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Verhältnis von Ökonomie und Staat

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 197-0)

5.2 Einbindung der Sprache in gesellschaftsanalytische Kategorien bei Gramsci

5.2.4 Verhältnis von Ökonomie und Staat

„Vorläufig lassen sich zwei große superstrukturelle ‚Ebenen‘ festlegen – diejenige, die man die Ebene der ‚Zivilgesellschaft‘ nennen kann, d.h. des Ensembles der gemeinhin ‚privat‘ genannten Organismen, und diejenige der ‚politischen Gesellschaft oder des Staates‘ –, die der Funktion der ‚Hegemonie‘, welche die herrschende Gruppe in der gesamten Gesellschaft ausübt, und der

Funktion der ‚direkten Herrschaft‘ oder des Kommandos, die sich im Staat und in der ‚formel-len‘ Regierung ausdrückt, entsprechen.“ (Gef 1502) Gramscis Gebrauch des Ausdrucks ‚Staat‘

schwankt zwischen einer engeren und einer weiteren Definition. Während die engere eher der üblichen Bedeutung als institutionalisierte herrschende Gewalt über ein Territorium entspricht, fasst Gramsci auch die Gesamtheit von ‚politischer Gesellschaft‘ (sein Synonym für Staat im en-geren Sinn) und ‚Zivilgesellschaft‘ im Ausdruck ‚Staat‘ zusammen, um die Kontinuität staatli-cher und zivilgesellschaftlistaatli-cher Einrichtungen in der Verfasstheit und den Verkehrsformen einer Gesellschaft zu betonen und beides als Elemente der Dominanz einer gesellschaftlichen Gruppe auszudrücken. Das Schwanken begründet sich für Gramsci also aus der Sache selbst und ist nicht als Inkohärenz seiner Theorie aufzufassen, sein Begriffsgebrauch lässt sich kontextuell jeweils eindeutig auflösen. Gleichzeitig ist in diesen zwei Verwendungsweisen auch der Unterschied einer klassentheoretischen und einer strukturellen Staatstheorie angelegt, auf den noch genauer eingegangen werden wird. Im Folgenden wird der Begriff Staat, wenn nicht anders vermerkt, ausschließlich in der engeren Bedeutung gebraucht.

Gramsci denkt den Staat als Superstruktur. Die Abhängigkeit der Staatsform von der duktionsweise ergibt sich für ihn einerseits klassentheoretisch aus der durch die jeweilige Pro-duktionsweise hervorgebrachten Klassen(verhältnisse) und strukturell aus den Anforderungen zur Aufrechterhaltung und Ausgestaltung dieser Herrschaft. Beide Ansätze spielen in seiner Staatstheorie eine Rolle. Dennoch ist sein explanatorischer Ausgangspunkt eindeutig klassen-theoretisch, nämlich „ein eng an die Struktur gebundenes gesellschaftliches Kräfteverhältnis, das objektiv und vom Willen der Menschen unabhängig ist und mit den Systemen der exakten oder physikalischen Wissenschaft gemessen werden kann. Auf der Basis des Entwicklungsgra-des der materiellen Produktivkräfte treten die gesellschaftlichen Gruppierungen auf, deren jede eine Funktion in der Produktion selbst repräsentiert und eine bestimmte Stellung zu ihr ein-nimmt.“ (Gef 1560) Hierin steckt ein geschichtsdeterministisches Erbe, dem Gramsci verhaftet bleibt. Materielle Produktivkräfte sind zunächst eine historische ökonomische Bedingung, die nicht nach Belieben gesetzt werden kann. Aber sie sind auch keine dem Willen gänzlich ent-hobene Voraussetzung, umso weniger die ökonomische Struktur, sondern auch und vor allem durch staatliche Ordnungsmächtevermittelt. Gramsci hält dagegen an seinem Produktivkraft-Materialismus fest, schwächt das deterministische Element darin aber weitgehend ab, indem er sich auf die Formel der „letzten Instanz“ zurückzieht und sich explizit gegen unmittelbare Determinismusauffassungen wendet: „Der (als wesentliches Postulat des historischen Materia-lismus dargestellte) Anspruch, jede Schwankung der Politik und der Ideologie als einen un-mittelbaren Ausdruck der Struktur hinzustellen und darzulegen, muss theoretisch als primitiver Infantilismus bekämpft werden“ (Gef 878). Dagegen hebt er zwar die ganze Vermittlung mit den Superstrukturen, mit der Organisierung der gesellschaftlichen Gruppen und insbesondere

