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Systemcharakter sprachlicher Orientierung als Materialität der Sprache

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 174-189)

Die leitende Fragestellung war, welche Bedeutung die Sprache in der gesellschaftlichen Vermitt-lung spielt. Bevor die gesellschaftliche Ebene direkt zum Gegenstand wird, sollte zuerst erkundet werden, welchen Unterschied Sprache potentiell für die individuelle Handlungsfähigkeit ma-chen kann. Die Bestimmung der Sprache als Kommunikationsmittel erfasst diesen Unterschied nicht, weil damit nicht verstanden ist, was der „Empfänger“ mit dem Kommunikationsinhalt nun anstellen kann. Es geht an der Bedeutung der Sprache vorbei, wenn ihre Leistung nur in der Mit-teilbarmachung dessen gesehen wird, was ohne sie trotzdem vorhanden sein könnte. Eine Seite der Leistung wurde in der Koordinierung des Handelns mehrerer Individuen gefunden, in der Aufteilung der Handlungen für einen gemeinsamen Zweck auf mehrere Individuen. Aber auch diese Leistung hat noch die Voraussetzung, dass die Individuen selbst sich danach richten können müssen. Als tiefste Bestimmung zur Erklärung der Leistung der Sprache wurde entwickelt, dass die verinnerlichte Technik des Operierens mit Zeichen ein Orientierungsmittel ist. Orientierung ist unter anderem ein wesentlicher Bestandteil von sozialen Beziehungen und Sittlichkeit, die sprachliche Formierung des Handelns in der Gesellschaft stellt eine ihrer wesentlichen Vermitt-lungsleistungen dar. Recht ist ein hervorragendes Beispiel, an dem die notwendige Vermittlung durch Sprache unmittelbar evident ist. Daher konzentrierte sich die Analyse auf den Bereich, in dem die Leistung sprachlicher Vermittlung am schwersten zu fassen ist, dem der rationalen Be-herrschung der gegenständlichen Welt. Am schwersten, weil man es hier mit einem Tätigkeitsbe-reich zu tun hat, der zunächst wesentlich als physische Bearbeitung der Dinge mittels materieller Werkzeuge erscheint. Dass das sprachliche Fixieren des Ziels der Tätigkeit und damit das ideel-le Zusammenfassen und zweckmäßige Beziehen der Teilhandlungen aufeinander Voraussetzung komplexer Arbeiten ist, liefert andererseits anschaulich den Nachweis, wie Sprachbeherrschung die Handlungsfähigkeit über die unmittelbare sinnliche Situation oder direkte Bedürfnisorien-tierung hinaustreibt zu komplexen Zweckketten und Bedeutungszusammenhängen. Weil bei der Naturbeherrschung im Gegensatz zu sozialen Interaktionen keinerlei Wirkung der Sprache auf die Sache eine Rolle spielt, zeigt sich hier in Reinform die handlungserweiternde Bedeutung der Sprache auf Seiten der Menschen, die sich die Tätigkeiten mitsamt ihrer sprachlichen Ver-mittlung angeeignet haben. Die sprachliche Seite daran ist die Selbsttechnik, mittels Zeichen die verfügbaren Mittel und Handlungen zu analysieren und frei zu kombinieren und auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu prüfen, ohne nur einen Finger zu rühren; aber auch unter Zuhilfenahme

der Finger Dinge hinsichtlich ihres Gebrauchswerts zu erproben, auszuwerten und zu modifizie-ren.

Orientierung bedeutet, die Erwartung oder das Handeln anhand von Vorannahmen erfolgver-sprechend auszurichten. In vielen Bereichen des menschlichen Lebens lässt sich Erfolg, nach Maßgabe der Handlungsziele, relativ gut reproduzieren. Die Sprache, als Stoff der geistigen Reproduktion, wird zum Mittel der praktischen Reproduktion: Wie es sich aktuell verhält und verhalten wird, wird ermessen durch Abschätzung des Vergangenen.

