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Vier Seiten der Sprache im Allgemeinen

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 113-117)

Im Folgenden sollen vier Dimensionen der Sprache unterschieden werden, deren analytische Trennung helfen soll, die Materialität und den Mittelcharakter der Sprache zu ordnen. Diese vier Dimensionen werden hier zunächst in komprimierter Form nebeneinander gestellt unter Voraus-setzung einiger Reflexionen, die erst später eingeholt werden. Man kann sie als erstens inneres (reflexives), zweitens äußeres Verhältnis der Sprache benutzenden Individuen, als drittens in-nere (grammatische) und viertens äußere (gesellschaftliche) Struktur der Sprache bezeichnen.

Die ersten beiden werden in diesem Kapitel behandelt, die innere Struktur in Kapitel 4 und die gesellschaftliche Dimension in Kapitel 5.

Sprache ist ein durch und durch gesellschaftliches Phänomen. Zwar hat sie biologische

Be-dingungen, doch kein Mensch kommt mit Sprache auf die Welt. Sprechen muss erlernt wer-den. Wie Menschen ihren eigenen Körper bearbeiten, indem sie äußere Dinge bearbeiten, und zwar in spezifischer Weise nach Art der Arbeit spezifische Partien ihres Körpers ausbilden, so ist der Erwerb der Sprache nicht nur ihre Inkorporation, sondern gestaltet mit ihrem Gebrauch in der Welt auch das Selbstverhältnis um. Hier geht es also um ein Selbstverhältnis im Sinne der Entwicklung subjektiver Handlungskontrolle durch Erweiterung der psychischen Mittel im Sinne Wygotskis in der Aneignung der Sprache. Auch wenn diese Seite analytisch als erstes aufgeführt wird, ist dabei zu bedenken, dass sich dieses Selbstverhältnis nur aus dem permanen-ten praktischen Umgang mit den Menschen und Dingen der Umwelt heraus entwickelt, also in keiner Weise etwas Vorgängiges oder Subjektivität Bedingendes bedeutet. Das Umgekehrte ist richtig: Bevor Sprache zum subjektiven Mittel der Reflexion und Selbststeuerung wird, muss die Psyche, praktische Intelligenz und sprachliche Kommunikation vermittels des sozialen Verkehrs schon einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben. Sprache wird also durch ihren Erwerb für den menschlichen Organismus zu einer Art handlungsbefähigendem und handlungsleiten-dem Organ. Durch die Aneignung der Sprache entstehen und erweitern sich Selbststeuerung und Reflexionsvermögen, Planungsvermögen und die Fähigkeit, Zwecke zu setzen, festzuhalten und zu verfolgen. Hier wird Sprache zum Mittel der Selbstkontrolle, um nicht zu sagen Selbstbe-stimmung (oder zumindest zu deren notwendiger Bedingung, wenn SelbstbeSelbstbe-stimmung im vollen gesellschaftlichen Sinn verstanden wird).

Dieses Selbstverhältnis entwickelt sich nicht aus sich heraus, sondern als und infolge der Be-ziehung des Individuums zu seiner Welt, den Dingen und Menschen, insbesondere denen, die es aktiv in diese Beziehungen bzw. diese Praxis einführen. Welches sind die über und in Sprache angeeigneten Fähigkeiten, die im praktischen Verhältnis zur Welt Unterschiede ausmachen? Mit Hilfe der Sprache kann sich das Individuum sein Handlungsfeld und Situationen aufschließen, ordnen, antizipieren und sich darin orientieren, seine Praxis und komplexe Tätigkeiten organi-sieren und sich mit anderen Menschen koordinieren. Das in Sprache repräsentierte Wissen ist ein Mittel zur Umweltkontrolle, der in Zeichen vergegenständlichte Bezug auf die Welt ein Mittel, sich mit anderen ins Benehmen zu setzen. Sprache fungiert wie das gegenständliche Mittel als Leiter auf den Gegenstand. Sie geht in das aktive Verhältnis des Individuums zu seiner Welt als befähigend ein, selbst, wo nicht unmittelbar sprachliche Äußerungen im Spiel sind. Dies wird durch die noch darzustellende These der Kulturhistorischen Schule von der Verinnerlichung der Sprache als Denkmittel eingefangen. Die Grenze zwischen der ersten und zweiten Seite ist schwer zu ziehen, weil sich allgemeine Phänomene mit besonderen überschneiden. Zuerst ist festzuhalten, dass Sprache, wenn sie nicht nur nachträgliche Repräsentation der Wirklichkeit ist, sondern eine zentrale Stellung im Dispositivgefüge der gesellschaftlichen Menschen einnimmt, als besonderes Mittel menschlicher Handlungsfähigkeiten zu analysieren ist. Dem entspricht

