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Struktur und Superstrukturen

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 194-197)

5.2 Einbindung der Sprache in gesellschaftsanalytische Kategorien bei Gramsci

5.2.3 Struktur und Superstrukturen

Die Leitfrage in der Beschäftigung mit Gramsci in dieser Arbeit ist, welche Stellung er der Spra-che zumisst. Als studierter Linguist hat er einige Notizen über das unmittelbare Themenfeld Sprache als Gegenstand der Linguistik hinterlassen, Reflexionen über Semantik und Gramma-tik, über Dialekte und Nationalsprachen. Für die Frage einer materialistischen Einordnung der Sprache im Gesellschaftsganzen sind jedoch andere Themenstränge von größerer Bedeutung:

die Entfaltung von Kategorien, die eng mit Sprache verknüpft sind und das Denken der Men-schen gesellschaftlich verorten. Es handelt sich um Kategorien wie Philosophie, Weltauffassung, Alltagsverstand, Ideologie und Hegemonie.

Gramsci, der sich im Bemühen, das historische Gesellschaftsganze begrifflich zu ordnen, me-thodisch an der marxschen Unterscheidung zwischen Basis und Überbau orientiert, verortet die-se Kategorien in den „Superstrukturen“. Die italienischen Überdie-setzungen der Begriffe ‚Basis‘

und ‚Überbau‘, die Gramsci benutzt, sind „struttura“ und „superstruttura“. Entsprechend handelt es sich bei den Begriffen ‚Struktur‘ und ‚Superstruktur‘ um deutsche Rückübersetzungen mit Hervorhebung derEigenheit von Gramscis Interpretation gegenüber den ursprünglichen deut-schen Begriffen. Insofern Gramsci eine eigenständigeAusarbeitung der marxschen Metapher zu analytischen Kategorien vorgenommen hat, ist diese Übersetzungsentscheidung gerechtfer-tigt, zumal das Wort ‚Superstruktur‘ im Unterschied zu ‚Überbau‘ eine Pluralbildung erlaubt und betont, dass trotz Abhängigkeit von der ökonomischen Basis der Überbau eigentümliche Strukturelemente, eine eigene Festigkeit, Trägheit und Wirksamkeit, besitzt. Diese Betonung ist

Gramscis Auffassung durchaus angemessen. Denn in seiner Bemühung, Marx’ Bemerkungen im Vorwort zurKritik der politischen Ökonomiezum Leitfaden seiner materialistischen Gesell-schaftsanalyse zu machen, ist er permanent darauf bedacht, sich von Deutungen dieser Prinzipi-en abzugrPrinzipi-enzPrinzipi-en, die zu Gramscis Zeit bereits fester marxistischer Traditionsbestand gewordPrinzipi-en waren und die Überbauphänomene mechanistisch oder unmittelbar aus der ökonomischen Ba-sis erklären zu können meinten und sie damit zu einem bloßen Widerschein der ökonomischen Verhältnisse herabsetzten. Die Argumente gegen den Ökonomismus müssen selbstverständlich epistemischer Natur sein, sie sind in den richtigen Urteilen der Gesellschaftsanalysen selbst zu suchen. Dies vorausgesetzt, hat der Ökonomismus als Denkströmung aber auch praktische Auswirkungen, die ihn für Gramsci zu einempolitischen Gegenstand, einer zu bekämpfenden Denkströmung machen: auch wenn der Ökonomismus das Bedürfnis nach objektiver Sicherheit befriedigt, führe er in erster Linie zu einer politischen Passivierung seiner Anhänger.

