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Aufmerksamkeit und Orientierung

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 125-133)

Wenn man wie Wittgenstein Sprache nicht im Gegensatz zur Praxis, sondern als Praxis be-stimmt, gerät schnell aus dem Blick, dass Sprachpraxis nicht nur irgendwie in die übrige Praxis integriert ist, sondern auch in einem Ermöglichungsverhältnis dazu steht. Die an Sprache gebun-dene Handlungsmächtigkeit von Menschen erschließt sich über den Begriff der Orientierung, der als Mittelbegriff zwischen Sprache und Tätigkeit fungieren kann. Orientierung geht als Mo-ment in jede Tätigkeit ein, Sprache ist ein mächtiges, relativ verselbständigtes zeichenbasiertes Orientierungsmittel. Sprachtheorie von dieser Dimension der Handlungsermöglichung her auf-zuziehen, erlaubt, die geistige Aneignung der materiellen und sozialen Welt von ihren Mitteln (Zeichen) her und in Rückbindung an die Erfordernisse gesellschaftlicher Reproduktion erfas-sen zu können, ohne auf Repräerfas-sentationsvorstellungen zurückzufallen, denen nur theoretisch die Erkenntnis als Mitte zwischen Sprache und Wirklichkeit gilt statt auch praktisch der gelingende Reproduktionsprozess von Individuum und Gesellschaft, dessen Bedingung gelingende

Orien-tierungsleistungen unter anderem in den materiellen Arbeitsprozessen sind.

Mit dem Orientierungsbegriff erschließt sich demnach der Zusammenhang zwischen ‚objek-tiven‘ Aufgaben, die sich in Anbetracht bestimmter Ziele oder Bedürfnisse stellen, und den zu ihrer Lösung notwendigen Anforderungen an das geistige oder subjektive Vermögen. Psyche erscheint nicht als abgetrenntes Reich, das sich zu einer Außenwelt in Beziehung setzt, sondern als Moment des aktiven Verhaltens in und zu der Welt. Psychologische Begriffe erschließen sich aus ihrem Verhältnis zu diesem Verhalten. Gefühle lassen sich demnach bestimmen als ori-entierende Wertungen. Und auch Bedürfnisse lassen sich als orientierend fassen: „Bedürfnisse bedeuten nicht nur Stimuli zum Handeln im äußeren Milieu, sie bestimmen auch die selektive Beziehung gegenüber den Objekten des Milieus im Voraus und zeichnen die allgemeine Rich-tung der Handlungen auf das vor, woran es dem Subjekt mangelt und wonach es ein Bedürfnis empfindet. In diesem Sinne sind die Bedürfnisse Ausgangs- und Hauptelement der Orientierung in Situationen.“ (Galperin 1980, 113) Mit Sprache tritt eine Vermittlungsebene hinzu, die es erlaubt, Bedürfnisse schon vor ihrem Auftreten einzubeziehen und zur Handlungsorientierung miteinander in Beziehung zu setzen und andererseits auch bestehende Bedürfnisse trotz unmit-telbarer Erfüllbarkeit zurückzustellen. Darüber hinaus erlaubt der Orientierungsbegriff, sowohl Kontinuität als auch qualitative Verschiedenheit psychischer Eigenschaften von Tieren und Men-schen auszumachen, wenn man die Aneignung der Sprache als Einführung eines solchen über bloße Signalfunktion hinausgehenden eigenen Vermittlungsraums für die Orientierung erkennt.

Der Orientierungsbegriff spannt schon im Alltagsgebrauch ein Bedeutungsfeld auf, das von der unmittelbaren sinnlichen Orientierung bis zur geistigen Orientierung von Weltanschauun-gen, Religion und Philosophie reicht. Das erlaubt eine Rückbindung von scheinbar ganz im Reich des Geistes versenkter Ideen an die sinnliche Welt der Tätigkeit und Praxis. Es handelt sich nicht um bloße Homologie, wenn einerseits bei ganz sinnlich-gegenständlichen Problem-stellungen wie dem Finden des nächsten festen Halts beim Bergwandern und andererseits bei allgemeinsten Lebensfragen, in Ethik und Politik von Orientierung gesprochen wird. In beiden Fällen findet eine Vermittlung über Anhaltspunkte, eine Verengung von Entscheidungskriterien in der Aktivität, eine Zielsteuerung in den Suchbewegungen statt.

