• Keine Ergebnisse gefunden

Verständige Abstraktion und historische Kategorien

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 37-42)

1.1 Eine materialistische Geschichtsauffassung

1.1.5 Verständige Abstraktion und historische Kategorien

Auf Marx’ Verständnis der geistigen Aneignung der Welt in wissenschaftlicher, d.h. begrifflicher Form, die er von einer „künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung“ (Marx 1953, 22) unterscheidet, ist noch näher einzugehen, da sich von da aus bestimmte Grundprobleme ei-ner marxistischen Sprachtheorie entwickeln lassen. Die Einleitung in die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie ist nicht das letzte Wort von Marx zu methodischen Fragen, aber seine einzige, allerdings nicht veröffentlichte, Abhandlung zu dem Thema. Gegenstand ist die Metho-de Metho-der begrifflichen Rekonstruktion von Ökonomie als historische Systeme. Die Auffassung, dass Ökonomie als materieller Reproduktionszusammenhang einer Gesellschaft die Grundlage für alle übrigen Gestaltungen ist, setzt diese auch ins Zentrum historischer Analyse, und zwar in der besonderen Form ihrer „bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe“ (Marx 1953, 6).

Der Grund dafür ist, dass die Reproduktionssysteme tatsächlich verschieden sind je nach Veror-tung im „geschichtlichen Entwicklungsprozess“ (Marx 1953, 7) bzw. für verschiedene Epochen zum Teil verschiedene Kategorien nötig sind, um den jeweiligen Zusammenhang theoretisch zu reproduzieren; manche Kategorien halten sich aber auch durch: „Die Produktion im Allgemei-nen ist eine Abstraktion, aber eine verständige Abstraktion, sofern sie wirklich das Gemeinsame hervorhebt, fixiert, und uns daher die Wiederholung erspart. Indes dies Allgemeine, oder das durch Vergleichung herausgesonderte Gemeinsame, ist selbst ein vielfach Gegliedertes, in ver-schiedene Bestimmungen auseinanderfahrendes. Einiges davon gehört allen Epochen; andres einigen gemeinsam.“ (ebd.) Dieser Gedanke muss besonders hervorgehoben werden, da hier auf der Ebene der Reflexion der Theoriebildung selbst, gewissermaßen begriffskritisch, das Verhält-nis von durchgehenden, allgemeinen Kategorien und solchen, die nur einer besonderen Epoche zugehören, verhandelt wird. Die „verständige Abstraktion“ erfasst wirklich etwas, aber nichts Wirkliches in dem Sinne, dass sie ein Konkretes erfassen würde, denn sie fasst nur aus dem historischen Zusammenhang Gerissenes zusammen. Die Epochen sind dadurch bestimmt, dass zwischen ihren ökonomischen Formen wesentliche Unterschiede bestehen, die aber nun natur-gemäß nicht in einer jener allgemeinen Bestimmungen liegen. Diese „müssen gerade gesondert

werden, damit über der Einheit [. . . ] die wesentliche Verschiedenheit nicht vergessen wird.“

(ebd.) Ein üblicher Fehler beruht auf einer mangelhaften Reflexion dieser Unterscheidung und besteht darin, im Sog jener transhistorisch gültigen Kategorien auch historisch beschränkte – über ihr ebenso historisch beschränktes Verhältnis zu jenen – allgemein zu setzen, d.h. sie auch in Zusammenhängen zu verwenden, für die sie nicht ‚gemacht‘ sind, für deren Beschreibung sie also über interpretatorische Verrenkungen ‚zurecht gemacht‘ werden müssen. Ein naheliegendes Beispiel ist der Kapitalbegriff, indem er, statt als Kapitalverhältnis bestimmt zu werden, von den

„modernen Ökonomen“ (ebd.) mit einer seiner besonderen Formen identifiziert wird, nämlich