dem Staat hervor, die den konkreten Geschichtsverlauf prägt; allerdings handelt es sich dabei um eine Strukturentwicklung, diemit den Superstrukturen, nichtdurchsie vermittelt ist. Oder anders ausgedrückt: die konkrete Ökonomie wird durch allerlei Umstände und insbesondere den Staat geprägt, während die Produktionsweise bei Gramsci gleichwohl als etwas unvermittelter Ausgangspunkt erscheint.

Somit ist der „Übergang von der Struktur zur Sphäre der komplexen Superstrukturen“ (Gef 1561) nach Gramscis Auffassung über das politische Aktivwerden von Klassen vermittelt, die sich objektiv aus der ökonomischen Basis ergeben. Von diesem Ausgangspunkt aus erhebt sich der Staat über der Ökonomie als Superstruktur, weil er von der führenden Klasse zu ihren Zwe-cken gestaltet wird, wenn auch unter kompromissartiger Einbeziehung der Interessen unterge-ordneter Klassen. Damit wird der konkrete Staat zum gestalteten Ausdruck von Klassenverhält-nissen. Indem Gramsci aber auch die partielle Eigenständigkeit der Superstrukturen herausar-beitet, nähert er sich in seiner Staatsanalyse von dieser Seite her einem strukturellen Ansatz an, der die Souveränität und Eigenlogik von staatlichen Strukturen gegen eine einseitige Abhän-gigkeit von Klassenstrukturen hervorhebt. Diese Annäherung zeigt sich in Passagen, in denen das Verhältnis von Ökonomie und Staat nicht als Genese des Staats aus Klassenverhältnissen abgehandelt wird, sondern als die ökonomischen (Binnen-)Verhältnisse gestaltende Staatsakti-vität, in denen also der Staat als eigenständiger Akteur gegenüber seiner Bevölkerung und seinen ökonomischen Verhältnissen thematisiert wird.

Das zeigt sich in negativer Hinsicht, insofern die historische Bedeutung, die ökonomische Entwicklungen bekommen, von Reaktionen und Initiativen auf der politischen Ebene abhän-gig sind: „Ausgeschlossen kann werden, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen; sie können nur einen günstigeren Boden für die Verbrei-tung bestimmter Weisen bereiten, die für die ganze weitere Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen.“ (Gef 1563) Diese Bemerkung ist als Kritik an ökonomistischen, von der die kapitalistische Produktion flankierenden Staatsgewalt absehenden Vorstellungen eines Zusammenbruchs kapitalistischer Gesellschaften zu verstehen.

Dieser Zusammenhang besteht aber auch in positiver Hinsicht, insofern Staaten tatkräftig und gestaltend in die Organisierung ihrer Ökonomie, das heißt vor allem ihrer eigenen materiellen Basis, eingreifen: „In Wirklichkeit muss der Staat als ‚Erzieher‘ aufgefasst werden, insofern er gerade danach strebt, einen neuen Typus oder ein neues Niveau der Zivilisation zu schaffen.

Aufgrund der Tatsache, dass im wesentlichen auf die ökonomischen Kräfte eingewirkt wird, dass der Apparat der ökonomischen Produktion reorganisiert und entwickelt wird, dass die Struktur erneuert wird, darf nicht der Schluss gezogen werden, die Fakten der Superstruktur müssten sich selbst, ihrer spontanen Entwicklung, einem zufälligen und sporadischen Aufkeimen über-lassen werden. Der Staat ist auch auf diesem Gebiet ein Instrument der ‚Rationalisierung‘, der

Beschleunigung und Taylorisierung, er wirkt nach einem Plan, drängt, treibt an, fördert, und

‚straft‘“ (Gef 1548) und kontrolliert sogar mittels seines Gewaltmonopols die jeweilige „Eigen-tumsform“ (Gef 719).