In eine Situation gestellt, ist Denken das Mobilisieren und Zusammenstellen der darauf be-ziehbaren Regeln. Man hat es nicht einfach mit Inferenzstrukturen zu tun, sondern mit dem Her-vorholen, Kombinieren, Durchgehen, aufeinander Beziehen der Bestimmungen, ihrer nächsten Folgerungen sowie der erinnerten Vergleichserfahrungen. Als Materialität der Sprache kann die Internalisierung des ganzen Sets sprachlicher Regeln und sprachlichen Wissens gelten, die zum Denken, Beurteilen, Bewerten mobilisiert werden. Die Aufnahme neuer Regeln in den Denk-haushalt und die Modifikation des Wissens und der Begriffe ist als Arbeit an der Sprache zu werten. Eine geistige Anstrengung wird insofern abverlangt, als ein gewisses Maß an Konsis-tenz und Kohärenz hergestellt werden muss, um die Brauchbarkeit für die Orientierung nicht zu untergraben. Das bedeutet dann, Zusammenhänge mit anderen Regeln herzustellen, vielleicht auch, manche frühere Festlegungen zu revidieren oder einzuschränken; Teilbereiche der Spra-che umzubauen.

Mehr Arbeit, größere Anstrengung erfordert es, ganz neue Sprachbereiche aufzubauen oder größere Wissens- oder Bewertungsbereiche umzubauen. Die Aneignung einer neuen Denkweise besteht nicht darin, ein paar allgemeine Sätze reproduzieren zu können, sondern solche Sätze charakterisieren eher die Denkweise auf allgemeinster Ebene. Man könnte bei Denkweise auch gleich von Kultur sprechen, und eine Kultur ist ein in sich querverstrebtes System von Praktiken und Reflexionen, das nicht dadurch ausgetauscht wird, dass man schlicht die expliziten Prinzi-pien austauscht. Das heißt umgekehrt nicht, dass PrinziPrinzi-pien als allgemeine Orientierungsregeln nicht zum Ausstrahlungszentrum für das ganze Denken werden können.

Wenn die Materialität der Sprache im ganzen Set der Regeln besteht, die zur Orientierung herangezogen werden, dann zeigt sich diese Materialität in der Festigkeit der Tätigkeiten und Praxis, die von Denken und Reflexionen durchdrungen sind. Dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, kann nun so übersetzt werden: Mindestens ein wesentlicher Teilbereich der individuell angeeigneten Sprache bietet Orientierung für den Ausschnitt der Gesellschaft, in dem sich das Individuum bewegt. Gesellschaftliche Arbeitsteilung erlaubt die Konzentration der Orientierungsfähigkeit in bestimmten Produktionssektoren auf wenige Individuen, während alle anderen mit den entsprechenden Produktionsapparaten und -stätten nichts anzufangen wissen.

Mit der Scheidung ökonomischer Klassen, sozialer Schichten, Geschlechter, Altersgruppen etc.

kommt die Differenzierung von Anforderungen an die individuelle Reproduktion und Anerken-nung von sozialen Verhaltensweisen, daher innergesellschaftliche Differenzierung von Orientie-rungswissen, das schließt Orientierung in den jeweiligen Bereichen der Dingwelt ebenso ein wie Orientierung in Lebensführung und kulturellen Ansprüchen.

Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein hingegen nicht in der Weise, dass Hand-lungsorientierungen insgesamt eindeutig durch die gesellschaftliche Konstellation determiniert würden. Gesellschaftliche Zwänge reflektieren sich in den Reflexionen der Menschen, die ihnen ausgesetzt sind. Das bedeutet zunächst nur, dass sie zu spüren bekommt, wer sie nicht reflek-tiert. Darüber hinaus bedeutet es, dass Wege des Umgangs mit Zwängen und Anforderungen sowie Reflexionen über ihre Notwendigkeit oder Veränderbarkeit Bestandteil des reproduzierten Gedankenguts, der zirkulierenden Diskurse, sind. In der Sprache setzt sich die Vorstellung oder Einschätzung, dass bestimmte Umstände oder Voraussetzungen nicht im Bereich des Änderba-ren liegen, in Form grammatischer Sätze fest, die in der Orientierung die Funktion haben, keine (angenommenermaßen) unnötigen Denkumwege über Sackgassen zu machen.