„unter anderem auch Produktionsinstrument“ (ebd.) zu sein, wodurch aus ,Kapital’ ein „allge-meines, ewiges Naturverhältnis“ (ebd.) gemacht werde. Auf diese Weise gelangt man auch zu dem, was man philosophische ‚Theorien‘ nennen könnte: Das allgemeine Beziehen von Kate-gorien aufeinander, die man von ihrem historischen Boden abgelöst hat. Da aber die Darstellung der Wirklichkeit, d.h. eben der geschichtlichen Wirklichkeit, tatsächlich auf eine Menge von epochenspezifischen Kategorien angewiesen ist, müssen die Zusammenhänge, die allein zwi-schen den übergreifenden, den verständigen Abstraktionen, hergestellt werden können, recht flach bleiben oder zu ahistorischem Unsinn resp. historischem Irrtum führen: „Es gibt allen Pro-duktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden; aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind nichts als diese abstrakten Mo-mente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist.“ (Marx 1953, 10)

Eine die Geschichte verfehlende starre Konstruktion aus Allgemeinbegriffen zu konstru-ieren ist auch eine zentrale Kritik E.P. Thompsons an Althussers strukturalistischer Marx-Interpretation, aber ausgerechnet in den Grundrissen sieht er dieses Denken auch bei Marx selbst am Werk: „There is an important sense in which the movement of Marx’s thought, in theGrundrisse, is locked inside astatic,anti-historical structure. [. . . ] This is an extraordina-ry mode of thought to find in a materialist, for capital has become Idea, which unfolds itself in history. We remember so well Marx’s imprecations against idealism, and his claims to have inverted Hegel, that we do not allow ourselves to see what is patently there. In theGrundrisse – and not once or twice, but in the whole mode of presentation – we have examples of unre-constructed Hegelianism.“ (Thompson 1978, 61) Er erkennt nicht, dass die Einleitung erstens eine wirkliche Hegelkritik – und nicht nur eine der Phrase – beinhaltet und zweitens ein Ge-schichtsverständnis exponiert, das weder mit dem früherenElend der Philosophienoch mit dem späterenKapital im Widerspruch steht. Beide führt Thompson als den ‚guten‘, d.h. historisch und empirisch orientierten Marx an.

Was diesen zweiten Punkt betrifft, so erkennt Thompson sowohl den Sinn einer

Heraushe-bung ökonomischer Verhältnisse an21als auch ihren systemischen Charakter22und beruft sich schließlich auf Marx’ Auseinandersetzung mit Proudhon, um über eine solche ökonomische Analyse hinaus die konkrete historische Forschung stark zu machen: „Proudhon has dislocated the ‚limbs‘ of the social system, and given these as separate ‚societies‘ – production, exchange, a monetary system, distribution – following one upon the other in a logical, categorical sequence.

We have to reconstitute these limbs, and see them as acting together. But how are we to do this, unless with ‚real history‘, the history in which these relations were engendered? When we do this, we return once again to the point of origin of the economists’ material, ‚the active, energetic life of man‘.“ (Thompson 1978, 121) Damit macht Thompson die politische Ökonomie zu einer Hilfswissenschaft für die Historiographie statt zur Anatomie der Gesellschaft, d.i. eine Theorie, mithilfe derer sich historische Entwicklungen erklärenlassen und die wesentliche Grundzüge einer Epoche, nämlich die ihrer materiellen Produktion und Reproduktion, systematisch dar-stellt. Epochen haben gerade die Bedeutung, eine in ihren wesentlichen Zügen durchgängige ökonomische Reproduktionsform zu besitzen, was eine kontinuierliche Transformation der öko-nomischen Verhältnisse nicht ausschließt, aber besagt, dass sich ihre Beschreibung in einem bestimmten kategoriellen Rahmen bewegt; gerade darum ist eine solche Abstraktion möglich, wie sie dem Kapital zugrunde liegt. Die Kritik der politischen Ökonomie sagt im Gegensatz zu ,philosophischen Theorien’ etwas Wirkliches über historische Verhältnisse aus, aber wieder-um im Gegensatz zu konkreterer, zusätzliche gesellschaftliche Zusammenhänge einbeziehen-der Geschichtsschreibung auf hoher Abstraktionsstufe. Dahin gelangt man (nach Marx) gerade nicht über eine Idee, „which unfolds itself in history“, da „die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst. [. . . ] Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn [. . . ] Auch bei der theoretischen Methode daher muss das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.“ (Marx 1953, 22) Der Zweck, die Ökonomie einer Epoche zu theoretisieren, besteht bei Marx nicht inerster Linie darin, ein Mittel an der Hand zu haben, die Geschichte im Einzelnen besser beschreiben oder erklären zu können, son-dern die theoretische Kritik einer ganzen Gesellschaftsformation. Dabei steht selbstverständlich ihr innerer Zusammenhang im Vordergrund. Dieser Zusammenhang ist kein durch äußere Re-flexion, vermittels Analogiebildung hergestellter, sondern ein wirklicher, wirkender, da der

Ge-21„Even if we decide, for legitimate reasons, to isolate certain activities for distinct analysis – as we may do with modes of production or economic process – we do not allow ourselves to be deluded by our own procedures into supposing these systems to be distinct. It means that in such procedures we employ especial care whenever we come to those ‚junction-terms‘, which lie at the point of junction between analytic disciplines“ (Thompson 1978, 110).

