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Fragmente einer Theorie der Sprache

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 99-110)

Überzeugt, man könne einen strikten Gegensatz zwischen Beschreibung und Theorie festhalten, hat Wittgenstein seine Reflexionen über die Sprache nicht als Theoriebildung begriffen hat („Wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen.“ (PU 109)). Gleichwohl ging es ihm darum, das Funktionie-ren der Sprache durchsichtiger zu machen. Zu diesem Zweck hat er Begriffe eingeführt und entwickelt, die das Phänomen der Sprache auf eine neue Weise aufschließen halfen, und ver-schiedene Seiten an der Sprache hervorgehoben und zueinander in Beziehung gesetzt, einige jedoch kaum berührt. In diesem Kapitel soll der Versuch unternommen werden, das, was Witt-genstein ausgeführt und erarbeitet hat, als ein fragmentarisches Bild vor dem breiteren Horizont einer Gesellschaftstheorie der Sprache zu betrachten.

DiePhilosophischen Untersuchungenleitet Wittgenstein mit der Kritik eines sehr ausschnitt-artigen Bildes der Sprache ein. Für die Kritik seines eigenen Bildes lässt sich sein eigenes

Vor-23Dabei wäre erstens zu sehen, inwieweit diese Gewalt von der historischen Notwendigkeit der Beherrschung der eigenen Natur oder der innergesellschaftlichen Gewalt eines Herrschaftsverhältnisses abhängt, und zweitens wäre zu fragen, ob, wenn man sich wie Wittgenstein auf freies Vorstellen anderer Gesellschaften einlässt, ‚Abrichtung‘

nicht zur falschen Beschreibung des basalen Spracherwerbs werden kann in einer Gesellschaft, die sich technisch von den unmittelbaren Naturzwängen wesentlich emanzipiert hat.

gehen als Vorbild heranziehen. Er geht von einer Passage aus Augustinus’Bekenntnissen aus, stellvertretend, so kann man schließen, für eine verbreitete Vorstellung: „In diesen Worten er-halten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache.

Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen.“ (PU 1) Doch die Schwierigkeiten fangen schon bei den Zahlwörtern an, und Wittgenstein ist hier recht schnell bei einer Betrachtungsweise der Sprache, die den Ge-brauch der Wörter in der Praxis beschreibt, statt an jener Definition der Bedeutung festzuhalten:

„Nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter – ich nehme an, er weiß sie auswendig – bis zum Worte ‚fünf‘ und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade [. . . ] Was ist aber die Bedeutung des Wortes ‚fünf‘? – Von einer solchen war hier gar nicht die Rede; nur davon, wie das Wort ‚fünf‘ gebraucht wird.“ (ebd.) Nun verwirft Wittgenstein aber nicht jene Auffassung, deren Grenzen er so schnell hat vorführen können, sondern erklärt sie für richtig – in bestimm-ten Grenzen: „Augustinus beschreibt, könnbestimm-ten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muss man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: ‚Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?‘ Die Ant-wort ist dann: ‚Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.‘“ (PU 3) Diese Unterscheidung schlechter, übergeneralisierender, und guter, mit Bewusstsein über die richtigen Grenzen gegebener Beschreibungen ist wiederum die Voraussetzung für den nächsten methodischen Schritt: Man „ahnt [. . . ] vielleicht, inwiefern der allgemeine Begriff der Bedeutung der Worte das Funktionieren der Sprache mit einem Dunst umgibt, der das klare Sehen unmöglich macht. – Es zerstreut den Nebel, wenn wir die Erschei-nungen der Sprache an primitiven Arten ihrer Verwendung studieren, in denen man den Zweck und das Funktionieren der Wörter klar übersehen kann. Solche primitiven Formen der Sprache verwendet das Kind, wenn es sprechen lernt.“ (PU 5) Jener Nebel ist keiner, der im gewöhnlichen Sprachverkehr aufsteigt, sondern der aus mangelhaften Mitteln beim Versuch der Beschreibung der Sprache entsteht. Die Lösung dieser besonderen Aufgabe durch die Entwicklung jener Mit-tel ist sowenig Voraussetzung für den Gebrauch der gewöhnlichen Sprache wie (nach Hegels Analogie) die Kenntnis der Anatomie zum Verdauen. Der Zweck ist also, das Funktionieren der Sprache durchsichtig zu machen, und das Mittel dazu die Beschreibung einfacher Szenarien, die nicht die ganze Komplexität der wirklichen Sprache repräsentieren und damit als überschauba-rere Pole der Beschreibung fungieren sollen. Über diesen Zwischenschritt verläuft der methodi-sche Fortgang und die Entwicklung desjenigen Grundbegriffs, der die Worte und Sätze der Spra-che mit der Lebenspraxis zusammenschließt: „Ich will diese Spiele [mittels welSpra-cher Kinder ihre Muttersprache erlernen] ‚Sprachspiele‘ nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden.“ (PU 7) Daraufhin generalisiert Wittgenstein den Begriff ‚Sprach-spiel‘, um ihn im Weiteren auch auf die Komplexe der Erwachsenen-Sprache zu beziehen. Dabei