Galperin hat den Begriff der Orientierung sogar ins Zentrum der Psychologie gestellt: „Wenn alle Formen des seelischen Lebens verschiedene Formen der Orientierungstätigkeit darstellen, so besagt dies gleichzeitig, dass die Psychologie in allen sogenannten psychischen Prozessen oder Funktionen gerade diese ihre Orientierungsseite untersucht.“ (Galperin 1980, 114) Orien-tierungstätigkeit bezeichnet die aktive „orientierend-untersuchende Tätigkeit“ (Galperin 1980, 111), die auch bei einigen Tierarten zu beobachten ist. Und „selbst bei [diesen] beschränkt sich die Orientierung nicht auf die Untersuchung der Situation; auf sie folgen die Wertung ihrer ver-schiedenen Objekte (hinsichtlich ihrer Bedeutung für die aktuellen Bedürfnisse des Tieres), die

Klärung der möglichen Bewegungsrichtungen, das Abschätzen der eigenen Handlungen im Hin-blick auf die vorgemerkten Objekte und schließlich die Steuerung der Handlungsausführung.“

(Galperin 1980, 112) Im Gegensatz zum „Orientierungsreflex“ (Galperin 1980, 111) bestehe

„die Besonderheit einer solchen psychologischen Orientierung [. . . ] vor allem darin, dass sich die Objekte des Feldes vor dem Subjekt auftun, eine Reaktion jedoch nicht mehr unmittelbar, nicht mehr automatisch hervorrufen.“ (Galperin 1980, 109) Orientierung ist also schon ohne Sprache eine subjektive Vermittlung der ‚sinnlichen‘ Tätigkeit.

In vier Hinsichten stellt die Orientierung von Menschen eine Besonderheit dar: Zunächst fällt auf, dass die Orientierungsinhalte in besonderem Maße durch andere Menschen, also sozial vermittelt sind, es sind nicht angeborene oder nur der individuellen Erfahrung entstammende In-halte, sondern von anderen ‚beigebrachte‘ Fähigkeiten; was den Inhalt selbst angeht, so nimmt einerseits das Orientierungsfeld des Gebrauchs und der Manipulation der gegenständlichen Welt einen besonders breiten Raum ein, also nicht nur Orientierung des eigenen Körpers in einer ge-gebenen Umwelt, sondern die für die sinnvolle Benutzung der meist schon zweckmäßig gestal-teten Dinge notwendige Orientierung entlang von Mittel-Zweck-Relationen; andererseits ist die Komplexität der Orientierungsanforderungen in der gesellschaftlichen Welt, also in den sozialen Beziehungen, enorm; schließlich ist die menschliche Orientierung vermittelt durch die Sprache, die zugleich Erklärungsgrundlage für die drei anderen Besonderheiten ist. Das soll nicht heißen, dass Sprache phylogenetisch gegenüber der sozialen Organisation der Menschen oder gegenüber dem arbeitsvermittelten Stoffwechselprozess mit der Natur vorgängig wäre. Die These ist viel-mehr, dass die kulturell bestimmte Organisation der Orientierung sowie die Orientierungsleis-tungen in der gegenständlichen und sozialen Welt ab einem bestimmten gesellschaftlichen Ent-wicklungsstand absolut die Vermittlung durch Zeichen voraussetzen, ohne deren Fixierung und Leitung komplexere Orientierungsleistungen und Handlungsabfolgen weder individuell produ-zierbar noch kollektiv reproduprodu-zierbar wären. Der Entwicklungsgrad der sprachlichen Reflexion entscheidet darüber, in welchem Umfang bewusst in die Umwelt und die Gesellschaft einge-griffen werden kann, gleichzeitig zieht die gesellschaftliche und materielle Entwicklung auch sprachliche Reflexionsprozesse nach sich bzw. stößt sie an, indem sie die ihren Lebensprozess organisierenden Menschen vor neue Aufgaben stellt. Doch insoweit Sprache überhaupt erst eine vermittelte Handlungskontrolle und planmäßigen Aufschub der Bedürfnisbefriedigung erlaubt, ist sie als psychisches Mittel auch absolute Voraussetzung gesellschaftlicher Arbeit, was eine wechselseitig angestoßene Höherentwicklung selbstverständlich nicht ausschließt.