22„All the relations (and categories) coexist and presuppose each other. We must take these together as one set“

(Thompson 1978, 120).

genstand eine gesellschaftliche Reproduktionsform ist. Ihre historischen Voraussetzungen und Schranken zu bestimmen, macht einen wesentlichen Teil ihrer historischen Kritik aus. Dass Marx Zeit seines Lebens davon überzeugt war, dass und wodurch und in welche Richtung die kapitalistische Gesellschaftsformation aufgehoben werden würde, dass er diese Vorstellungen zum Teil in bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen seiner Zeit hineingelesen hat und dass die wirkliche Geschichte diese Vorstellungen ‚kritisiert‘ hat, darf nicht mit seiner wissenschaft-lichen Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft selbst verwechselt werden.

Diese Kritik ruht auf der Analyse der Beschränktheit, der historischen Besonderheit einer Ge-sellschaft, und zwar gegen eine hergebrachte Weise, Geschichte aufzufassen: „Die sogenannte historische Entwicklung beruht überhaupt darauf, dass die letzte Form die vergangenen als Stu-fen zu sich selbst betrachtet, und, da sie selten [. . . ] fähig ist, sich selbst zu kritisieren [. . . ], sie immer einseitig auffasst.“ (Marx 1953, 26) Die Vergangenheit als Stufen hin zur Gegenwart zu betrachten, hieße, ein sie zusammenschließendes Allgemeines in sie hineinzulesen, sie mit einem Telos, das die Jetztwelt ist, zu beseelen. Marx setzt sich unter anderem hier von Hegel ab, indem er die historische Besonderheit, nicht eine übergreifende Allgemeinheit zum wirkli-chen Gegenstand der politiswirkli-chen Ökonomie bestimmt. Dies betrifft auch die Gegenwart, statt als Realisierung jenes Allgemeinen und als ideelles Ende der Geschichte verstanden zu werden, wird sie in ihrer Besonderheit rekonstruiert, also als geschichtlich transzendierbar aufgefasst.

Die Besonderung von Epochen setzt diese selbstverständlich nicht außerhalb jeder Beziehung aufeinander, vielmehr werden die Beziehungen auf zweifache Weise hergestellt, analogisch in der Erkenntnis, wie bei den Kategorien gesehen, aber auch real: Nach der einen, zukunftsbilden-den Seite hin „behandeln [die Kommunisten] also praktisch die durch die bisherige Produktion und Verkehr erzeugten Bedingungen als unorganische, ohne indes sich einzubilden, es sei der Plan oder die Bestimmung der bisherigen Generationen gewesen, ihnen Material zu liefern“

(MEW 3, 71); nach der Vergangenheit gewendet „ist [die bürgerliche Gesellschaft] die entwi-ckeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung, gewähren daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundene Reste sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwi-ckelt haben etc.“ (Marx 1953, 25f) Die Gegenwart liefert nicht der Vergangenheit das Material, hierin ist die Beziehung verschiedener Zeiten eine Aufeinanderfolge, das überkommene Materi-al eine wirkliche, aber einseitige Beziehung. Doch in der Erkenntnis stammt das ‚MateriMateri-al‘ aus der Gegenwart: Vergangene Epochen erhellen sich von der eigenen her, selbstverständlich un-ter Herausarbeitung der wesentlichen Unun-terschiede. Ein Vergleich von Phänomenen kann daher unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Phänomene ohne wirklichen historischen