Um an die Diskussion des generellen marxschen Interpretationsrahmens im ersten Kapitel anzuknüpfen, so verhält sich Gramsci in doppelter, widersprüchlicher Weise dazu: Einerseits re-produziert er unbegründbare oder jedenfalls unbegründete geschichtsphilosophische Elemente daraus oder verstärkt sie sogar, während er andererseits ein Programm zur Wegarbeitung me-taphysischer, idealistischer Restbestände artikuliert und zu guten Teilen auch in seiner Bestim-mung des Verhältnisses von Struktur und Superstrukturen umsetzt. Marx’ unbegründetes Dik-tum, „eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrü-tet worden sind“ (MEW 13, 9), wird von Gramsci (aus dem Gedächtnis) aufgegriffen und neu artikuliert: „Das Problem der Beziehungen zwischen Struktur und Superstrukturen muss genau gestellt und gelöst werden, um zu einer richtigen Analyse der Kräfte zu gelangen, die in der Geschichte einer bestimmten Epoche wirken, und ihr Verhältnis zu bestimmen. Man muss sich im Umkreis zweier Prinzipien bewegen: 1. desjenigen, dass keine Gesellschaft sich Aufgaben stellt, für deren Lösung nicht bereits die notwendigen und zureichenden Bedingungen vorhan-den oder nicht wenigstens im Erscheinen und in Entwicklung begriffen sind; 2. und desjenigen, dass sich keine Gesellschaft auflöst und ersetzt werden kann, bevor sie all die Lebensformen, die in ihren Verhältnissen enthalten sind, entwickelt hat.“ (Gef 1556) Bemerkenswert ist die Verschiebung innerhalb von Gramscis zweitem Prinzip, das zugleich das fragwürdige von bei-den ist: Marx spricht gewissermaßen technizistisch davon, dass eine Produktionsweise solange fortbesteht, wie sie die bis dahin entwickelten Produktivkräfte ihrer Form nach noch produktiv integrieren und nutzen kann. Während man davon sprechen kann, dass sich die kapitalistische Produktionsweise gemessen am Maßstab der produktiven Ausnutzung der verfügbar gemachten Arbeitskraft als der feudalistischen überlegen erwiesen hat, wird dieses Kriterium fragwürdig,

sobald sich die Frage der Aufhebung kapitalistischer Produktion stellt. Denn wenn kapitalisti-sche Produktion den Zweck hat, aus Geld mehr Geld zu machen, d.h. den abstrakten Reich-tum zu vermehren, was auf der Ausdehnung des Reichs der Notwendigkeit, d.h. der profitabel benutzbaren Arbeit beruht, so ist dieser Zweck dem der Ausdehnung des Reichs der Freiheit, d.h. der nicht in Arbeit gebundenen verfügbaren Zeit, geradewegs entgegengesetzt. Der etwai-ge Untergang der kapitalistischen Gesellschaftsformation lässt sich also nicht aus dem Szenario begründen, dass nun alle kapitalistisch nutzbaren Produktivkräfte entwickelt wären, was auch immer das heißen soll. Denn an technologischer Entwicklung ist kein Ende absehbar. Marx un-terstellt hier implizit, dass dann neue Produktivkräfte entstünden, die kapitalistisch nicht mehr integrierbar wären, unddeswegeneine neue Gesellschaftsformation entstünde – die Produkti-onsverhältnisse zu „Fesseln“ für die Produktivkräfte werden. Aber wenn der Maßstab für die Brauchbarkeit, also den Nutzen der Produktivkräfte ein gänzlich anderer ist, weil sie Mittel für gänzlich unterschiedliche Zwecke sind, dann wird es mehr eine Frage des politischen Willens und politischer Zwecksetzung – und auch der Bedingungen ihrer Organisierung – sein denn ei-ner vermeintlich vollständigen oder unvollständigen Entwicklung der Produktivkräfte, wie es um die Aufrechterhaltung oder Aufhebung dieser Gesellschaftsformation bestellt ist.

Gramsci übersteigert sogar noch Marx’ fragwürdige Bestimmung1, wenn er das Kriterium über die ökonomische Sphäre hinaus auf die gesamte Gesellschaft erweitert, das heißt er setzt im Gegensatz zu Marx sogar noch eine Totalität der in den ökonomischen Verhältnissen „ent-haltenen“ Lebensformen voraus. Neben der Unplausibilität dieses „materialistischen“ Kriteri-ums bleibt außerdem ungeklärt, wie sich eine solche Totalität erkennen ließe, und sei es nur nach Hegelscher Weise ex post, und wieso es eine solche ideell in den Verhältnissen schon liegende Totalität überhaupt geben sollte. Man kann sicher sagen, dass Verteidiger einer Pro-duktionsweise umso bessere Karten für ihr Anliegen haben, je reibungsloser und potenter die Produktionsverhältnisse sind, aus denen sie ihre Macht beziehen. Aber ob über kapitalistischen Produktionsverhältnissen ein bürgerlich-demokratischer oder ein faschistischer Staat installiert wird oder ob eine sozialistische Revolution in ihrem Ausmaß beschränkt bleibt oder sich zu ei-ner Weltrevolution auswächst, hängt an allerlei weiteren historischen Umständen wie vor allem den politischen Kämpfen und der politischen Organisierung der Zeit und lässt sich nicht auf eine aus Abstraktionen erklärte allgemeine Stufenabfolge in der Entwicklung des Weltkapitalismus zurückführen.