Doch diese Funktion ist ambivalent: sie hilft, die Handlungsoptionen überschaubar zu hal-ten, und lenkt andererseits den Blick von Möglichkeiten ab. Auch Handgriffe oder bestimmte Schachzüge, also Handlungen im Kleinen, können unsinnig erscheinen, bevor man die Konse-quenzen ein bisschen weiter durchdenkt oder einfach überraschende Erfahrungen damit macht, wenn andere sie sinnvoll einsetzen. Allgemein lässt sich aber vermuten, dass regelrechte Illusio-nen und falsche Begriffe am wildesten dort blühen, wo die Verhältnisse komplex und der Zugriff der Handelnden sehr vermittelt ist; wo beispielsweise ein System gesellschaftlicher Beziehun-gen durch die innerhalb dieses Systems logischen HandlunBeziehun-gen aufrechterhalten wird und diese Beziehungen zu Verhältnissen gerinnen, auf die sich alle gesellschaftsändernden Handlungen nur als Voraussetzungen, nicht als Setzungen beziehen.

Die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Reichtums ist in kapitalistische Gesellschaften eine permanent reproduzierte Voraussetzung, als Problemlösung kommt daher zunächst nur eine gegensteuernde Umverteilung in den Sinn. ‚Die Frau‘ erscheint dem sexistisch-biologistischen Denken ‚naturgemäß‘, nicht durch gesellschaftliche Reproduktion von vergeschlechtlichten Subjektivitäten, als technikunbegabt. Dazu kann sich dann ‚der Mann‘ spottend oder hilfsbereit verhalten, in beiden Fällen das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis reproduzierend, indem er sich dazu als Naturtatsache verhält.

Dadurch, dass Wirklichkeitsbereiche von der bewussten Beeinflussung und Lösungssuche ausgenommen werden, sind sie aber nicht aus dem Denken ausgeschlossen: Insofern ihnen eine Bestimmung zugeschrieben wird, Urteile über sie gefällt werden, halten sie noch zur Rechtferti-gung oder Begründung praktischer Schlüsse her. Weil die Überflutung von Jahr zu Jahr zunimmt, müssen die Dämme verstärkt werden. Weil ‚die Wirtschaft‘ nun mal zum Exzess neigt, muss sie

reguliert werden. Weil ‚Gott‘ alles und uns geschaffen hat, sollen ‚seine‘ Gebote geehrt werden.

Urteile über die Natur einer Sache oder die größeren Zusammenhänge sind Bestandteil des sprachlichen Orientierungsnetzes. Sprache bildet ein System, aber nicht nur auf der begrifflichen Ebene, wo Farben nach ihren Misch- und Ausschlussverhältnissen und Tiere nach ihren Gattun-gen geordnet werden, sondern sie bildet ein Orientierungssystem, mit dem sich Handlungsräume rekonstruieren und konstruieren lassen, das Situationen danach ordnet, welche Handlungen mit welchem Ergebnis möglich und angemessen sind, und warum sie es sind. Die Situation, die Umwelt, die Dinge und ihren aktuellen Status festzustellen und sich darauf praktisch einzu-stellen, bedeutet, sie innerhalb eines Orientierungssystems zu verorten. Verschiedene Orientie-rungssysteme bestehen nicht nur innerhalb einer Gesellschaft nebeneinander auf verschiedene Personen und Personengruppen verteilt, sondern können auch innerhalb derselben Person innere Deutungs- und Entscheidungskonflikte generieren. Für alle Orientierungssysteme gilt, dass sie einerseits tatsächlich die Wirklichkeit widerspiegeln, insofern sie ein objektives, nicht psychoti-sches Sich-Beziehen auf die Welt einschließen, andererseits aber auch ein spezifipsychoti-sches Verhalten dazu bedeuten und damit eine subjektive Komponente besitzen. Objektiv meint dabei nicht wahr, sondern ausgerichtet an der Sache, subjektiv meint nicht Vereinzelung oder bloße Meinung, son-dern Bestimmungen setzend, gestaltend, ausgerichtet an Zwecken.