handelt es sich freilich nicht, oder nur ausnahmsweise, um Spiele im eigentlichen Sinne, auch wenn der Ernst in der Sprache, ihr Gepräge durch die Gewalt in der Menschheitsgeschichte und die Not in der Auseinandersetzung mit der Natur, von Wittgenstein nie eingeholt wird. Die Be-deutung der Spiel-Metapher ist, dass die Verschiedenartigkeit der Spiele, worin sie bestehen und in welche Bestandteile sie analysiert werden können, insbesondere ihr Zusammenhang mit Re-geln, sich als fruchtbar erweist, Sprache als geregelten Handlungszusammenhang durchsichtig zu machen. Hierbei lässt sich allerdings genau dieselbe Frage aufwerfen, die Wittgenstein sich angesichts Augustinus’ Sprachbeschreibung gestellt hat: Was sind die Grenzen dieser Metapher bzw. dieses Begriffs? Was an den Phänomenen der Sprache trifft sie und macht sie greifbar, was gerät in den Hintergrund oder wird ausgeblendet?

Einen Teil der Stärke der Metapher stellt für Wittgenstein die Breite der damit erfassten For-men dar. Gegen die Vorstellung, den Kern eines komplexen Begriffs der Alltagssprache per Definition fassen zu können, macht er den Einwand, dass Definitionen als nachträgliche Grenz-ziehung zu begreifen sind, die ihrerseits eine Vielzahl unterscheidbarer Phänomene zusammen-fassen, gleichzeitig aber auch Phänomene ausschließen, die gewöhnlich durchaus mit dem de-finierten Wort bezeichnet werden. Insbesondere werden in der Definition aber ebenso wenig wie im unmittelbaren Begriff selbst die mannigfaltigen Unterschiede seines Anwendungsfeldes sichtbar. Mithilfe der Metapher der Familienähnlichkeit zeichnet Wittgenstein ein anderes Bild vom Sinn-Zusammenhalt bzw. der semantischen Einheit der Wörter, die nicht in einem oder mehreren sich durchhaltenden Merkmalen besteht. Der der Sache äußerliche Zusammenhalt ist natürlich, dass derselbe Wortlaut (bzw. was in der Sprache dafür gilt) gebraucht wird. Das trifft allerdings auch auf Homonyme zu, um die es Wittgenstein nicht geht, da sie als verschiede-ne Wörter klassifiziert werden, deren Wortlaut zufällig übereinstimmt. Für sie ist spezifisch, dass ihre Anwendungsfelder weit auseinanderliegen, also nicht als voneinander abgeleitet emp-funden werden oder keine Phänomene existieren, die irgendwie als Zwischenglieder fungieren können, also Merkmale mit der einen Seite und andere Merkmale mit der anderen Seite ausrei-chend teilen, um als Übergang betrachtet zu werden. Ein Begriff wie ‚Spiel‘ dagegen bilde ein Netz solcher Übergänge, worin die verschiedenen Spiele mehr oder weniger große Ähnlichkei-ten aufweisen, „ein kompliziertes Netz von ÄhnlichkeiÄhnlichkei-ten“ (PU 66), die sich zu einer Familie zusammenfassen lassen, deren Extreme sich nicht ähneln müssen, um dennoch durch ähnliche Zwischenglieder miteinander verbunden sein zu können. Im Gegensatz zur Auffassung der ins-besondere hegelschen Tradition, die den Begriff wesentlich als Bestimmung und Bestimmung wesentlich als Negation fasst, findet sich hier eine Konzeption, nach der Gegensätze zwar auch wesentlich bedeutungskonstituierend sind („Wir sagen, wir gebrauchen den Befehl im Gegen-satz zu andern Sätzen, weil unsere Sprache die Möglichkeit dieser andern Sätze enthält.“ (PU 20)), aber die positive Mannigfaltigkeit der Begriffsinhalte ebenso wesentlich die Aggregation