Während die phylogenetischen Zusammenhänge ein Stück weit zur Spekulation nötigen, ist die Ontogenese insoweit leichter zugänglich, als hier Erwachsene vorausgesetzt sind, die die Sprache schon beherrschen und nur Aneignung derselben durch das Kind zu erklären ist. Die-se Aneignung Die-setzt Engagement von Seiten der ErwachDie-senen voraus, sie ist ein Prozess, bei

dem der Erwachsene zunächst aktiv und bewusst in die unwillkürliche Orientierung des Kindes eingreift: „Auf den ersten Entwicklungsetappen [wird] die Aufmerksamkeit des Kindes durch den Erwachsenen mit Hilfe des Hinweises oder der Gegenstandsbenennung organisiert“ (Lurija, 503). Damit lässt sich die Tätigkeit des Kindes mit Orientierungsmarkern verknüpfen, die es sich aneignen und in der Folge seinen eigenen Handlungsraum ausdehnen kann auf Handlungen, die zuvor nur unter Anleitung verfolgt werden konnten, weil ihr Gesamtzusammenhang nicht erfasst werden konnte. Lurija rekurriert ebenso wie Wygotski auch auf die Beobachtungen am Gebrauch der ‚egozentrischen Sprache‘: „Mit ihrer Hilfe orientiert sich das Kind in der Situation, indem es so etwas wie ein ‚Modell‘ der Situation herstellt und dann unter Mobilisierung seiner bisheri-gen Erfahrunbisheri-gen versucht, einen Ausweg [aus dem Problem] zu finden. Die sprachliche Analyse der Situation verhilft zur weiteren Organisation des Handelns, die Sprache des Kindes dient als Regulationsmittel für seine Tätigkeit.“ (Lurija, 504) Die empirischen Untersuchungen der rus-sischen Psychologie zeigen, „dass die Sprache des Kindes, die von Anfang an ein Mittel der Kommunikation ist, in der Folgezeit auch zum Mittel der Orientierung in der Wirklichkeit wird und die Funktion der Mobilisierung der früheren Erfahrungen und der Regulation der eigenen Tätigkeit bekommt.“ (Lurija, 504) Sie konnten nachweisen, dass „die Entwicklung der kom-plizierten Orientierungstätigkeit mit den Stufen beginnt, auf denen sie noch durch und durch materiellen Charakter hat und die Form anschaulich-praktischer Probeorientierungen annimmt, die der Bildung einer bestimmten Fähigkeit vorangehen, dann zur Phase der verkürzten Orien-tierung übergeht, bei der die Bekanntschaft mit dem Anschauungsfeld die führende Rolle spielt, in dem sich das Kind befindet, und schließlich mit jener komplizierten Form der Orientierung endet, bei der die eigene Sprache des Kindes entscheidende Bedeutung hat.“ (Lurija, 512)

Die Kulturhistorische Schule vertritt also, gestützt auf umfangreiche empirische Untersuchun-gen, eine Reihe von Thesen über die Sprachentwicklung des Kindes, die der Sprache eine zen-trale Rolle in dessen Entfaltung geistiger Fähigkeiten anweist. Was Wittgensteins Beispiele, die den praktischen Charakter der Sprache zeigen sollen, implizit enthalten, wird hier auf den Be-griff gebracht. Die Orientierung in der gegenständlichen Welt ist in der Tat Teilnahme an einer Lebensform, aber es ist auch eine durch die Aneignung der Sprache erworbene Fähigkeit zur Umweltkontrolle. Wenn einmal die Aufmerksamkeit so organisiert worden ist, dass Worte mit Orientierungsleistungen verbunden sind, lässt sich auf dieser Grundlage das sprachliche Orien-tierungssystem weiter ausbauen.

