortbestehen einer Gesellschaftsformation formuliert wird: sie pflanzt sich fort, wenn eine Alternative nicht greifbar, nicht erreichbar ist (eben aus Mangel an organisatorischen und materiellen Grundbedingungen), sie bleibt vital, solange sie die sich erweiternde Produktionsfä-higkeit integrieren kann. Dieses Aussparen der menschlichen Aktion aus der Darstellung rückt diesen Gedanken gewiss näher an eine Geschichtskonstruktion als an bloß rückblickende Zu-sammenfassung empirischer Forschung. In den Formulierungen derDeutschen Ideologie dage-gen erhält das subjektive Moment Geltung. (In der foldage-genden Textstelle ist allerdings nicht von Wechseln der Gesellschaftsformationen überhaupt, sondern von der anvisierten proletarischen Revolution im Besonderen die Rede, also einer Revolution, die zwar begrifflich bestimmt und in ihrem Resultat von allen vorangegangenen unterschieden wurde, die aber gerade mangels Durchführung nicht historisch betrachtet werden konnte, oder allenfalls in ihrer vermeintlichen Anbahnung.) Objektive Bedingungen und menschliche Aktion werden in ihrem Zusammenhang dargestellt, und zwar erstere als Anlass sowie als Gelingensvoraussetzung für letztere: „Damit die [‚Entfremdung‘] eine ‚unerträgliche‘ Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die man revo-lutioniert, dazu gehört, dass sie die Masse der Menschheit als durchaus ‚eigentumlos‘ erzeugt hat und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung vor-aussetzt – und andererseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte [. . . ] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit derNotdurftauch der Streit um das Notwendige wieder beginnen [. . . ] müsste“ (MEW 3, 34f). Es sind also „die vorgefundenen Lebensbedingungen der verschiedenen Generationen [, die] entscheiden [. . . ], ob die periodisch in der Geschichte wiederkehrende revolutionäre Er-schütterung stark genug sein wird oder nicht, die Basis alles Bestehenden umzuwerfen, und wenn diese materiellen Elemente einer totalen Umwälzung, nämlich einerseits die vorhande-nen Produktivkräfte, andererseits die Bildung einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige ‚Lebensproduk-tion‘ selbst, die ‚Gesamttätigkeit‘, worauf sie basierte, revolutioniert – nicht vorhanden sind, so

ist es ganz gleichgültig für die praktische Entwicklung, ob die Ideedieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen ist“ (MEW 3, 38f).

Will sagen, eine „revolutionäre Masse“ bildet sich erstens nicht unmotiviert, zweitens kann sie die systemischen Ursachen des Elends nur aufheben, wenn sie sich nicht nur gegen Symptome richtet, und drittens müssen die materiellen Möglichkeiten zur Organisierung einer alternativen Gesellschaftsform bereits geschaffen worden sein. Das heißt umgekehrt nur, dass alle übrigen Revolten allenfalls eine Gesellschaft transformieren, aber im Rahmen derselben systemischen Grundbestimmungen. Dass eine „revolutionäre Masse“ aber nicht nur Ziele hat, sondern auch eine spezifische Subjektform in Gestalt einer revolutionären Einstellung zu jener Welt, gegen die sie rebelliert, ist darin ausgesprochen, dass es sich „für denpraktischenMaterialisten, d.h.

Kommunisten, darum handelt, die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundenen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern.“ (MEW 3, 42) Objektivistische Formulierungen haben also nicht die (absurde) Bedeutung, dass sich menschliche Geschichte nicht durch menschliche Projekte mit bewussten Zielen ereignen würde. Das Rationale objektivistischer Formulierun-gen ist vielmehr eine Unmittelbarkeitskritik politischer Projekte, sowohl was ihre BedingunFormulierun-gen betrifft als auch, was ihre Wirkungsmacht betrifft. Denn erstens müssen sich solche Projekte, wenn sie von geschichtlichem Belang sein sollen, sowohl aus den gesellschaftlichen Lebens-bedingungen heraus ergeben, als auch in ihrer Durchführung und sogar schon Zwecksetzung – nicht zu reden von den Erfolgschancen – von den materiellen und gesellschaftlichen histori-schen Umständen abhängig sein. Zweitens rufen sie anders interessierte Gegenprojekte hervor, die einer schlichten Umsetzung, d.h. der bewussten kollektiven Gestaltung der Gesellschaft ent-gegenstehen. Und drittens beruht die Beharrungskraft einer Gesellschaftsformation gerade auf ihrer Formgebung für individuelle Reproduktions‚projekte‘; d.h. indem die Grundlage des ge-sellschaftlichen Lebens, die materielle Produktion, kein gesellschaftliches Projekt mit kollektiv gewähltem, bewussten gesellschaftlichen Zweck ist, zerfällt sie in eine Unzahl paralleler, teils gegeneinander, teils zusammenwirkender Projekte, deren Summe eine Verselbständigung ge-sellschaftlicher Verhältnisse gegenüber menschlichen Zwecken ist, eine „Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht“ (MEW 3, 33).