Als Beispiel für ein fundamentales Orientierungssystem in kapitalistischen Gesellschaften kann das gesellschaftliche Verhältnis des Privateigentums gelten. Dabei handelt es sich um ein durch Staatsgewalt durchgesetztes gesellschaftliches Anerkennungsverhältnis, das die Verfü-gung über die Dingwelt bzw. den Ausschluss davon („privat“) regelt, also dem Willen der Indivi-duen bezüglich ihres Eigentums Geltung verschafft, insofern sie andere von dessen Benutzung ausschließen oder es an andere abtreten wollen. Die Beziehung der in solchen Gesellschaften lebenden Menschen zu den Dingen ist sehr grundsätzlich durch dieses Verhältnis vermittelt.

Ein guter Teil der Alltagsorientierung und die sie vermittelnden Sprachspiele stehen mit diesem gesellschaftlichen Verhältnis in Verbindung. Das heißt genauer: sie richten sich nach diesem Verhältnis und bilden gleichzeitig die subjektive Seite seiner Reproduktion.

Mitgliedern dieser Gesellschaft wird beigebracht, dass man zur Benutzung von Dingen erst den Eigentümer um Erlaubnis fragen oder sie erwerben muss; dass man auf seine eigenen Sachen aufpassen muss; dass man Arbeit für Geld tauschen kann; dass Geld als allgemeines Reichtums-äquivalent gilt und man damit haushalten muss etc. Der Ball, der in Nachbars Garten geflogen ist, der versehentliche Kratzer am fremden Auto auf der Straße, die Frage, wie viel etwas kostet und wie lange man dafür sparen muss, wie viel man verdient und was es heißt, den Job zu verlieren oder keinen Kredit mehr zu bekommen, oder auch, welche Optionen das Online-Banking bietet oder wie viel Zinsen das Tagesgeldkonto bietet, was Inflation oder Insolvenz oder eine Erbschaft ist. All diese Logiken sind Derivate der Eigentumslogik, dieses Wissen und diese Praktiken

gehören zum Leben und Handeln in kapitalistischen Gesellschaften.

Ein anderes Orientierungssystem innerhalb dieser Verhältnisse stellt ihre unmittelbare Nicht-anerkennung in Form der Entwendung dar. Diebstahl als Akt missachtet die offiziellen Hand-lungsregeln. Sowohl das Strafrecht, das den juristischen Umgang damit regelt, Polizei, die De-likte verfolgt, als auch der Dieb, der seine individuelle Reproduktion auf die Vermeidung der Strafe baut und deshalb Techniken des unerkannt Bleibens ersinnt, generieren eigene Orien-tierungssysteme. Das spezifische Verhältnis des Diebstahls zum Eigentum ist die individuelle Umgehung der durchgesetzten Orientierungsregeln und ihrer gewaltförmigen Absicherung.

Der moralistische Humanismus, der wohltätige Verantwortung des Reichtums einfordert, legt sich gewissermaßen widersprüchlich über die Eigentumsform. Hier wird neben die absolute An-erkennung des Willens der Eigentümer noch die moralische Forderung eines bestimmten Inhalts dieses Willens gesetzt. D.h. erstens wird der grundsätzliche Ausschluss der Verhungernden vom gesellschaftlichen Reichtum per Privateigentum nicht in Frage gestellt und zweitens wird die Realisierung dieses Ausschlusses seitens der Eigentümer mit Verachtung belegt. Das morali-sche Orientierungssystem ist aber nicht völlig konsequenzenlos. Wohltätigkeitsveranstaltungen mildern das größte Elend und das schlechteste Gewissen.