Die Verwiesenheit des Kindes auf die Erwachsenen, die ganze notwendige Aufmerksamkeit auf deren Verhalten erlaubt ihnen, die Aufmerksamkeit des Kindes von unmittelbaren Wahrneh-mungen auf besondere, unaufdringliche Merkmale umzulenken: „Die Deutgeste veränderte den Charakter der Orientierung des Kindes, indem sie die Operation in eine äußerlich vermittelte verwandelte [. . . ] Das Wesentliche, was Wygotski mit seinen Versuchen zeigt, bestand aber

dar-in, dass diese äußerlich vermittelte Operation bei Kindern im älteren Vorschul- und jüngeren Schulalter in der Folgezeit leicht von selbst in eine Operation überging, die mit Hilfe der Spra-che vermittelt ist.“ (Lurija, 511) Diese Entwicklung der Aufmerksamkeitsvermittlung ließ sich an einem Spiel untersuchen, bei dem Kinder im jüngeren Schulalter „auf Fragen mit Farbbe-zeichnungen antworten mussten, wobei keine Farbe doppelt genannt werden durfte. Natürlich konnte ein Kind, das die Aufgabe direkt zu bewältigen versuchte, die schon genannten Farben nicht behalten und verlor das Spiel damit zwangsläufig. Versuche, die ‚willkürliche Aufmerk-samkeit‘ durch direkte Instruktionen zu verstärken (‚Pass auf!‘), führten nicht zum gewünschten Resultat. Das änderte sich jedoch, als man der Versuchsperson jeweils eine Reihe von Kärtchen gab, die verschieden gefärbt waren, und ihr erlaubte, die Karten mit den bereits genannten Far-ben beiseite zu legen. In diesem Falle nahm die ganze weitere Tätigkeit der Versuchsperson vermittelten Charakter an: Nachdem das Kind den Versuch aufgegeben hatte, die Aufgabe un-mittelbar zu lösen, vermittelte es seine weitere Tätigkeit dadurch, dass es immer die vor ihm ausgebreiteten Kärtchen berücksichtigte, die nun den Charakter von Hemmsignalen bekamen, und wurde so mit der gestellten Aufgabe erfolgreich fertig.“ (Lurija, 510) Während „im jünge-ren Vorschulalter diese vermittelte Tätigkeitsstruktur noch nicht stabil genug war“, stabilisierte sich diese „äußerlich vermittelte Aufmerksamkeit“ im jüngeren Schulalter und wurde im älteren Schulalter „durch innere Verfahren der Vermittlung ersetzt: Die Versuchsperson begann, die be-reits genannten Farben aufzuzählen, und schuf damit ein System innerer sprachlicher Signale“, ein „mit Hilfe der Sprache organisiertes funktionelles System.“ (Lurija, 510)

Der Einsatz der Sprache zur geistigen Reproduktion und Beherrschung einer Situation ist also die Zusammenfügung von Sprachzeichen mit schon zuvor etablierten allgemeineren Bezie-hungen untereinander zu einem besonderen Orientierungssystem. „Während die Ausarbeitung eines neuen Verbindungssystems beim Tier eine große Anzahl von Kopplungen erfordert und in der Regel zunächst eine Phase der primären Generalisation und erst dann die der nachfolgen-den Spezialisierung durchläuft, können beim Menschen, der eine Verbindung im sprachlichen System formuliert, diese ersten Phasen übersprungen werden, so dass eine Verbindung sofort in spezialisierter Form in Erscheinung tritt.“ (Lurija, 515) Bereits fixierte Systeme lassen sich auch leicht modifizieren und den besonderen Gegebenheiten anpassen. „Der Systemcharakter der Umarbeitung vorher ausgearbeiteter Verbindungen ist für den Menschen ebenso typisch wie der Systemcharakter der primären Ausarbeitung.“ (Lurija, 516) Durch die Voraussetzung bereits bestehender Beziehungen der Zeichen, werden „diese Verbindungen niemals ausschließ-lich durch einen gewissen Bereich anschauausschließ-licher, unmittelbarer Reize bestimmt [. . . ]. Während [. . . ] die Ausarbeitung eines Systems bedingter Reaktionen auf abstrakte Merkmale (etwa auf die Ordnungszahl des Signals) dem Tier sehr große oft unüberwindliche Schwierigkeiten berei-tet, gibt es für den normalen Erwachsenen, der über die Sprache verfügt und ohne weiteres das