Man sieht, wie die materialistische Geschichtsauffassung durchwoben ist mit einer Philo-sophie der Praxis, wie die Wirksamkeit der materiellen Verhältnisse vermittelt ist durch das Wirken der Menschen in und durch diese materiellen Verhältnisse. Das heißt umgekehrt, dass das Reproduzieren und Produzieren der materiellen Verhältnisse wiederum das Wirken der Men-schen bedingt, nämlich ihr Handeln auf der Grundlage dieser hergestellten Verhältnisse, weshalb schon „die Produktion des materiellen Lebens selbst [. . . ] eine geschichtliche Tat“ ist (MEW 3, 28). Die bisherige Geschichte der Menschen wird also von Marx und Engels nicht nur als

zu-nehmende kollektive praktische Beherrschung und Aneignung der Naturverhältnisse angesehen, sondern auch als Auftauchen neuer unkontrollierter Mächte durch diese Tätigkeit selbst, durch ihre „naturwüchsige“ Teilung und Organisation. Kommunismus ist gerade als Aufhebung dieser Verselbständigung menschlichen Produkts bestimmt: Er „unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, dass er [. . . ] alle naturwüchsigen Vorausetzungen zum ersten Mal mit Be-wusstsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. [. . . ] Das Bestehende, was der Kommu-nismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist [. . . ], ohne indes sich einzubilden, es sei der Plan oder die Be-stimmung der bisherigen Generationen gewesen, [den Kommunisten] das Material zu liefern“

(MEW 3, 70f). Im Begriff der Praxis wird die Verschränkung von Epistemologie und politischer Zielbestimmung deutlich: gerade weil die bisherigen Gesellschaften nicht von den Menschen unabhängige Formen waren, in denen sie sich bewegten, sondern diese Formen auf einem be-stimmten Zusammenspiel ihres praktischen Tuns basierten bzw. eben die bebe-stimmten Formen dieses Zusammenspiels selbst waren, wird es möglich, die Gesellschaftsform (und das heißt zu-allererst die ökonomische und Verkehrsform) der bewussten Gestaltung zu unterwerfen. Aber auch dies ist nicht unmittelbar möglich, da die Menschheit noch in jener alten Form befangen ist, so dass „sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einerRevolutionvor sich gehen kann“ (MEW 3, 70).12

Das Ziel der (kommunistischen) revolutionären Praxis ist eine Gesellschaft, in der jeglicher Klassenantagonismus aufgehoben ist, denn Marx und Engels sehen in der Spaltung komplexer Gesellschaften in ökonomische Klassen, die sich vor allem als Produzenten von Mehrprodukt und Aneigner desselben aufeinander beziehen,13 den Grund‚mechanismus‘, wie das Produkt

12An dieser Stelle ist zu bemerken, dass Praxis hier im Unterschied zur bloß produktiv-reproduktiven Tätigkeit den Charakter einer gerichteten Selbstveränderung bekommt. Das ist festzuhalten, weil daran die Komplexität des marxschen Praxisbegriffs zum Vorschein kommt: In oberflächlicher Übereinstimmung mit einer Praxisphi-losophie, wie sie sich in der analytischen Philosophie und bei Wittgenstein findet, heißt es in denThesen über Feuerbach: „Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis“ (MEW 3, 7). Aber schon der Zusatz: „und in dem Begreifen dieser Praxis“ (ebd.) weist in eine andere Richtung: nicht alle Unterschiede, zu allererst die zwischen dem Materiellen und dem Ideellen, sind (demnach) in gesellschaftliche Praxis aufzulösen, sondern konkrete Mystifizierungen der Wirklichkeit sind zurückzuführen auf konkrete Handlungsformen, d.h. in erster Linie auf die gesellschaftliche Vermittlungsform der Naturaneignung. Der Begriff der revolutionären Praxis liegt nun ganz außerhalb des Problembereichs jener anderen Philosophietradition: Mit ihm soll eine rationelle Umbildung einer Gesellschaft ohne voluntaristische, intellektualistische Illusionen erfasst werden können, ohne in idealistische Denkfiguren der Selbsterzeugung zu verfallen: „Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstverän-derung kann nur alsrevolutionärePraxis gefasst und rationell verstanden werden.“ (MEW 3, 6)

13„Nur die Form, worin diese Mehrarbeit dem unmittelbaren Produzenten, dem Arbeiter abgepresst wird, unterschei-det die ökonomischen Gesellschaftsformationen, z.B. die Gesellschaft der Sklaverei von der der Lohnarbeit.“

der Menschen zu einer „sachlichen Gewalt“ über sie wird und den Gegensatz besonderer In-teressen erzeugt. So heißt es entsprechend im Kommunistischen Manifest, wo dem Charakter einer politischen Schrift gemäß alles Gewicht auf diese aus den ökonomischen Formen hervor-gehenden Gegensätze und ihre in sich verschlungene Bewegung gelegt wurde: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, einem „ununterbroche-nen, bald versteckten, bald offenen Kampf“ (MEW 4, 462)14. Dass sich in einer „Epoche so-zialer Revolution“, akteurlos formuliert, „mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage [. . . ] der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um[wälzt]“ (MEW 13, 9), erklärt sich überhaupt aus veränderten Lebensverhältnissen, anderen funktionalen Bedingungen und Ansprüchen an die nicht unmittelbar ökonomischen Institutionen der Gesellschaft, insbeson-dere aber aus der Gestaltungsmacht und dem Gestaltungsinteresse der führenden Klassen. Das schließt die Subjektformen mit ein: „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen.“ (MEW 8, 139) Das bedeutet nicht, dass Elemente vergange-ner Gesellschaftsformationen nicht fortbestehen, aufgenommen, neu zusammengesetzt werden:

„Die verschiedenen [historischen] Stufen und Interessen werden nie vollständig überwunden, sondern nur dem siegenden Interesse untergeordnet und schleppen sich noch jahrhundertelang

„Die verschiedenen [historischen] Stufen und Interessen werden nie vollständig überwunden, sondern nur dem siegenden Interesse untergeordnet und schleppen sich noch jahrhundertelang

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 20-31)