Ein weiteres Orientierungssystem bezüglich des Eigentumsverhältnisses ist ein politisches, das sich dazu als Ganzes verhält. Marx verhielt sich als Bürger anerkennend zum Eigentum, er hat seine Existenz nicht als Dieb gefristet, als Theoretiker hat er die Eigentumszyklen der Lohnarbeiter und des Kapitals, ihre Gesetze und Konsequenzen analysiert, als Kommunist hat er für die Aufhebung des privateigentümlichen Verhältnisses der Gesellschaft zu ihrem Reichtum argumentiert und seine politische Tätigkeit daran ausgerichtet.

5.1 Allgemeine Überlegungen zur Bedeutung der Sprache in der Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse

Die menschheitsgeschichtliche Entstehung des Orientierungsmittels Sprache hebt die menschli-che Tätigkeit, die sie vermittelt, auf ein Niveau, das wesentlich als Voraussetzung in die Gesell-schaftsorganisation eingeht. Es ist das Niveau von Zweck-Mittel-Ketten, von Wissenschaft und Ideologie, Antizipation und Geschichtsbewusstsein, Planung und Auswertung, Einigung und Er-pressung, Kooperation und Arbeitsanweisung, von gesellschaftlicher Arbeitsteilung, Sittlichkeit, Politik und Institutionen. Von einem Niveau ist deshalb die Rede, weil hierbei zunächst von den jeweiligen historischen Gegenständen der Orientierung, also der Besonderheit der Tätigkeits-kreise einer bestimmten Gesellschaft abgesehen ist, aber diese zumindest teilweise der Organi-sation jeder menschlichen Gesellschaft – welchen Charakters auch immer – zugrunde liegenden Tätigkeiten eine Reichweite, Diversifizierung, Flexibilität, Kommunizierbarkeit und Verallge-meinerung der Orientierungsleistungen erfordern, die eine materielle Vermittlung in Zeichen-form voraussetzen. Ist Sprache einmal zum allgemein durchgesetzten Zwischenglied menschli-chen Verkehrs geworden, lässt sie sich neuen Anforderungen und Zwecken gemäß umarbeiten:

Die Einführung neuer Namen und Begriffe, die Übertragung der bereits entwickelten Denkmit-tel auf neue Umstände, die Bildung von Urteilen in neuen Situationen ist mehr oder weniger Bestandteil jeder Sprachpraxis. Wenn sich neue Zusammenhänge oder Probleme in den Lebens-umständen auftun oder neue Technologien oder Kulturtechniken entwickelt werden, denen ein Gebrauchswert zugeschrieben wird, dann hat dies eine sprachliche Seite, wird in die Sprache hineingebildet – nicht einfach als äußerliches Erinnerungsmittel, das zu der neuen Praxis bloß hinzutritt, sondern als integrales Moment, insofern die Sprache in Form ihrer Unterscheidungen und Übergänge in die Unterscheidungspraxis selbst eingeflochten ist.

In dieser Weise machen Menschen ihre Sprache selbst, aber unter vorgefundenen Bedingun-gen im doppelten Sinn: einerseits in Form einer bestehenden Gesellschaft mit ihrem materiellen Reichtum, ihren Arbeits- und Verkehrsformen und den in ihr lebenden Menschen mit ihren un-terschiedlichen Stellungen, Beziehungen, Haltungen und Bedürfnissen und andererseits in Form der dazugehörigen Orientierungs- und Denkmittel, die sie sich im individuellen

Vergesellschaf-tungsprozess in ihrer gesellschaftlichen Umgebung und in Konfrontation mit den Orientierungs-gegenständen ihrer eigenen Lebensbedingungen angeeignet haben und tagtäglich gebrauchen, indem sie sich durch die Urteile, Schlüsse und Kommunikationsakte ihrer Lebenstätigkeit be-wegen und ihre Erfahrungen in gedanklichen Übergängen fixieren und austauschen. Einerseits hat man es dabei mit zwei unterscheidbaren Seiten, der materiell-praktischen und der sprach-lichen, zu tun, andererseits bedingen sich beide gegenseitig und sind miteinander verschränkt.