gewünschte Signalmerkmal zu abstrahieren imstande ist, keinerlei Schwierigkeiten beim Über-schreiten des Bereichs der unmittelbaren, anschaulichen Signale“ (Lurija, 516).

Die „Unfähigkeit, die eigene Sprache als Mittelglied zu benutzen, ist [. . . ] charakteristisch für 212-3jährige Kinder“ (Lurija, 518). „Erst im Alter von 312 bis 4 Jahren [. . . ] wird auch die eigene Sprache des Kindes aktiv in die Bildung neuer Verbindungen eingeschaltet, indem sie als Orientierungsmittel in den dargebotenen Signalen dient und allmählich den ganzen Ausbil-dungsprozess zeitweiliger Verbindungen des Kindes verändert.“ (Lurija, 518) Diese Entwick-lung findet entlang der Aneignung der gegenständlichen Welt statt, mit der die Sprachzeichen zunächst in der Kommunikation mit Erwachsenen verbunden werden. Zunächst steht noch die sinnliche Erfahrung im Vordergrund der Orientierung, bis zunehmend sprachliche Anweisungen durch andere leitend werden, wodurch die Fähigkeit sprachlicher Orientierung erst aufgebaut wird, bevor sie dem Kind zunehmend zur selbsttätigen Zielsetzung und Aufgabenlösung ver-fügbar wird: „Vor dem Kind stehen ein Holzbecher und eine Tasse. Die Veränderungen [zur vorherigen Versuchsanordnung] bestehen darin, dass das Geldstück nicht vor den Augen des Kindes in den Holzbecher oder in die Tasse getan wird, sondern in dem Moment, in dem die Ge-genstände durch einen Schirm verdeckt sind. Auf diese Weise wird die sprachliche Anweisung

‚Der Taler ist in der Tasse, suche den Taler‘ ohne anschauliche Stütze gegeben. Jetzt verfügt das Kind über keine eigene Erfahrung und muss dem Wort des Versuchsleiters glauben. Auf diese Weise wird die ‚reine‘ steuernde Rolle der Sprache untersucht. Die Versuche haben gezeigt, dass ein Kind von zwei bis zweieinhalb Jahren, das diese Aufgabe bereits ausführen kann, wenn sie durch anschauliche Erfahrungen gestützt ist, noch nicht in der Lage ist, sich der sprachlichen Anweisung des Erwachsenen in ‚reiner‘ Form unterzuordnen. In diesem Fall ersetzt das Kind die organisierende Ausführung der sprachlichen Anweisung durch eine Orientierungsreaktion:

Es streckt die Hand nach den beiden vor ihm stehenden Gegenständen aus, oder es gibt dem Trägheitseinfluss der früheren Reaktion nach. Erst gegen Ende des dritten Lebensjahres taucht die Möglichkeit auf, einer solchen ‚reinen‘ sprachlichen Anweisung anfangs bei unmittelbarer und dann auch bei verzögerter Ausführung zu folgen.“ (Lurija 1982b, 139) „Die Grundidee Wy-gotskis, die die Organisation des Willensaktes erklärt, beruht auf der Analyse der sprachlichen Entwicklung des Kindes. Im ersten Stadium der Sprachaneignung spricht die Mutter mit dem Kind und lenkt seine Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung (‚Nimm den Ball‘, ‚Hebe die Hand hoch‘, ‚Wo ist die Puppe?‘ usw.), und das Kind führt diese verbalen Anweisungen aus. In-dem die Mutter In-dem Kind die Anweisungen gibt, strukturiert sie seine Aufmerksamkeit um: Sie hebt den genannten Gegenstand vom allgemeinen Hintergrund ab, sie organisiert mit Hilfe ihrer Sprache die Bewegungsakte des Kindes. In diesem Fall ist der willkürliche Akt zwischen zwei Menschen geteilt: der Bewegungsakt des Kindes beginnt mit der Sprache der Mutter und endet mit der eigenen Bewegung [. . . ]. Erst in der folgenden Entwicklungsetappe eignet sich das Kind

