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Thesen Wygotskis

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 117-125)

Zur Darstellung der für eine materialistische Sprachtheorie relevanten Ergebnisse der russischen Psychologie ist es sinnvoll, mit ihrem Begründer Lew Wygotski zu beginnen. Auch wenn die an Wygotski anschließende Theoriebildung ein weit größeres Feld abdeckte, als in den Frage-stellungen von Denken und Sprechen2 untersucht wurden, werden darin viele für die spätere Entwicklung grundlegende Thesen bereits (z.T. beiläufig) ausgesprochen. Der rote Faden dieses Buches ist seinem Titel entsprechend das Verhältnis von Denken und Sprechen. Dieses Pro-blem wird auf einer phylogenetischen und einer ontogenetischen Ebene behandelt. „Historische Psychologie“ (Wygotski 1971, 357) bezeichnet hier also nicht die Gesellschaftsgeschichte von Subjektbildung und Diskursformationen, sondern unterscheidet einerseits die Ausprägung der Intelligenz bei Menschen und bei Primaten, um die spezifische Verwicklung des menschlichen Denkens in die Sprachentwicklung herauspräparieren zu können, und verallgemeinert anderer-seits an der Sprachentwicklung menschlicher Individuen eine einheitliche Phasenabfolge in der

2Es fehlen mir die Sprachkenntnisse, um aus dem großen, aber weitgehend nicht übersetzten russischsprachigen Oeuvre Wygotskis schöpfen zu können.

Genese der Begriffsstruktur. Damit ist aber weder die gesellschaftliche Dimension der Begriffs-genese geleugnet noch die wesentliche historische Verschiedenheit von Begriffsinhalten. Aller-dings wird behauptet, dass sich allgemein verschiedene, aufeinander aufbauende Komplexitäts-stufen unterscheiden lassen, in der das Denken begrifflich organisiert ist, und dass der ontoge-netische Weg zur Beherrschung der höheren Begriffsformen entlang dieser Stufenfolge verläuft.

Denken und Sprechen werden dabei als unterscheidbare Phänomenbereiche aufgefasst, die verschiedene funktionelle Ursprünge haben, aber im Laufe des Aufwachsens des Kindes Ver-bindungen miteinander eingehen, ohne doch vollständig zu verschmelzen. Einerseits werden in Ontogenese und „Phylogenese des Denkens und Sprechens [. . . ] eine vorsprachliche Phase in der Entwicklung der Intelligenz und eine vorintellektuelle Phase in der Entwicklung der Spra-che“ (Wygotski 1971, 87) festgestellt, andererseits werden in der entwickelten menschlichen Sprache und Intelligenz jeweils Bereiche ausgemacht, die außerhalb der Einheit beider liegen.

Intelligenz wird dabei verstanden als die Fähigkeit, Lösungen für Probleme und Hindernis-se zu finden, die sich in zielgerichteten Tätigkeiten ergeben. „In Köhlers Versuchen finden wir den Beweis, dass die Anfänge der Intelligenz, d.h. des Denkens im eigentlichen Sinne des Wor-tes, bei den Tieren unabhängig von der Entwicklung der Sprache auftreten. Die ‚Erfindungen‘