Gleichwohl ist ebenso festzuhalten, dass Gramsci diese Verallgemeinerungen nicht als

Resul-1In einer anderen Fassung formuliert Gramsci näher an Marx: „1. dass keine Gesellschaftsformation verschwin-det, solange die Produktivkräfte, die sich in ihr entwickelt haben, noch Raum für eine weitere Vorwärtsbewegung finden; 2. dass die Gesellschaft sich keine Aufgaben stellt, für deren Lösung nicht bereits die notwendigen Bedin-gungen ausgebrütet sind“ (Gef 1734) Doch an dieser Stelle geht es nicht darum, die plausibelste und kohärenteste Formulierung ausfindig zu machen, zumal die Kritik an Marx auch auf Gramsci zutrifft, sondern darum, auf geschichtsmetaphysische Restbestände in Gramscis Denken hinzuweisen.

tate, sondern als Orientierungsrichtlinien einführt und dass seine Materialanalysen eine andere Sprache sprechen. Mehr noch, auch auf Theorieebene findet sich in Gramscis Denken ebenso eine vereinfachenden Geschichtsthesen entgegenarbeitende Stoßrichtung, und zwar was den ge-schichtlichen Status der Superstrukturen betrifft, deren eigene Trägheit und Wirksamkeit gegen-über der Ökonomie er hervorhebt. Seine Zustimmung zu Engels’ Aussage, „dass die Ökonomie nur ‚in letzter Instanz‘ Triebfeder der Geschichte ist“ (Gef 1568), hat somit im Kontext von Gramscis Theorie zwei Seiten: zum einen, dass sich die Wirkung ökonomischer Entwicklun-gen erst in die Superstrukturen bzw. ihre eiEntwicklun-gentümlichen Formen übersetzen muss, die Bestim-mung durch die Ökonomie somit eine vermittelte ist, zum anderen aber umgekehrt, dass sich die ökonomische Basis letztinstanzlich tatsächlich Geltung verschafft, wenn superstrukturelle Entwicklungen zur ökonomischen Form in Widerspruch geraten, wenn also beispielsweise poli-tische Initiativen aufgrund mangelnder ökonomischer Bedingungen scheitern. Man darf Gramsci folglich nicht als Kulturalisten verstehen, um in einem zweiten Schritt dann einen Widerspruch zu seinen orthodoxen Überlegungen zur materialistischen Geschichtsauffassung zu entdecken.

Gramsci nimmt die partielle Eigenständigkeit der Superstrukturen ernst, ihre eigene historische Wirksamkeit, aber auch die ökonomischen Bedingungen, unter denen sie nach wie vor stehen.

Damit gelangt er zu historischen Analysen, die mit ökonomistischen Reduktionen nichts zu tun haben, ihnen geradezu entgegengesetzt sind, ohne jedoch vom globalen Deutungsrahmen der Abhängigkeit der Superstrukturen von der Struktur abzurücken. Nichtsdestotrotz bleibt eine ge-wisse Spannung zwischen seinen expliziten methodischen Grundsätzen und seinen historischen Analysen, die zum Teil auch in einem kulturalistischen Theorierahmen Platz fänden. Darüber hinaus birgt auch die Unterordnung der Superstrukturen unter die Struktur in der globalen Wei-se, wie Gramsci sie vornimmt, theoretische Fehler, wie an der Beziehung von Ökonomie und Staat noch gezeigt werden soll.

Um die Stellung der Superstruktur Sprache in Gramscis Analyse des Baus kapitalistischer Gesellschaften zu klären, reicht es außerdem nicht aus, nur das Verhältnis von Struktur und Superstrukturen im allgemeinen zu erläutern, um dann die Besonderheit des Verhältnisses von Sprache und ökonomischer Struktur zu bestimmen. Seine Analyse beinhaltet eine spezifische Anordnung und Gliederung der Superstrukturen untereinander, die für die Einordnung der Spra-che fundamental ist. Daher ist es nötig, hierzu einen groben Überblick zu geben.

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 194-197)