Dies geschieht in bürgerlichen Staaten in Form einer rechtlichen Durchregelung der Gesell-schaft. „Wenn jeder Staat bestrebt ist, einen bestimmten Typus von Zivilisation und von Staats-bürger (und damit des Zusammenlebens und der individuellen Beziehungen) zu schaffen und zu erhalten, bestimmte Gewohnheiten und Verhaltensweisen zum Verschwinden zu bringen und andere zu verbreiten, wird das Recht das Mittel für diesen Zweck sein (neben der Schule und anderen Institutionen und Aktivitäten) und muss so ausgearbeitet werden, dass es dem Ziel ange-messen, in höchstem Maße wirksam ist und positive Ergebnisse hervorbringt.“ (Gef 1548) Auch wenn Gramsci die Beziehung zwischen Staatsgewalt und Eigentumsform herstellt, bekommt er aufgrund der klassentheoretischen Subsumtion des Staates unter die untergeordnete Kategorie der Superstruktur nicht klar zu fassen, inwieweit kapitalistische Staaten die ökonomische Ak-tivität nicht nur flankieren, in Form von Wirtschaftspolitik auf sie einwirken und verteidigen, sondern sie auch durch die Rechtssicherung des Privateigentums als Voraussetzung kapitalisti-scher Produktion aktiv setzen, und zwar als ihre eigene ökonomische Basis, das heißt ihr Mittel.

Darin überschneidet sich dieses Interesse eines kapitalistischen Staates mit dem seiner Kapi-talisten und ihrer Organisationen, ohne je deckungsgleich zu werden. Gramscis Reflexion auf den Staat als setzende Macht seiner Ökonomie dagegen geht lediglich bis zur Bestimmung, dass die spezifische „Regulierung“ der ökonomischen Sphäre dem aktiven staatlichen Willen unter-liegt, insofern zum Beispiel „auch der Liberalismus eine ‚Regulierung‘ staatlicher Natur ist, eingeführt und aufrechterhalten auf dem Wege der Gesetzgebung und des Zwanges: er ist ei-ne Tatsache des sich der eigeei-nen Ziele bewussten Willens und nicht der spontaei-ne, automatische Ausdruck der ökonomischen Tatsache.“ (Gef 1566) Dagegen sind die „realsozialistischen“ Staa-ten des 20. Jahrhunderts, wenn auch nicht bestrebt, Gramscis politisches Ziel der Auflösung des Staats ins Auge zu fassen, gleichwohl historische Beispiele der Setzung anderer Staatszwecke und staatlicher Aufhebung der Bedingungen einer privat organisierten Ökonomie, mithin auch der Einsetzung anderer Mittel zur Organisation von Produktion und Arbeit; d.h. sie sind Bei-spiel dafür, dass die Souveränität von Staaten tiefer reicht, als formierender Regulator einer vor-ausgesetzten Produktionsweise zu sein. Es ergäbe ein unstimmiges Bild, wenn man neben den bürgerlichen Demokratien der westlichen kapitalistischen Gesellschaften auch den „Ostblock“

des 20. Jahrhunderts als „ungeheuren Überbau“ des Weltkapitalismus interpretieren wollte statt als Gesellschaften mit eigener „ökonomischer Grundlage“, die diese Staaten mit ihrer Gewalt in Geltung gesetzt haben. Von einer Genese aus objektiven Produktivkraft-Bedingungen kann da ebenso wenig die Rede sein wie von einer Errichtung des Staates durch „die Arbeiterklasse“, vielmehr von der Durchsetzung von Parteien, die sich aus der Arbeiterbewegung entwickelten

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