der Affen, die sich in der Herstellung und Anwendung von Werkzeugen und in der Benutzung von ‚Umwegen‘ bei der Lösung von Aufgaben zeigen, bilden zweifellos die erste, aber vor-sprachliche Phase in der Denkentwicklung.“ (Wygotski 1971, 74) Da sich bei Affen allerdings auch Rudimente von Sprachgebrauch finden, muss gezeigt werden, dass Sprache und Intelligenz bei Primaten tatsächlich weitgehend auseinanderfallen, getrennt bleibende Fähigkeiten darstel-len: „Köhler hat die vielfältigen Formen der ‚sprachlichen Kommunikation‘ unter Schimpansen beobachtet. An erster Stelle stehen die markanten und reichen emotionalen Ausdrucksgebär-den (Mimik und GebärAusdrucksgebär-den, lautliche Reaktionen). Dann folgen die sozialen AusdrucksgebärAusdrucksgebär-den (Gesten der Begrüßung usw.). Aber sowohl ‚ihre Gesten‘, schreibt Köhler, ‚als auch ihre ex-pressiven Laute bezeichnen und beschreiben nie irgendetwas Objektives.‘“ (Wygotski 1971, 77) Soweit also Sprache vorhanden ist, findet in ihr keine gedankliche Reproduktion der Wirklich-keit statt. Und auch umgekehrt hat die praktische Intelligenz hier eine Beschränkung, die ihrer Verbindung mit Sprache entgegensteht und Hinweise auf die Voraussetzungen der spezifisch menschlichen Sprachentwicklung gibt: „Erinnern wir uns, dass gerade das Fehlen der ‚Ideati-on‘, d.h. des Operierens mit Vorstellungen, also den Spuren nicht aktueller, nicht gegenwärtiger Reize für die Intelligenz des Schimpansen charakteristisch ist. Das Vorhandensein einer aktu-ellen, leicht übersehbaren, völlig anschaulichen optischen Situation ist eine notwendige Vor-aussetzung dafür, dass ein Affe zum richtigen Gebrauch eines Werkzeugs kommt.“ (Wygotski 1971, 83) Doch „1. Der rationelle Gebrauch der Sprache ist eine intellektuelle Funktion, die unter keinerlei Bedingungen unmittelbar von der optischen Struktur bestimmt wird. 2. Bei allen

Aufgaben, die nicht optisch-aktuelle Strukturen, sondern Strukturen anderer Art betrafen (z.B.

bei mechanischen Anforderungen) gingen die Schimpansen vom intelligenten Verhaltenstypus zur reinen ‚Versuch-Irrtum‘-Methode über.“ (Wygotski 1971, 83) Wie es auch um die Möglich-keit bestellt ist, Affen Zeichensprache beizubringen, die also auch auf optischen Reizen beruht – in ihrer Entwicklung außerhalb menschlicher Kulturbeziehungen liegt ein relativ klarer Fall eines ontogenetischen Getrenntseins von Sprache und Intelligenz vor.

„Vorintellektuelle Wurzeln der Sprache“ (Wygotski 1971, 88) kann man jedoch auch beim Menschen in der Entwicklung des Kindes feststellen. Allerdings gewinnen die Verhältnisse hier schnell an Komplexität: „Das Wichtigste, was wir über die Entwicklung von Denken und Spre-chen beim Kind wissen, ist die Tatsache, dass etwa um das 2. Jahr die Entwicklungslinien des Denkens und des Sprechens zusammenfallen und eine neue, für den Menschen charakteristische Verhaltensform einleiten.“ (Wygotski 1971, 88) Und auch diese Einheit beider, das „sprachliche Denken“ (Wygotski 1971, 11), also Sprache, soweit sie Denkmittel ist, und Denken, insoweit es sich sprachlicher Mittel bedient, durchläuft, sobald die Verbindung einmal hergestellt ist, eine komplizierte Entwicklungsgeschichte, die Wygotski in groben Zügen zu erforschen und nachzu-zeichnen sucht. Hierbei rückt er zwei Entwicklungen ins Zentrum: einerseits die bereits erwähn-te qualitative Veränderung in der inneren Struktur und Organisation der Worerwähn-te bis hin zu echerwähn-ten Begriffen, wobei sowohl die logische Abfolge der Veränderungen als auch das Wechselspiel von Alltagsbegriffen und dem, was er wissenschaftliche Begriffe nennt, untersucht wird; und andererseits die allmähliche psychische und strukturelle Differenzierung der kommunikativen Funktion der Sprache und der Denkmittel zum Eigengebrauch.