Das ganze Problem der gesellschaftlichen Realität der Sprache dreht sich um diese Bestimmung und die Schwierigkeit, es nicht nach einer Seite hin aufzulösen. Daher soll zunächst noch ein-mal allgemein, d.h. auf der Ebene verständiger Abstraktion, die Frage aufgegriffen werden, wie dieses Verhältnis, in dem Sprache und materielle Praxis durch ihre Verschränkung stehen, ana-lysiert werden kann, um dann im Folgenden drei in marxistischer Tradition stehende Versuche, diese Verschränkung teils theoretisch teils in konkreten Analysen in den Griff zu bekommen, unter die Lupe zu nehmen.

Jede Gesellschaft hat die zwei Seiten, in der gemeinschaftlichen Organisation des Naturver-hältnisses der Individuen sowie des VerNaturver-hältnisses der Individuen untereinander zu bestehen.

Insofern Individuen selbst einer materiellen Reproduktion bedürfen, ist ihr gesellschaftliches Naturverhältnis in Form von Arbeit eine Grundbedingung des Daseins jeder Gesellschaft. Die dafür nötigen Kenntnisse, Techniken und Fähigkeiten müssen der Form der Arbeitsteilung ent-sprechend von den jeweiligen Teilen des Gesamtarbeiters beherrscht und an nachkommende Generationen weitergegeben werden. Von den Techniken der Naturbeherrschung sind die ge-sellschaftliche Organisation der Arbeit, die Verkehrs- und Beziehungsformen der Gesellschaft zu unterscheiden, in denen die Verhältnisse zwischen den Individuen geregelt werden. In der Be-arbeitung der Natur erfolgt die Aneignung dieser Techniken einseitig: Arbeiter eignen sich (his-torisch entdeckte) Regeln an, denen folgend die Natur durch Einsatz von Arbeitskraft menschli-chen Zwecken gemäß gemacht werden kann, die Natur dagegen verhält sich allenfalls regelmä-ßig (ein kleines Zwischenfeld bildet die Dressur von Tieren) und wird in der Arbeit unter Aus-nutzung dieser Regelmäßigkeiten neu zusammengesetzt. Die Verhältnisse zwischen Menschen dagegen haben zur Grundlage, dass das Handeln aller Beteiligten, die wechselseitig aufeinander einwirken, von Regeln und Zwecken durchdrungen ist.

Zugleich durchdringen sich das Verhältnis zur Natur und das der Gesellschaftsglieder un-tereinander. Die gesellschaftliche Organisation der Arbeit, Entscheidungen über Arbeitsformen sowie Arbeitsmittel unterliegen, wenn sie irgendeine Art gesellschaftlicher Reproduktion ge-währleisten sollen, zwar der Voraussetzung, dass tatsächlich die gewollten Gebrauchswerte re-sultieren, also einer Naturvoraussetzung, die die Gesellschaft nur in den Grenzen des technischen Fortschritts in der Hand hat. Dies aber gewährleistet, handelt es sich bei der Form des Stoffwech-sels mit der Natur um eine Frage der gesellschaftlichen Regelung und Zwecksetzung. Ebenso