die Sprache an und beginnt, sich selbst sprachliche Anweisungen zu geben, zuerst in entwickel-ter Form in der äußeren Sprache, dann verkürzt in der inneren Sprache.“ (Lurija 1982b, 133) Die sprachlich geleitete Orientierung hebt also von sinnlicher Orientierungsleistung an, ersetzt diese aber nicht vollständig, sondern überformt sie, bleibt immer mit sinnlicher Orientierung verbunden.

Die Entwicklung der zwei Seiten sprachlicher Orientierung, Orientierunginder Sache (Auf-gabe) und Orientierungauf ein Ziel (eine Aufgabe) zu sein, erlaubt, viel komplexere Zusammen-hänge und Regeln zu erfassen, als durch nichtsprachliches sinnliches Lernen beherrscht werden können. Das beginnt schon bei Zusammenhängen, die dem erwachsenen Menschen geradezu tri-vial erscheinen: Lurija beschreibt einen Intelligenzversuch, bei dem ein Köder in einer Reihe von Kästchen im Vergleich zur vorigen Situation immer fortlaufend in dem folgenden untergebracht wird. Tiere laufen jedes Mal zuerst zu dem Kästchen, wo der Köder das letzte Mal war und erst dann zum richtigen. „Im Unterschied hierzu ‚erfasste‘ bereits ein dreieinhalb- bis vierjähriges Kind leicht das Prinzip ‚der Nächste‘ und streckt schon nach einigen Versuchen die Hand nach der Büchse aus, die vorher nie bekräftigt worden war, die aber dem Prinzip der Wanderung des Köders an die nächsteStelle entspricht. Das Tier kann folglich in seinem Verhalten nicht über die Grenzen der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung hinausgehen und auf das abstrakte Prinzip reagieren, während sich der Mensch dieses abstrakte Prinzip leicht aneignet und nicht seiner an-schaulichen vergangenen Erfahrung entsprechend reagiert, sondern sein Verhalten nach diesem abstrakten Prinzip richtet. Der Mensch lebt nicht nur in der Welt der unmittelbaren Eindrücke, sondern auch in der Welt der abstrakten Begriffe, er sammelt nicht nur anschauliche Erfahrun-gen, sondern eignet sich auch die Summe der menschlichen Erfahrungen an, die in dem System der abstrakten Begriffe enthalten ist.“ (Lurija 1982b, 3f) Um bei dem beschriebenen Versuch auf Anhieb das richtige Kästchen zu treffen, verlangt eine komplexere geistige Operation, als nur das Kästchen vom vorangegangenen Mal wieder aufzusuchen, was auch schon Lernverhalten darstellt. Die zusätzliche Leistung ist die geistige Vorwegnahme des Misserfolgs bei Wiederho-lung am selben Kästchen und sofortige Orientierung der Bewegung auf ein dazu in bestimmter Relation (‚nächstes‘) stehendes. Zwar ist überhaupt nicht ausgemacht, dass diese Regel nicht auch ohne Sprache erlernbar ist. Doch die Analysierbarkeit, Fixierbarkeit und orientierende An-wendbarkeit in Sprache springt sofort ins Auge, sobald nur die Begriffe ‚dasselbe vom letzten Mal‘ und ‚das Nächste‘ verfügbar sind und erstens die Situation analysieren und zweitens die Orientierung für das Weitere synthetisieren. Die Komplexität lässt sich beliebig steigern und spätestens bei abstrakten Begriffen wird die sprachliche Vermittlung der geistigen Leistungen zur Notwendigkeit.