Diese zweite Entwicklung diskutiert er in Auseinandersetzung mit Piagets Thesen über die Rolle des egozentrischen Sprachgebrauchs. „Während das Denken des Kindes früher gewöhn-lich nur negativ durch Fehler, Mängel und Minderleistungen bestimmt wurde, durch die es sich vom Denken der Erwachsenen unterscheidet, hat Piaget versucht, die qualitative Eigenart des kindlichen Denkens positiv zu charakterisieren.“ (Wygotski 1971, 17) „Es ist nach Piaget der Egozentrismus des kindlichen Denkens.“ (Wygotski 1971, 20) Dabei bestimmt Piaget „das ego-zentrische Denken als eine Übergangs- bzw. Zwischenform des Denkens, das in genetischer, funktioneller und struktureller Hinsicht als Bindeglied zwischen dem autistischen Denken und dem rational gesteuerten Denken steht.“ (Wygotski 1971, 21) „Seine Grundkonzeption von der Entwicklung des Denkens und die Annahme über den Ursprung des kindlichen Egozentrismus hat Piaget einer psychoanalytischen These entlehnt. Sie besagt, dass die autistische Form des Denkens primär und durch die Natur des Kindes selbst bedingt ist. Das realistische Denken da-gegen sei dem Kind von außen, später durch die soziale Umwelt systematisch aufgezwungen worden.“ (Wygotski 1971, 23)

Wygotski kritisiert diese Konzeption an mehreren Punkten: Er stellt die Idee des autistischen

Denkens, die Nachträglichkeit des realistischen Denkens und die von Piaget behauptete Rolle des Egozentrismus in Frage. Mit autistischem Denken ist ein selbstbezogenes, imaginatives, bei Freud vom Lustprinzip ausgehendes Denken und Handeln bezeichnet. Piagets These, dass au-tistisches Denken als Grundstufe menschlicher Denkentwicklung anzusehen ist, geht also von einem alogischen, phantasmagorischen und mit sich selbst beschäftigten Denken aus, das erst mit der späteren Sozialisierung in das logische und realistische Denken überführt wird. Wygotski schließt sich dagegen der Auffassung Bleulers an, der autistisches Denken als später auftretende Denkfunktion beobachtet, die erst von einer gewissen Entwicklungsstufe an zu der realistischen hinzutrete und sich von da an mit ihr zusammen entwickle. „Man braucht sich nur von den allge-meinen Thesen vom Primat des Lustprinzips, dem der Logik des Tag- und Schlaftraums über die Realfunktion des Denkens abzuwenden und den wirklichen Entwicklungsverlauf des Denkens zu untersuchen, um zu sehen, dass die primäre Form der intellektuellen Tätigkeit das aktive, praktische, auf die Wirklichkeit gerichtete Denken ist, das als Anpassung an neue Bedingun-gen und die sich verändernden Situationen der Umwelt zu begreifen ist.“ (Wygotski 1971, 28) Das beschriebene Phänomen des Autismus wird also nicht als grundlegendes und alles beherr-schendes in den ersten Lebensjahren beurteilt. Es habe aber durchaus eine wichtige Funktion:

„In seinen Phantasien steigert das Kind seine Kombinationsfähigkeit so gut wie die Körperge-wandtheit in den Bewegungsspielen“ (Wygotski 1971, 30) Ebenso sieht er realistischen Sinn in Kulturen ohne entwickelte Wissenschaft vorherrschen, wenn er Bleuler zustimmend zitiert:

„Der Imbezille und der Wilde sind wahrhaft Realpolitiker, und der letztere macht seine autisti-schen Dummheiten genau wie wir an der Spitze der Denkfähigkeit stehenden Menautisti-schen, nur da, wo sein Verstand und seine Erfahrung nicht hinreichen: in seinen Ideen über den Kosmos, die Naturerscheinungen, in der Auffassung von Krankheiten und anderen Schicksalsschlägen und deren Abwehr und in sonstigen, für ihn zu komplizierten Zusammenhängen.“ (Wygotski 1971, 27f) Realistisch muss hier also in erster Linie heißen, den lebensbestimmenden Stoffwechsel mit der Umwelt organisieren zu können, denn der bleibt materielle Grundlage für alle die wirklichen Zusammenhänge falsch erfassenden Phantasien.

