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Sprache als Kalkulationsmittel

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 171-174)

Brandom behauptet, dass sich Rationalität und Denken aus den von der Logik explizierten Zei-chenoperationen her erschließt. Es wurde dagegen eingewandt, dass sich erstens Rationalität nur aus dem Zusammenhang des Denken mit dem Handeln bestimmen lässt und zweitens logische Schlussregeln nureineSorte von Regeln darstellen, nach denen in den Operationen des sprach-lichen Denkens verfahren wird, und dass sie allein nicht hinreichen, um Gedankengänge und Denkweisen zu charakterisieren.

Wenn auf den Grundzusammenhang zwischen Zeichengebrauch und Handlungsfähigkeit ab-gehoben wurde, um zu zeigen, dass Sprache nicht in erster Linie, sondern nur als Moment Er-kenntnismittel ist, dass sie sich als Orientierungsmittel bestimmen lässt, so kam dabei bislang

die partielle Eigenständigkeit der Zeichenoperationen als Denktätigkeit etwas kurz. Das einfa-che Beispiel des Pilzesammelns kann nicht eben als Herausforderung für den gebildeten Intellekt durchgehen. Die wenigen ausschlaggebenden sinnlichen Eigenschaften zu überprüfen, die eine Klassifikation erlauben, verlangt selbst dem Ungeübten keine längeren Gedankengänge ab.

So leer ist die vergesellschaftete Gedankenwelt der Menschen nicht und ebenso wenig die materiellen und gesellschaftlichen Orientierungsanforderungen, dass die Orientierung verschaf-fenden Zeichenoperationen auf schematisches Klassifizieren und Handeln beschränkt blieben.

Das macht diesen Gegenstand wiederum zu schwer zu behandeln, denn Denken bewegt sich wesentlich in Abarbeitung am Einzelnen und im Besonderen; das Allgemeine ist immer nur ein Moment und wird zur blassen Abstraktion, wenn man es wie in der Logik (als allgemeine Schlussregeln) getrennt behandelt. In die Erschließung des Einzelnen geht das Allgemeine ein, aber es geht nicht darin auf. An der roten Ampel hält man an. Aber wenn nun die Zeit drängt, ins Krankenhaus zu kommen, fährt man vielleicht weiter. Es ist jeweils eine neue Arbeit des Denkens, das Einzelne mit dem Besonderen und Allgemeinen zusammenzubringen, und wie in jeder Arbeit gibt es Routine und Ausnahmen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern.

Es ist ein wichtiges Charakteristikum des sprachlichen Denkens, dass es Kalkulieren mit Zei-chen einschließt. Die Durchdringung und Einordnung der Wirklichkeit, Techniken der Naturbe-herrschung und des Zurechtfindens in der Gesellschaft, verlangen ein Auseinanderlegen, Kom-binieren und Synthetisieren der Elemente. D.h. sie verlangen Kalkulationstechniken. Damit sind nicht nur geradlinige Rechenoperationen wie in den einfachen Bereichen der Mathematik ge-meint (deren Geradlinigkeit ja bei Beweisproblemen auch recht schnell endet). Eine gar nicht so schematische Alltagstechnik ist zum Beispiel die Entscheidungsfindung, in der man sich die Optionen und ihre Vor- und Nachteile vorrechnet und dabei Gegebenheiten, Mittel, Wünsche und Bewertungen zueinander in Beziehung setzt. Oder die Urteilsfindung im Recht, in dem manche Fälle klar und leicht in die vorausgesetzten Bestimmungen einzuordnen sind, andere hingegen einiges an Deutungsleistung abverlangen, also bildlich gesprochen die Arbeit, gera-de Linien durch das Gesetzeswerk zu zeichnen, die sich in gera-den Bestimmungen gera-des besongera-deren Falles schneiden.