Ein Beleg für die handlungsleitende Bedeutung der Sprache sind die Beobachtungen, die Lu-rija und Judiwitsch in Die Funktion der Sprache in der geistigen Entwicklung des Kindes

be-schrieben haben. Sie verglichen die Tätigkeiten und das Spielverhalten eines aufgefundenen fünfjährigen Zwillingspaars, das zuvor mit keiner entwickelten Sprache in Berührung gekom-men war und unter sich nur einfachste idiosynkratische Kommunikation entwickelt hatte, zum Zeitpunkt seiner Entdeckung und zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem es einige Monate in eine Gruppe Gleichaltriger integriert worden war. „Wir haben jene Eigentümlichkeiten in der geistigen Organisation der Zwillinge beschrieben, die als ein integraler Bestandteil mit ihren elementaren sprachlichen Leistungen verknüpft waren. Als ihr Sprechen noch nicht von ihrem unmittelbaren Handeln abgesondert war, vermochte es kein Projekt sprachlich zu fixieren, ihren Handlungen keinerlei zielgerichtete Stetigkeit zu vermitteln und sie auch keinem bestimmten internalisierten Plan unterzuordnen. Daraus wird deutlich, dass sich die durch unser Experiment hervorgerufenen Fortschritte in den sprachlichen Leistungen der Zwillinge unweigerlich auch in der gesamten Struktur ihrer geistigen Prozesse widerspiegeln mussten. Als vom Tun losgelös-tes Sprechen in Erscheinung trat, das Gegenstände, Handlungen und Beziehungen bezeichnete, war zu erwarten, dass auch die Formulierung eines Systems von Verbindungen möglich wurde, welche die Grenzen der unmittelbaren Situation überschritten und das Handeln diesen sprachlich formulierten Verknüpfungen unterordneten. Man durfte erwarten, dass das auch zur Entwicklung komplexer Handlungsweisen führte und sich im Spiel als ‚die Entfaltung der Hauptsache‘ mani-festierte, die dem Spiel einen stetigen Charakter gäbe. Schließlich sollte man erwarten, dass eine

be-schrieben haben. Sie verglichen die Tätigkeiten und das Spielverhalten eines aufgefundenen fünfjährigen Zwillingspaars, das zuvor mit keiner entwickelten Sprache in Berührung gekom-men war und unter sich nur einfachste idiosynkratische Kommunikation entwickelt hatte, zum Zeitpunkt seiner Entdeckung und zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem es einige Monate in eine Gruppe Gleichaltriger integriert worden war. „Wir haben jene Eigentümlichkeiten in der geistigen Organisation der Zwillinge beschrieben, die als ein integraler Bestandteil mit ihren elementaren sprachlichen Leistungen verknüpft waren. Als ihr Sprechen noch nicht von ihrem unmittelbaren Handeln abgesondert war, vermochte es kein Projekt sprachlich zu fixieren, ihren Handlungen keinerlei zielgerichtete Stetigkeit zu vermitteln und sie auch keinem bestimmten internalisierten Plan unterzuordnen. Daraus wird deutlich, dass sich die durch unser Experiment hervorgerufenen Fortschritte in den sprachlichen Leistungen der Zwillinge unweigerlich auch in der gesamten Struktur ihrer geistigen Prozesse widerspiegeln mussten. Als vom Tun losgelös-tes Sprechen in Erscheinung trat, das Gegenstände, Handlungen und Beziehungen bezeichnete, war zu erwarten, dass auch die Formulierung eines Systems von Verbindungen möglich wurde, welche die Grenzen der unmittelbaren Situation überschritten und das Handeln diesen sprachlich formulierten Verknüpfungen unterordneten. Man durfte erwarten, dass das auch zur Entwicklung komplexer Handlungsweisen führte und sich im Spiel als ‚die Entfaltung der Hauptsache‘ mani-festierte, die dem Spiel einen stetigen Charakter gäbe. Schließlich sollte man erwarten, dass eine

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 125-133)