Das bei Kindern beobachtbare Phänomen, dass sie bei ihren Tätigkeiten gewissermaßen an sich selbst gerichtet reden, was sich insbesondere bei Abwesenheit sonstiger Personen zeigt, fasst Piaget als eigene Stufe der Denkentwicklung auf: „Während seiner Beschäftigung begleitet das Kind seine Handlungen mit einzelnen Äußerungen, und eben diese ‚sprachliche Begleitmu-sik‘ der kindlichen Tätigkeit unterscheidet Piaget unter der Bezeichnung ‚egozentrische Spra-che‘ von der sozialisierten kindlichen Sprache, deren Funktion eine ganz andere ist.“ (Wygotski 1971, 33) Piagets „erste These besteht also darin, dass die egozentrische Sprache keine objektiv nützliche, notwendige Funktion im Verhalten des Kindes ausübt.“ (Wygotski 1971, 36) „Damit verbunden ist die zweite These vom Schicksal der egozentrischen Sprache des Kindes. Wenn

die egozentrische Sprache keine Funktion im Verhalten des Kindes ausübt, so wäre darin ein Symptom der Unreife des kindlichen Denkens zu sehen und zu erwarten, dass im Verlauf der Entwicklung dieses Symptom verschwinden wird.“ (Wygotski 1971, 36)

Diese von Wygotski verworfene Interpretation ist etwas ausführlicher dargestellt worden, weil sich aus deren Prüfung wichtige Resultate von Wygotskis empirischer Forschungsarbeit ergeben haben. Zunächst ließ sich beobachten, „dass der Anteil der egozentrischen Sprache immer dann größer wurde, wenn die Kinder auf Schwierigkeiten stießen.“ (Wygotski 1971, 37) „Bei ihnen entstand das egozentrische Sprechen, d.h. der Versuch, eine Situation in Worten zu erfassen, einen Ausweg zu suchen und die nächste Handlung zu planen, als Antwort auf die Schwierig-keiten in der gleichen [bekannten, D.F.], nur etwas komplizierteren Situation. Das ältere Kind verhielt sich etwas anders: Es blickte genau hin, überlegte (wie aus den längeren Pausen zu schließen war) und fand dann einen Ausweg. Auf die Frage, worüber es nachgedacht habe, gab es immer Antworten, die dem lauten Denken des Vorschulkindes sehr nahekamen. Wir neh-men daher an, dass die gleiche Operation, die beim Vorschulkind sprachlich geäußert wird, beim Schulkind in innerer, lautloser Rede erfolgt.“ (Wygotski 1971, 37f) An diese Ergebnis-se schließen sich zwei wichtige TheErgebnis-sen an: dass das egozentrische Sprechen allerdings keine bloße Begleitung der Tätigkeit, sondern ein psychisches Mittel des Handelns ist, und dass sein Verschwinden nur die unmittelbar beobachtbare Seite dieser Sprachfunktion betrifft und es in das übergeht, was Wygotski innere Sprache nennt.

Das innere Sprechen entspricht der Beobachtung, dass das stille Nachdenken des Erwach-senen irgendwie mit Sprache verbunden zu sein scheint. Aus Wygotskis genetischer Analyse ergibt sich ein präziser Erklärungsansatz für dieses Phänomen, in völliger Umkehrung der von Piaget angenommenen Rolle der Gesellschaft: „Die Entwicklung des kindlichen Denkens ver-läuft nicht vom Individuellen zum Sozialisierten, sondern vom Sozialen zum Individuellen.“