Wie wird mit Bestimmungen, Urteilen, Regeln kalkuliert? Es wird untersucht, ob die Bedin-gungen für ein bestimmtes Urteil erfüllt sind – je nachdem kann dann mit den Folgerungsbezie-hungen, die diesem Urteil anhaften, weitergearbeitet werden. Spricht zum Beispiel einiges dafür, dass sich jemand hinterhältig statt nachlässig verhält, dann bestimmt man Motive und folglich die Bedeutung von Handlungen anders und stellt sich anders dazu. Sätze, die explizit Regeln ausdrücken, werden in der Kalkulation dazu herangezogen, von schon gesetzten Bestimmungen zu weiteren Annahmen überzuleiten. In der Kalkulation, z.B. beim Vergleichen mit vergange-nen Situatiovergange-nen, werden bekannte Muster aufgerufen, Parallelen hergestellt, aus devergange-nen

Analo-gieschlüsse gezogen werden. So läuft Denken gewöhnlich ab: keine geradlinige Deduktion aus klaren Prämissen mit eindeutigen Schlussregeln, sondern es werden Satzübergänge gemacht, die sich so oder ähnlich bewährt haben oder die man auf Vertrauen hin so gelernt hat. Das bedeutet nicht, dass man es mit Beliebigkeit zu tun hat. Regeln und Urteile werden auch mal überprüft, in Frage gestellt, ja widerlegt. In manchen Arugmentationsketten lässt sich genau der Über-gang identifizieren, an dem ein Fehler gemacht wurde (diese Eigenschaft ist ein definitorisches Merkmal dessen, was man als mathematische Beweise auffasst). Viele Einordnungen und Argu-mentationen im Alltagsdenken arbeiten mit Vagheiten, weil die Sache oder das Wissen darüber gar nichts anderes zulässt. Es werden Muster konstruiert, um Anhaltspunkte für eine Einschät-zung zu gewinnen, Parallelen werden hergestellt, um überhaupt ein Vergleichwissen heranzuzie-hen. Übergänge sind hier nicht einfach regelkonform oder regelwidrig, sondern plausibel oder unplausibel. Vielleicht gibt es nicht einen Übergang, der falsch ist, sondern die systematische Ausblendung einer Seite der Sache, die sich durch eine ganze Darstellung zieht. So kann es zu einem Streit darüber kommen, ob Relevantes als nebensächlich vernachlässigt wurde. Oder man gerät in einen Widerstreit, indem gleichermaßen plausible Analogien herangezogen werden, die zu konträren Schlüssen Anlass geben.

Was leistet sprachliche Kalkulation, das Durchdenken einer Sache, für die Orientierung? Ob eine Handlung zweckmäßig oder sachgerecht ist, hängt nicht nur von der Handlung, sondern auch von der Sache ab. Herzmassage ist bei Herzstillstand förderlich, bei einer bloßen Ohn-macht schädlich. Während die jeweils angemessenen Handlungen weit auseinanderliegen, ja sich sogar konträr zueinander verhalten, liegen die zugänglichen Merkmale, anhand derer man sich orientieren kann, welcher Fall vorliegt, recht nah beieinander. Eine gute Orientierung leistet eine zweckmäßige Zuordnung der Wahrnehmung und der erinnerten Kenntnis einer Sache oder Situation zu brauchbaren Bewertungen oder Handlungsmöglichkeiten. Blindes oder unüberleg-tes Handeln steht nicht von ungefähr in schlechtem Ruf. Routinierunüberleg-tes Handeln ist recht direkt in der Identifizierung der relevanten Informationen. Doch die Handlungsräume, mit denen Men-schen in der Gesellschaft und in der Naturbeherrschung konfrontiert sind, lassen sich nicht auf einfache Routine reduzieren, auch wenn Maschinisierung die arbeitsteilige Trennung von Kopf-und Handarbeit ermöglicht, die letztere partiell auf quasi mechanisches Niveau herabdrückt. Wo man in der Orientierung dagegen mit mannigfaltigen Konstellationen konfrontiert ist, da hat man es häufig auch mit solchen, die man genau so nicht kennt, zu tun. Hier kann man nicht unmit-telbar auf Erfahrung zurückgreifen, sondern muss diverse Erfahrungen auf die Sache beziehen, um zu einer Einschätzung zu gelangen. Das ist eben die Vermittlungsleistung einer Kalkulation bzw. eines Kalküls. Denn Kalkulieren ist eine Technik des Operierens mit Zeichen, die Aneig-nung entsprechender Operationsregeln voraussetzt. Und diese Regeln sind teils allgemeiner oder formeller Art wie der Gebrauch der Ausdrücke ‚alle‘ oder ‚wenn. . . dann‘, teils auch

besonde-rer Art, nämlich der Gebrauch der eigentümlichen Begriffe, Sätze und auch Satzübergänge, die einen spezifischen Orientierungsbereich erschließen.

4.4 Systemcharakter sprachlicher Orientierung als Materialität der

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