von Ähnlichem ist. Um ein Wort zu lernen, muss man an Beispielen ebenso lernen, was damit bezeichnet wird, also wann und wie es zu gebrauchen ist, wie, was damit nicht bezeichnet wird, also welcher Gebrauch falsch ist. Wie ein Begriff im Gebrauch der Sprache vorliegt, hat er eine gewisse Bestimmtheit, die aber zugleich nicht in einer Definition durch Bestimmungen besteht.

„Man kann sagen, der Begriff ‚Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern.“ (PU 71) Wesentlich ist hieran, dass explizite Bestimmungen zwar eine Rolle spielen im Erfassen von Worten (und Wittgenstein räumt diesem Moment einen zu geringen Stellenwert ein, auch wenn er es im Begriff der Grammatik reflektiert), dass die Bestimmung von Worten aber darin nicht aufgeht. „‚Denken‘, ein weit verzweigter Begriff. Ein Begriff, der viele Lebensäußerungen in sich verbindet. Die Denkphänomene liegen weit auseinander. Wir sind auf die Aufgabe gar nicht gefasst, den Gebrauch des Wortes ‚denken‘, z.B., zu beschreiben. (Und warum sollten wir’s sein? Wozu ist so eine Beschreibung nütze?) Und die naive Vorstellung, die man sich von ihm macht, entspricht gar nicht der Wirklichkeit. Wir erwarten uns eine glatte, regelmäßige Kontur, und kriegen eine zerfetzte zu sehen. Hier könnte man wirklich sagen, wir hätten uns ein falsches Bild gemacht. [. . . ] Woher nehmen wir den Begriff ‚denken‘, den wir hier betrachten wollen? Aus der Alltagssprache. Was unsrer Aufmerksamkeit zuerst ihre Richtung gibt, ist das Wort ‚denken‘. Aber der Gebrauch dieses Worts ist verworren. [. . . ] Man lernt das Wort ‚den-ken‘, d.i. seinen Gebrauch, unter gewissen Umständen, die man aber nicht beschreiben lernt.

Aber ichkanneinen Menschen den Gebrauch des Worteslehren! Denn dazu ist ein Beschreiben jener Umstände nicht nötig. Ich lehre ihn eben das Wort unter bestimmten Umständen.“ (Z 110f, 113-16) Die Regeln, nach denen Worte der Alltagssprache mit Situationen verknüpft sind, sind vielfältig und unscharf. Ihr positiver Gehalt lässt sich nicht genau als Negation anderer Gehalte rekonstruieren, sondern auch die Regeln der Negation unterliegen denselben Bedingungen. Vor diesem Hintergrund ist das explizite Bestimmen von Begriffen durch andere zu betrachten. Das bedeutet nicht, dass die explizite Verknüpfung zwischen Begriffen keine Rolle spielen würde, schon im Spracherwerb selbst: Wittgenstein weist immer wieder auf den sinnvollen Gebrauch grammatischer Sätze zum Erklären von Wortbedeutungen hin. Außerdem werden zu verschie-densten Zwecken spontan oder wiederkehrend in Diskursen, vor allem aber in Theorien Begriffe näher bestimmt, um im Folgenden (und das heißt in einem eingegrenzten Kontext) exakteren Gebrauch davon zu machen. Nach Wittgenstein taugt jedoch erstens dieser scharfgestellte, be-grenzte Begriff nicht als ‚Erklärung‘ oder Ersatz des Alltagsbegriffs, der zweckgemäß seine Breite gerade deshalb angenommen hat, weil er sich unter all seinen verschiedenen Gebrauch-sumständen als funktional erwiesen hat. Die Alltagssprache ist in dieser Hinsicht nicht verbes-serungsbedürftig (in einer kritisch-politischen Perspektive ist dies natürlich kein hinreichendes Kriterium, die Sache kritiklos auf sich beruhen zu lassen). Zweitens geht dieser bestimmtere Begriff, der in seinem bestimmten Kontext in dieser Bedeutungseinschränkung und -schärfung