(Wygotski 1971, 44)3„Die ursprüngliche Funktion der Sprache ist die der Mitteilung, der Ein-wirkung auf die Menschen der Umgebung, sowohl von Seiten der Erwachsenen als auch des Kindes. Demzufolge ist die ursprüngliche Sprache des Kindes eine rein soziale [. . . ]. Erst später entwickelt sich eine mehrere Funktionen ausübende soziale Sprache des Kindes nach dem Prin-zip der Differenzierung der einzelnen Funktionen und teilt sich auf einer bestimmten Altersstufe ziemlich scharf in eine egozentrische und eine kommunikative Sprache. [. . . ] Danach entsteht also die egozentrische Sprache auf der Grundlage der sozialen dadurch, dass das Kind sozia-le Verhaltensformen und Formen der kolsozia-lektiven Zusammenarbeit in den persönlichen Bereich überträgt.“ (Wygotski 1971, 42f) „Das erklärt, wie die Bildung der inneren Sprache verläuft. Sie vollzieht sich durch die Trennung der Sprachfunktionen, durch die Verselbständigung der

ego-3Hier ist ein Ausgangspunkt für die von der Kritischen Psychologie formulierte kategorielle Kritik des Freudianis-mus und der Sozialisationstheorien. Siehe besonders Holzkamp-Osterkamp (1978, 318ff).

zentrischen Sprache, durch ihre allmähliche Verkürzung und schließlich durch ihre Verwandlung in die innere Sprache.“ (Wygotski 1971, 43f)

Die inhaltliche Charakteristik der inneren Sprache, Verkürzung der Sätze, besonders das Fort-lassen des grammatischen Subjekts, das Idiosynkratische und Unverständlichwerden für andere, denen es erst wieder in die gemeinsame, ausgeführte Sprache ‚entfaltet‘ werden muss, ist bereits in der Entwicklung der egozentrischen Sprache zu beobachten. Der hauptsächliche Grund für die partielle Verselbständigung der inneren Sprache, die ja doch in permanenter Wechselwirkung mit der ausformulierten Sprache des Verkehrs mit anderen bleibt, ist aber nicht in einem Bedürf-nis nach Privatheit der Gedanken zu suchen, auch wenn die Normen und Zwänge des öffentlich Sagbaren auf ganz eigene Weise diese Dynamik bestimmen, sondern in der handlungsvermit-telnden Funktion, die Sprache für die Subjekte erlangt. Dass die soziale Sprache Ausgangspunkt der Differenzierung ist, bedeutet dabei keineswegs, dass die durch den Spracherwerb geleiste-te Vermittlung eine nur normative Einführung in die sozialen Gepflogenheigeleiste-ten, in das gerade gängige Denken der Gesellschaft wäre. Vielmehr hebt Wygotski gerade die Aneignung der ge-genständlichen Wirklichkeit gegenüber Piagets von der materiellen Wirklichkeit abstrahierten Theorie hervor: „Wenn wir zum Abschluss die wesentlichsten Punkte der Auffassung von Pia-get verallgemeinern, können wir sagen, dass erstens das Fehlen der Wirklichkeit und zweitens das Verhältnis des Kindes zu dieser Wirklichkeit, d.h. das Fehlen einer praktischen Tätigkeit des Kindes grundlegend sind. Die Sozialisierung des kindlichen Denkens wird von Piaget au-ßerhalb der Praxis, losgelöst von der Wirklichkeit betrachtet. Das Erkennen der Wahrheit und die logischen Formen, mit deren Hilfe diese Erkenntnis möglich wird, entstehen bei ihm nicht im Prozess der praktischen Aneignung der Wirklichkeit, sondern im Prozess der Anpassung des Denkens an ein anderes. Die Wahrheit sei die sozial organisierte Erfahrung [. . . ], denn die Wirk-lichkeit gäbe dem Verstand des Kindes in seiner Entwicklung keine Impulse.“ (Wygotski 1971, 59f)