bei der Produktivkraftentwicklung selbst: Es unterliegt nicht der menschlichen Willkür, welche Techniken der Naturbeherrschung überhaupt möglich sind, dagegen schon, in welche Richtung ihre Entwicklung betrieben wird. Umgekehrt kommen Naturvoraussetzungen auch in den Ver-kehrsverhältnissen einer Gesellschaft zur Geltung: Die organische Natur der Individuen hat eine allgemeine Bedeutung für die Bedingungen ihrer Reproduktion und für die Anforderungen, die die Arbeit an ihre Körper stellen kann. Sie spielt aber ebenfalls eine Rolle beispielsweise bei Institutionen wie einer Gefängnishaft, die zwar eine willkürliche gesellschaftliche Einrichtung darstellt und etwa über ein Rechtssystem und über ihre ideellen Zwecke wie Strafe oder Läute-rung einiges mit gesellschaftlicher Regelung zu tun hat, aber als Akt selbst von den Regeln, die sich das betroffene Individuum angeeignet hat, absieht und auf seine Naturseite geht, insofern der körperliche Bewegungsradius durch Barrieren massiv eingeschränkt wird.

Das Produktionsniveau einer Gesellschaft entscheidet nicht (zumindest nicht unmittelbar) dar-über, welche Bewertung der materielle Reichtum erfährt und wie er und die Arbeit zu seiner Erzeugung verteilt werden. Es entscheidet allerdings darüber, wie viel überhaupt verteilt wer-den kann, welche materiellen Bedürfnisse potenziell befriedigt werwer-den können. Das Produkti-onsniveau unterliegt nicht einfach dem gesellschaftlichen Willen, sondern hat seine historische Schranke am jeweiligen Stand der Naturaneignung. Diese hat folgende drei Momente: Stand der materiellen Mittel zur Naturbearbeitung, körperliche Ausbildung der Arbeitenden (was Motorik und Koordination der spezifischen Arbeitstätigkeiten einschließt) und die geistige Seite, also der Stand der Theoriebildung sowie die sprachliche Vermittlung der Aneignung der entsprechen-den Tätigkeiten. Sprache ist dabei nicht einfach die Kehrseite oder nur abstrakte Bedingung der Technologieentwicklung, sondern besitzt eine partielle Selbständigkeit, die sich teils als Hemm-nis, teils als Zugkraft geltend macht. An wissenschaftlichen Paradigmenwechseln wird sichtbar, wie ein Orientierungssystem nicht nur zweckmäßige Handlungsfolgen schnell reproduzieren lässt, sondern gleichzeitig andere beschneidet und in der Weise als Schranke wirken kann. Um-gekehrt ist erst durch die Sprache die Möglichkeit gegeben, Probleme formulieren und festhalten und dadurch aktiv Lösungen suchen zu können.

Das Produktionsniveau einer Gesellschaft entscheidet nicht (zumindest nicht unmittelbar) dar-über, welche Bewertung der materielle Reichtum erfährt und wie er und die Arbeit zu seiner Erzeugung verteilt werden. Es entscheidet allerdings darüber, wie viel überhaupt verteilt wer-den kann, welche materiellen Bedürfnisse potenziell befriedigt werwer-den können. Das Produkti-onsniveau unterliegt nicht einfach dem gesellschaftlichen Willen, sondern hat seine historische Schranke am jeweiligen Stand der Naturaneignung. Diese hat folgende drei Momente: Stand der materiellen Mittel zur Naturbearbeitung, körperliche Ausbildung der Arbeitenden (was Motorik und Koordination der spezifischen Arbeitstätigkeiten einschließt) und die geistige Seite, also der Stand der Theoriebildung sowie die sprachliche Vermittlung der Aneignung der entsprechen-den Tätigkeiten. Sprache ist dabei nicht einfach die Kehrseite oder nur abstrakte Bedingung der Technologieentwicklung, sondern besitzt eine partielle Selbständigkeit, die sich teils als Hemm-nis, teils als Zugkraft geltend macht. An wissenschaftlichen Paradigmenwechseln wird sichtbar, wie ein Orientierungssystem nicht nur zweckmäßige Handlungsfolgen schnell reproduzieren lässt, sondern gleichzeitig andere beschneidet und in der Weise als Schranke wirken kann. Um-gekehrt ist erst durch die Sprache die Möglichkeit gegeben, Probleme formulieren und festhalten und dadurch aktiv Lösungen suchen zu können.

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 174-189)