die Frage, was Menschen erst durch und mit Sprache tun können. Die Tätigkeit von Kindern ist nicht von vornherein sprachlich geleitet, in der Aneignung der Sprache im Verkehr mit den Men-schen, von denen das Kind über eine lange Entwicklungsphase stark abhängig bleibt, setzt aber zunehmend eine sprachliche Vermittlung oder Leitung der Tätigkeit ein. Dabei nimmt die Länge und Komplexität der vom Individuum selbst geleiteten und bestimmten Tätigkeitsabschnitte im Laufe der Entwicklung zu. D.h. recht allgemein kann man von einer relativen Verselbständigung der Handlungssteuerung, also die Verlagerung ihrer Bestimmung in das handelnde Individuum selbst sprechen. In einem gesellschaftlichen Sinne von Selbstbestimmung gilt das jedoch nicht allgemein. Die Gesamttätigkeit des Sklaven ist tatsächlich dem Willen des Sklavenbesitzers un-terworfen, auch wenn dieser unter Umständen ein Interesse an einer relativen Selbstverantwor-tung seines Unterworfenen hat; das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist dagegen tatsäch-lich auf Gedeih oder Verderb der individuellen Selbstbestimmung hinsichttatsäch-lich seines Eigentums und seiner Arbeitskraft überantwortet.

Sprache hat ihre manifeste Gestalt in Worten und ihren Verbindungen. Darin, also in dem, was Wittgenstein im weiteren Sinn Grammatik nennt, hat sie eine innere Struktur, denn es han-delt sich nur um bestimmte Wortverbindungen und Satzfolgen, die zugelassen bzw. mit Sinn besetzt sind, während andere ausgeschlossen werden. Sie unterliegen Regeln. Wenn nun die er-wähnten handlungsbefähigenden Effekte durch den Spracherwerb vermittelt sind, muss das mit der inneren Struktur der Sprache, ihrer Bestimmtheit, in Beziehung stehen. Durch sie lassen sich komplexe Zusammenhänge und Situationen reduzieren. Die Reduktion auf Wortverbindun-gen erlaubt ein Kalkulieren, einen denkenden und antizipierenden Umgang damit. Begriffe und Sätze, also Ensembles von vorgeprägten Wortverbindungen und Satzübergängen, sind konkre-te Denkmitkonkre-tel eben dadurch, dass sie erskonkre-tens darin eine bestimmkonkre-te Festigkeit, oder man könnkonkre-te auch sagen: Bestimmtheit erreicht haben und zweitens mit dem (körperlich-praktischen) Agieren zusammengeschlossen sind. Sie leiten über zu anderen Begriffen, zu Einstellungen, zu prakti-schen Schlüssen. Damit ist das Problem gestellt, wie das Operieren mit diesen Artefakten, den sprachlichen Zeichen, mit der Handlungsbefähigung durch Sprache konkret verbunden ist.

Die vierte Seite ist die gesellschaftliche Dimension der Sprache. Aneignung der Sprache heißt vor allem auch Übernahme der Sprachstrukturen und mithin der damit verbundenen gegenständ-lichen Praxis, die schon im Umlauf sind. Aber sie werden permanent im Lauf des Lebens modi-fiziert, es werden eigene Erfahrungen eingeschrieben, es wird aber auch durch Kommunikation neues Wissen, andere Auffassungen von Gegenständen und neue Denkmittel aufgenommen. Da-her ist die Produktion von Sprache nicht nur Reproduktion. Sie wird selbst zum Gegenstand von (geistiger) Arbeit und politisches Mittel. In der gesellschaftlichen Dimension lässt sich noch mehr zusammenfassen: die ganze gesellschaftliche und materielle Struktur der Sprache, wozu ihre soziale Verteilung gehört, die Mittel ihrer Reproduktion und Distribution, Medien und deren

materiellen Grundlagen, die Organisation der Weitergabe von Sprachfertigkeiten und Sprachmit-teln in Schule und Familie, überhaupt die Frage, welche Bereiche der Sprache wie mit welchen gesellschaftlichen Räumen verschränkt sind.

Nicht nur, in welcher Hinsicht Sprache als Mittel betrachtet werden kann, sondern auch, was dabei Materialismus bedeutet, unterscheidet sich nach den verschiedenen Seiten der Sprache. An der ersten Seite hängt ein materialistischer Begriff des Selbstbezugs von Subjekten, materialis-tisch in doppelter Hinsicht: durch Klärung der biologischen und gattungsgeschichtlichen Bedin-gungen der Sprache einerseits und durch ontogenetische Erklärung über praktische Aneignung von sprachlichen Mitteln der Objektivierung und Handlungsorganisation, die dem Refexivwer-den vorausgeht. Dieser Punkt ist in der Kulturhistorischen Schule der russischen Psychologie theoretisch entwickelt und empirisch untersucht worden, vor allem von Wygotski und Lurija.