nützlich sein wird, nicht in der Synthese der gegebenen Bestimmungen auf, sondern es handelt sich um eine Modifizierung, man könnte auch sagen perspektivische Ausrichtung, des aus der Alltagssprache genommenen Begriffs. Zwar hat Wittgenstein recht, dass explizite Begriffsbe-stimmungen wesentliche implizite Voraussetzungen haben, seine Reflexion geht jedoch nicht sehr weit hinsichtlich der Frage nach der Rolle expliziter Bestimmungen im Sprachverkehr all-gemein und in spezifischen Sprachkontexten (also Theorien usw.) im Besonderen. Beides kann nebeneinander und sogar einander widersprechend in der Alltagssprache bestehen, also zum Beispiel die explizite Bestimmung des Denkens als notwendig an Sprache gebunden einerseits und die Prädikation des Denkens auf eine Tätigkeit, die nichts mit Sprache zu tun hat (etwa dem Lösen allerlei praktischer Probleme). Als Beschreibung des Worts ‚Denken‘ ist die Bestimmung allerdings falsch; als Kern einer Theorie des Denkens schließt sie allerlei Phänomene aus, die mit guten Gründen als Denken bezeichnet werden können. Und dennoch kann sie eine nützliche Brücke zwischen verschiedenen Begriffen, Knotenpunkten der Sprache, darstellen, eben einen bedeutenden Ausschnitt der ‚Denkphänomene‘ betreffend.

Der Begriff ‚Sprachspiel‘ ist also von Wittgenstein nicht definitorisch eingeführt, sondern als Übertragung der passenden Elemente der Grammatik von ‚Spiel‘ (dasselbe und ein anderes Spiel spielen, Spielzug, Spielregeln. . . ) auf halbwegs isolierbare, in sich zusammenhängende Bestandteile der Sprachpraxis und unter Vorführung von Anwendungsbeispielen des neuen Be-griffs. Wie die Spiele bilden auch die Sprachspiele eine Familie. Wittgenstein setzt nicht auf die Angabe allgemeiner Merkmale, sondern auf die Bewusstmachung der Vielfalt der Sprach-praxis. Dennoch bestimmt sich aus grammatischen Bemerkungen, aus konkreten Anwendungen und aus anknüpfenden Fragestellungen, welche Grundzüge Sprachspiele aufweisen bzw. wie sie sich analysieren lassen. Ein Grundzug ist das Regelhafte, die Wiederholung von Vorgängen und Handlungen, die Praxis, vor deren Hintergrund sich erst das Regellose bestimmen lässt:

„Wie könnte man die menschliche Handlungsweise beschreiben? Doch nur, insofern man die Handlungen der verschiedenen Menschen, wie sie durcheinanderwimmeln, schilderte. Nicht, was Einer jetzt tut, sondern das ganze Gewimmel der menschlichen Handlungen, der Hinter-grund, worauf wir jede Handlung sehen, bestimmt unser Urteil, unsere Begriffe und Reaktionen.

Wenn das Leben ein Teppich wäre, so ist dies Muster (der Verstellung z.B.) nicht immer voll-ständig, und vielfach variiert. Aber wir, in unserer Begriffswelt, sehen immer wieder das Glei-che mit Variationen wiederkehren. So fassen’s unsere Begriffe auf. Die Begriffe sind ja nicht für einmaligen Gebrauch.“ (Z 567f) Das Wiederkehrende ist also Konstitutionsbedingung für sprachliche Bedeutung. Die Kehrseite dieser Bestimmung ist bei Wittgenstein, dass er die geis-tige Arbeit in Anwendung der Begriffswerkzeuge nicht recht in den Blick bekommt, auch wenn er den Unterschied zwischen denkendem und quasi mechanischem Reden macht. Sprachspiele betrachtet er auf ihre Invarianten, gewissermaßen ihre allgemeinen Spielregeln hin, nicht auf die

Schwierigkeiten, Improvisationen, Strategien im Einzelfall. „Ein Sprachspiel [ist] etwas [. . . ], was in wiederholten Spielhandlungen in der Zeit besteht“ (ÜG 519), es ist ein Regelkomplex, der Sätze und nichtsprachliche Handlungen organisiert.