Nach Wygotski fällt beides, Gesellschaft und Aneignung gegenständlicher Wirklichkeit, nicht auseinander. Es findet tatsächlich eine Aneignung der Wirklichkeit statt, der Fähigkeit, sich prak-tisch in ihr zu betätigen, aber es findet statt aus einem sozialen Raum heraus, unterstützt von und im Austausch mit jenen, die diesen Prozess schon durchlaufen haben. Welche Rolle fällt dabei nach Wygotski der Sprache zu? Jenseits der kommunikativen Leistung befähigt ihre Aneignung zur psychischen Beherrschung der praktischen Anforderungen, die die Teilnahme am gesell-schaftlichen Arbeitsprozess stellt. Konkreter: Die von Marx für das Kennzeichen des Menschen, den Stoffwechsel mit der Natur durch Arbeit zu vermitteln, vorausgesetzte Eigenschaft, Zwecke zu setzen und Arbeitsprozesse zu planen, ist eine psychische Fähigkeit, die selbst bestimmten Voraussetzungen unterliegt und in ihren entwickelten Stufen ohne psychische Mittel nicht aus-kommt. Zu diesen Voraussetzungen ist nach Wygotski zu allererst die Sprache zu zählen: „Das

mit dem Prozess der Begriffsbildung und der sinnvollen Tätigkeit überhaupt im Zusammen-hang stehende Grundproblem ist das der Mittel, mit deren Hilfe diese oder jene psychologische Operation, diese oder jene zweckentsprechende Tätigkeit ausgeführt wird. Auch die Arbeit des Menschen als sinnvolle Tätigkeit kann nicht damit befriedigend erklärt werden, dass sie durch Ziele und Aufgaben ausgelöst wird, sondern wir müssen sie mit dem Gebrauch der Werkzeu-ge erklären, ohne die die Arbeit nicht hätte entstehen können; ebenso ist das zentrale Problem bei der Erklärung aller höheren Verhaltensformen ein Problem der Mittel, mit deren Hilfe der Mensch das eigene Verhalten beherrschen lernt. Wie die Versuche zeigen, enthalten alle höheren psychischen Funktionen das gemeinsame Merkmal, dass sie vermittelte Prozesse sind, d.h. dass sie in ihre Struktur den Gebrauch des Zeichens als des Hauptmittels zur Lenkung und Beherr-schung der psychischen Prozesse einschließen. Im Problem der Begriffsbildung ist ein solches Zeichen das Wort, das als Mittel zur Bildung eines Begriffs auftritt und später dessen Symbol ist.“ (Wygotski 1971, 110f)

Mit diesem Ansatz, nach den Mitteln höherer psychischer Funktionen zu fragen, taucht eine Dimension der über Sprache vermittelten Verschränkung menschlicher Subjektivität und Praxis auf, die in früheren Theorien über Sprache fehlt. Sprache ist hier weder ein Mittel der Einwir-kung auf Andere oder Abstimmung mit Anderen noch eines, mit dem sich Zusammenhänge der Wirklichkeit erfassen und durchschauen lassen, also eins der Erkenntnis, sondern sie ist ein Mit-tel des Festhaltens und Gliederns der eigenen Handlungen. Sie ist nicht MitMit-tel zum Erreichen von Zwecken, sondern ein Mittel der Zwecksetzung überhaupt. Wie weit die Verschränkung dieser handlungssteuernden Funktion mit der praktischen Intelligenz ist, bleibt bei Wygotski im Unklaren. Einerseits machen seine Beobachtungen des egozentrischen Sprechens klar, dass es sich hier um eine unmittelbar die Praxis betreffende Funktion des Denkens handelt, andererseits stellt er die praktische Intelligenz des Werkzeuggebrauchs dem sprachlichen Denken gegenüber.

Beides schließt sich selbstverständlich nicht aus. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Kontempla-tion im sprachlichen Denken einen Verselbständigungsprozess gegenüber dem unmittelbar prak-tischen Problemlösen und Zieleverfolgen darstellt, aber gleichzeitig Reflexionsprozesse wieder zurück in das Handeln eingehen. Bis zu welchem Niveau an Zwecksetzung und Handlungs-plänen praktische Intelligenz ohne Sprache gelangen kann, also die Frage, welche Art Praxis Sprache in einem absoluten Sinn ermöglicht, dazu liefert die Kulturhistorische Schule keine ge-nauen Ergebnisse, sondern nur Anhaltspunkte, die allerdings einen bedeutenden Fortschritt für die Einsicht in die Rolle der Sprachzeichen im menschlichen Entwicklungsprozess bedeuten.