Der erste Punkt geht auf Leontjew zurück und wurde in der Kritischen Psychologie weiterver-folgt.

Die zweite Seite, die nur analytisch von der ersten zu trennen ist, wurde auch in der Kul-turhistorischen Schule schon eingeführt und auch partiell in der Kritischen Psychologie wieder aufgenommen. Sprache ist dabei bestimmt als Mittel der Arbeit, des Handelns und des Zurecht-kommens in der Welt. Damit werden zwei verbreitete Auffassungen der Sprache unterlaufen bzw. von einem tieferen Standpunkt aus reformulierbar: Statt dass Sprache auf Repräsentation der Welt reduziert wird, wird Repräsentation zu einem Teilmoment der Sprache als materiel-les Repräsentationsmittel zur praktischen Lebensbewältigung; außerdem kann man dadurch der möglichen Vielfalt an Weltauffassungen, die sich in Sprache einschreiben und sie durchdringen, gerecht werden, ohne sie theoretisch einer Beliebigkeit preiszugeben, die den Zusammenhang mit Naturbeherrschung und rationalen Elementen der Lebensorganisation nicht mehr nachvoll-zieht und infolgedessen einem freischwebenden Kulturrelativismus verfällt.

Leider sind jene Traditionen marxistischer Psychologie dem Zusammenhang zwischen Hand-lungsermächtigung und der inneren Struktur der Sprache nicht besonders weit nachgegangen.

Mit dieser haben sich Linguistik und Diskursanalyse beschäftigt, zum Teil die Sprache in ihrer Wechselwirkung mit sozialer Praxis analysierend. Dennoch fällt in der Regel eines über Bord, entweder dass sie Erkenntnis- und Denkmittel oder dass sie ein Mittel zur Organisation der Ge-sellschaft und menschlichen Beziehungen ist. Wie das Operieren mit Begriffen und Sätzen mit beidem zu tun hat, ist eine äußerst komplexe Frage. Ein Ansatz einer materialistischen Ant-wort, die den Erwerb des Operierenkönnens mit konkreten Sprachfeldern und Diskursen bzw.

dieses Operieren selbst als handlungsermöglichend bzw. -vermittelnd auffasst, muss wenigstens angedeutet werden. Wittgenstein, auch wenn er nie bis auf den Punkt der gesellschaftlichen Na-turbeherrschung zurückgeht, hat hierfür mit seiner Grammatikauffassung nützliche Gedanken entwickelt.

Die Frage nach der gesellschaftlichen Struktur der Sprache ist ein großes Feld, in dem von der Geschichte nicht so stark abstrahiert werden kann wie bei den anderen Seiten der Sprache.

Materialismus bedeutet dabei nicht nur die Frage nach der gegenständlichen Vermittlung der Sprachproduktion und -zirkulation, der technischen Basis und der gesellschaftlichen Verteilung dieser Mittel, sondern vor allem Materialismus im Sinne der materialistischen Geschichtsauffas-sung: Produktionsweise und Verkehrsformen als Ausgangspunkt der Gesellschaftsanalyse und auf dieser Grundlage gesellschaftlicher Lebensbedingungen auch die Einbeziehung von Lebens-weise, Kultur und politischer Bewegungen als an die Sprache Anforderungen stellende Praxis-räume und die Sprache formierende Instanzen. Ein wichtiger in diesem Sinne materialistischer Versuch, Sprache als Bestandteil und Vermittlung gesellschaftlicher Prozesse und in ihrer poli-tischen Bedeutung zu erfassen, stellt Gramscis Verkettung der Sprache mit der Produktion von Weltauffassungen, Kultur und Hegemonie im Rahmen ihrer ökonomischen Bedingungen dar.

Erst eine solche Perspektive, in der Sprachanalyse zu einem integralen Glied materialistischer Gesellschaftsanalyse wird, rückt die Analyse von Diskursformationen und ihrer Wechselwir-kung mit gesellschaftlicher Praxis, wie sie in diskursanalytischen Ansätzen entwickelt wurde, ins richtige Maß. Die Schwierigkeit dabei ist, die allgemeinen Kategorien, die gesellschaftliche Praxis, Erkenntnis und Handeln organisierenden und ermöglichenden Eigenschaften der Sprache ins Verhältnis zu setzen zu den konkreten vorfindlichen historisch bestimmenden Sprachforma-tionen.

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