Die Stärke dieses Begriffs liegt darin, Sprache als Handlungen eingebettet in Handlungskon-texte analysieren zu können, also die Sprache von einem Punkt aus, an dem sie noch als Tun und Bewirken durchsichtig ist, aufzurollen, statt von einem Blickpunkt, der sie der Welt als ihr Anderes gegenüberstellt und ihre Beziehung als Abbildung konstruieren muss. Die kleinsten Spracheinheiten sind nicht Sätze, sondern Sprachspiele, als deren Spielzüge sie fungieren. Witt-gensteins Lehre, dass das Fundament der Sprache eine relativ weitgehende Übereinstimmung in den Regeln ihres Gebrauchs ist, erlaubt es, seine dem Anschein entgegenstehende Auffassung der Bedeutungsbildung plausibel zu machen. Demnach ergibt sich die Bedeutung eines Satzes nicht aus der Synthese der Bedeutungen seiner Wörter. Umgekehrt erlaubt der eingespielte, be-kannte Gebrauch eines Satzes die Ersetzung oder Variation einzelner Teile (Wörter), soweit sich der Gebrauch analogisieren lässt. Da sich am Ende alle einzelnen Teile substituieren lassen, er-scheint der Satz als zusammengesetzt aus den Wörtern, während sich die Bedeutung der Sätze aus ihrem Gebrauch speist und die der Wörter sich daher in Abhängigkeit von den Sätzen er-gibt, in denen sie vorkommen können. Ähnlich verhält es sich mit dem Verhältnis von Sätzen zu Sprachspielen.24 Wittgenstein kreidet es ‚der Philosophie‘ nicht nur an, Sätze aufzustellen und für wichtig zu nehmen, zu denen sie keine normale Anwendung angeben kann, sondern auch, Sätze mit normaler Anwendung aus allen Gebrauchskontexten herauszulösen und eine Bedeu-tung des Satzes an sich zu unterstellen. Stattdessen sind es die Sprachspiele des Alltagslebens, aus denen Sätze (auch in ungewohnten, neuen Situationen) ihre Anwendung ziehen, als Spiel-zug. Z.B. die Gewissheit von Sätzen als Sprachspiel betrachtet (gegen ihr Wörtlichnehmen durch Abstraktion aus diesem Sprachspiel): „‚Ich kann mich [darin nicht irren]‘ weist meiner Behaup-tung ihren Platz im Spiel an. Aber es bezieht sich wesentlich aufmich, nicht auf das Spiel im allgemeinen. Wenn ich mich in meiner Behauptung irre, so nimmt das dem Sprachspiel nicht seinen Nutzen. ‚Ich kann mich darin nicht irren‘ ist ein gewöhnlicher Satz, der dazu dient, den Gewissheitswert einer Aussage anzugeben. Und nur in seinem alltäglichen Gebrauch ist er be-rechtigt.“ (ÜG 637f.) Sätze, die irgendwo in der Sprache einen Gebrauch haben, können darum nicht regellos und beliebig zusammengefügt werden, ohne sinnlos zu werden. Ihre Verständlich-keit ist durch ihren Zusammenhang innerhalb eines Sprachspiels bedingt (und selbstverständlich gibt es auch für den Gebrauch von Sprachspielen wiederum situative Bedingungen).

24An diesem Punkt äußert sich eine fundamentale Differenz zu Quines Sprachtheorie (Quine 1993). Während letzte-rer die Worte zwar der Satzeinheit unterordnet, so dass die Sprachentwicklung nicht die von Wortäußerungen zu Sätzen, sondern von Einwortsätzen zu komplexen Sätzen ist, abstrahiert er von der Einbettung der Sätze in grö-ßere geregelte interaktive Bedeutungs-Handlungs-Komplexe, die Sprachspiele, die überhaupt erst einen Kontroll-und Zweckrahmen für Aussagensätze Kontroll-und ihre Brauchbarkeit konstituieren.