Das Zeichen tritt demgemäß zwischen das tätige Lebewesen und sein Objekt, und zwar nicht einfach als dessen Repräsentation, sondern als eingeübter, produzierter Stimulus zur Organi-sation der Praxis des ersteren. „Das Schaffen und der Gebrauch von künstlichen Stimuli als Hilfsmittel zur Beherrschung der eigenen Reaktionen ist auch die Grundlage jener neuen Form

der Bestimmtheit des Verhaltens, die das höhere Verhalten von dem elementaren unterscheidet.

[. . . ] Diese künstlichen Mittel-Stimuli, die vom Menschen in die psychologische Situation ein-geführt werden und die die Funktion der Selbststimulation haben, nennen wir Zeichen“ (zitiert nach Rissom (1979, 12)). Dabei übernimmt das Zeichen, sobald es angeeignet und etabliert ist, eine Reihe von psychischen Funktionen: „Das Experiment hat gezeigt, dass der funktionale Ge-brauch des Wortes oder eines anderen Zeichens als Mittel zur aktiven Lenkung der Aufmerksam-keit, zur Gliederung und Aussonderung der Merkmale, zu ihrer Abstrahierung und Synthese ein notwendiger Teil des Gesamtprozesses ist. Die Begriffsbildung oder die Tatsache, dass ein Wort eine Bedeutung annimmt, ist das Resultat einer komplexen aktiven Tätigkeit (das Operieren mit einem Wort oder einem Zeichen), an der alle intellektuellen Funktionen in einem spezifischen Zusammenhang beteiligt sind. Die Untersuchung zeigt, dass die Begriffsbildung ein besonde-res Denkverfahren darstellt und dass der die Entwicklung dieses neuen Verfahrens bestimmende Faktor nicht die Assoziation ist, wie viele Autoren annehmen, nicht die Aufmerksamkeit (Mül-ler), nicht das Urteil und die Vorstellung (K. Büh(Mül-ler), nicht die determinierende Tendenz (Ach) – alle diese Momente sind an der Begriffsbildung beteiligt, aber keines von ihnen kann in an-gemessener Weise die Entstehung der neuen qualitativ eigenständigen und nicht auf andere

[. . . ] Diese künstlichen Mittel-Stimuli, die vom Menschen in die psychologische Situation ein-geführt werden und die die Funktion der Selbststimulation haben, nennen wir Zeichen“ (zitiert nach Rissom (1979, 12)). Dabei übernimmt das Zeichen, sobald es angeeignet und etabliert ist, eine Reihe von psychischen Funktionen: „Das Experiment hat gezeigt, dass der funktionale Ge-brauch des Wortes oder eines anderen Zeichens als Mittel zur aktiven Lenkung der Aufmerksam-keit, zur Gliederung und Aussonderung der Merkmale, zu ihrer Abstrahierung und Synthese ein notwendiger Teil des Gesamtprozesses ist. Die Begriffsbildung oder die Tatsache, dass ein Wort eine Bedeutung annimmt, ist das Resultat einer komplexen aktiven Tätigkeit (das Operieren mit einem Wort oder einem Zeichen), an der alle intellektuellen Funktionen in einem spezifischen Zusammenhang beteiligt sind. Die Untersuchung zeigt, dass die Begriffsbildung ein besonde-res Denkverfahren darstellt und dass der die Entwicklung dieses neuen Verfahrens bestimmende Faktor nicht die Assoziation ist, wie viele Autoren annehmen, nicht die Aufmerksamkeit (Mül-ler), nicht das Urteil und die Vorstellung (K. Büh(Mül-ler), nicht die determinierende Tendenz (Ach) – alle diese Momente sind an der Begriffsbildung beteiligt, aber keines von ihnen kann in an-gemessener Weise die Entstehung der neuen qualitativ eigenständigen und nicht auf andere

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 117-125)