Zusammen-hang können unter denselben Begriff fallen: die moderne bürgerliche Demokratie ist kein Nach-fahre der des klassischen Griechenland; beide lassen sich (durch äußere Reflexion) vergleichen und unter denselben Begriff bringen – dies aber unter Abstraktion des jeweiligen „historischen Milieu“ (MEW 19, 112), d.h. ohne sie zu den ökonomischen Verhältnissen in Beziehung zu setzen. Ihre wirkliche Bedeutung ist nur in den systematischen Zusammenhängen der jeweili-gen Zeit zu rekonstruieren, aber diese wiederum lassen sich in ihren Differenzen von analogi-schen Vergleichen her verdeutlichen. Demgegenüber gibt es Phänomene, die einen wirklichen geschichtlichen Zusammenhang durch die Epochen hindurch besitzen, zum Beispiel bestimmte Erfindungen oder philosophische Traditionen, von Generation zu Generation weitergegeben, die also keine nur analogischen Erscheinungen sind. Bei der Besprechung von Engels’ Alterbriefen ist schon darauf eingegangen worden, dass dies die Versuchung mit sich führt, die Geschich-te solcher Phänomene als eine des inneren Zusammenhangs zu schreiben, weil wirklich etwas tradiert wird. Aber wesentlich für die Bedeutung eines Tradierten bleibt doch seine aktuelle Stel-lung im Gesellschaftsganzen, also welche gesellschaftlichen Kräfte und Interessen das Tradieren befördern und in welcher Weise und mit welchen Veränderungen, und schließlich, was aus dem Materialkorpus überhaupt weitergeschleppt und erneuert und was davon fallengelassen wird.

Eine historisch reflektierte Theorie spezifischer gesellschaftlicher Phänomene (Demokratie, Staat, Sprache, Geschlechterverhältnisse, Ethik, Kultur etc.) steht daher in einem Spannungs-feld zwischen einer Begriffsbildung, der analogische Fälle zugrunde liegen, und begrifflicher Rekonstruktion wirklicher Verhältnisse in spezifischen historischen Kontexten. Wenn die marx-sche Ökonomietheorie vor dem Problem steht, auch nicht-ökonomimarx-sche Gesellschaftselemente zu der Geltung kommen zu lassen, die sie auch gegen ökonomische Entwicklungen haben,23 so ist die Situation für an Marx’ Geschichtsauffassung anknüpfende Theoretisierungsversuche jener ‚höheren‘ Gesellschaftssphären noch komplizierter, da nicht vorausgesetzt werden kann, dass deren historische Entwicklung völlig parallel zu ökonomischen Epochenbrüchen verläuft, aber zugleich von einem bedeutenden Einfluss der Produktions- und Verkehrsverhältnisse auszu-gehen ist. Dasselbe hätte ebenso für eine Theorie der Sprache zu gelten. Sprachen sind ein durch-gängiges Kennzeichen menschlicher Gesellschaften. Marx kennt sowohl den Gedanken der An-passung der Sprache an veränderte gesellschaftliche Umstände, also einen Bestimmungszusam-menhang zwischen ökonomischen Entwicklungen und sprachlichen. Andererseits parallelisiert er in der Einleitung in dieGrundrisseauch die theoretische Rekonstruktion der historischen Be-sonderheit der Produktion und der Sprache: „[Einige] Bestimmungen werden der modernsten Epoche mit der ältesten gemeinsam sein. Es wird sich keine Produktion ohne sie denken lassen;

allein, wenn die entwickeltsten Sprachen Gesetze und Bestimmungen mit den

unentwickelts-23Wie sich in den knappen Notizen unter Punkt vier der Einleitung in dieGrundrissezeigt, hat Marx eigendynami-sche Entwicklungen in Recht oder Kunst erstens konstatiert und zweitens als erklärungsbedürftig angesehen.

ten gemein haben, so muss gerade das, was ihre Entwicklung ausmacht, den Unterschied von diesem Allgemeinen und Gemeinsamen, die Bestimmungen, die für die Produktion überhaupt gelten, müssen gerade gesondert betrachtet werden, damit über der Einheit [. . . ] die wesent-liche Verschiedenheit nicht vergessen wird.“ (Marx 1953, 7) Dass Marx’ Sprachdenken über Bemerkungen dieser allgemeinen Art nicht weit hinauskommt, aber dennoch aufgrund des Zu-sammenhangs mit seinem übrigen Werk, mit seiner Geschichtsauffassung, eine beachtenswerte Perspektive darstellt, wird im Folgenden zu sehen sein.

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 37-42)