Allerdings ergeben sich aus dem Begriff des Sprachspiels allerlei Probleme, wenn es an die Erfassung wirklicher Sprache geht. Was ist als ein Sprachspiel zu zählen, was als ein anderes?

Wenn sich Sprachspiele identifizieren lassen, wie greifen sie ineinander, wie gehen sie ineinan-der über? Wie bauen sie aufeinanineinan-der auf? Und besonineinan-ders: Ist es noch sinnvoll, komplexe Text-produktion oder gar Diskurse als Sprachspiele zu fassen? Es scheint, dass der Sprachspielbegriff zu unspezifisch wird, wenn man ihn in diesem Maße ausdehnen würde. Dass Wittgenstein sich nie mit Spracheinheiten größeren Ausmaßes beschäftigt hat, nicht analysiert, wie Texte funktio-nieren, bestätigt das, zeigt aber auch die Grenzen des Sprachspielkonzepts auf, während Witt-genstein zumindest in Kauf nimmt, den Eindruck zu erwecken, damit den ganzen Umfang der Sprache erfassen zu können. Dies ist immerhin auch durch die etwas hilflose Bemerkung beför-dert, dass er auch das Ganze der Sprache als das Sprachspiel bezeichnet wissen möchte. Dieser Totalisierung werden seine Analysen bei weitem nicht gerecht.

Es hilft zudem nichts, einfache Sprachspiele zu Polen einer Beschreibung statt zu Bausteinen einer Theorie zu erklären. Wenn die Behauptung ist: So, wie in diesen überschaubaren Zusam-menhängen, verhalte es sich auch in der wirklichen Sprache, nur komplexer, dann ist darum doch die Komplexität noch nicht durchschaut oder beschrieben. Recht betrachtet scheint aber das Aufschließen der Sprachphänomene über den Sprachspielbegriff eher einseitig als nur in begrenztem Umfang ausgeführt zu sein. Wer die „Sprache so beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an“ (PU 1) knappe Sätze, einfache Interaktionen und isolierte Begriffe, „erst in zweiter Linie“ (ebd.) an breitere intrinsische Zusammenhänge zwischen Sätzen oder Satz-konglomerate, und an Bücher, Debatten und Diskurse „als etwas, was sich finden wird.“ (ebd.) Wenn Wittgenstein stark darin ist zu zeigen, wie sich die Bedeutung quasi-objektiv in einer Spre-chergemeinschaft verfestigt und sich der Willkür der Einzelnen entzieht, so verfehlt er doch, die Vermittlung auch der praktischsten, alltäglichsten und unmittelbarsten Sprachspiele mit größe-ren Diskursbewegungen zu erfassen, geschweige denn mit den materiellen und strukturellen Veränderungen der Gesellschaft. Die in Wittgensteins Behandlung der Sprache implizite Vor-stellung einer Sprechergemeinschaft ist ideologisch, insofern sie die Distribution der Sprache auf die Sprecher und ihre ungleichförmige Partizipation an ihrer Gestaltung nicht thematisiert, überhaupt von ihrem Zusammenhang mit Machtausübung und Herrschaft abstrahiert auf Kos-ten der Möglichkeit, konkrete Sprache in ihren wirklichen (d.h. vor allem auf sie wirkenden) gesellschaftlichen Beziehungen zu ergreifen.

Hierzu wäre es nötig, den Werkzzeugcharakter von Wörtern nicht nur zu benennen, sondern auch zu analysieren, was konkrete Sprachspiele wirklich leisten, also auch was die Sprache

‚arbeitet‘, wenn sie nicht ‚feiert‘. Hier mag doch die Analogie mit dem Spiel zu ernst genom-men worden sein, wenn so wenig nach den Zwecken gefragt wird, die mit dem Gebrauch der Sprache verknüpft werden. Das gilt, selbst wenn das Erlernen der Regeln Bedingung dafür ist,

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 99-110)