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Aneignung und geistige Operationen

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 133-142)

Die Entwicklung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur ist nicht nur mit einem wach-senden Arsenal verschiedenster Werkzeuge verbunden, es wird auch eine akkomodierte Lebens-welt geschaffen, die mit vielfältigen Gebrauchsgegenständen bevölkert ist. Dies ist die „dem Menschen nächste Welt, die sein Leben am meisten bestimmt [. . . ] Indessen ist sie als Welt der gesellschaftlichen Gegenstände, der Gegenstände, die menschliche Fähigkeiten verkörpern, dem Individuum nicht unmittelbar gegeben. In dieser Eigenschaft ist sie für jeden einzelnen Menschen aufgegeben. Selbst die elementarsten Werkzeuge, Instrumente oder Gebrauchsgegen-stände, auf die das Kind zum ersten Male stößt, muss es in ihrer spezifischen Eigenschaft aktiv erschließen.“ (Leontjew 1969, 16) In dem Reichtum an Gebrauchswerten drückt sich sowohl von Seiten ihrer Herstellung als auch von Seiten ihrer zweckmäßigen Benutzung ein ebensol-cher Reichtum an physischen und psychischen Fähigkeiten aus. Der Umbildung der Naturstoffe in der Reproduktion des materiellen Reichtums entspricht die Umbildung menschlicher Kör-per und Köpfe in der gesellschaftlichen Reproduktion der Fähigkeiten, die zur produktiven und konsumtiven Benutzung des materiellen Reichtums nötig sind.

Diese Überlegung war Ausgangspunkt einer Theorieverschiebung innerhalb der

Kulturhis-torischen Schule. Während Wygotski sich, ausgehend von der marxistischen Bestimmung ma-terieller Arbeit, nach der Analogisierung von gegenständlichem Werkzeug und Zeichen auf die psychologische Entwicklung hinsichtlich der Interiorisierung der letzteren konzentrierte, begann Leontjew, die Kategorien der Psychologie über das Verhältnis von Lebewesen und insbesonde-re Menschen zur gegenständlichen Welt insgesamt zu bestimmen. Die Psychologie wurde von der Seite der äußeren Tätigkeit her aufgezogen. Was bei Wygotski mehr eine abstrakte Bestim-mung blieb, wurde hier zur Ausrichtung der Forschungstätigkeit: „Die Grundthese Leontjews bestand darin, dass nicht das Bewusstsein und die Wechselwirkung des Bewusstseins verschie-dener Individuen, sondern nur die reale Tätigkeit des Kindes, die immer sinnvolle Tätigkeit ist, sowohl seine psychische Gesamtentwicklung als auch den Verlauf der einzelnen psychischen Prozesse bestimmt. Nicht die Vorstellung, sondern die sinnvolle Tätigkeit ist der Schlüssel zum Verständnis der Psyche.“ (Galperin, 369) Das hatte Folgen auch für die Entwicklung der Kri-tischen Psychologie. Während Leontjew vor dem Hintergrund eines Forschungsfelds arbeitete, in dem die zentrale Bedeutung der Sprache als anerkannter Grundpfeiler dieses Paradigmas der Psychologie angesehen werden kann, wurde in die Kritische Psychologie, die sich in ihrer Re-zeption der Kulturhistorischen Schule weitgehend auf Leontjew bezog, auch dessen Einordnung der Sprache übernommen, ohne das Feld, in dem diese Einordnung stattfand4hinreichend zur Kenntnis zu nehmen.

Leontjew behandelt Sprache entsprechend seines Forschungsgegenstands als Artefakt, als Werkzeug, das in gegenständlicher Form vorliegt und das Menschen sich für den ‚adäquaten‘

Gebrauch aneignen müssen. Als solches steht sie unverbunden neben gegenständlichen Werk-zeugen, als ob es keine spezifischen Unterschiede gäbe. „Die ontogenetische Entwicklung der menschlichen Psyche wird nicht durch die Einwirkung sprachlicher Reize an sich geschaffen, sondern ist das Ergebnis des beschriebenen spezifischen Aneignungsprozesses, der durch al-le Umstände der Lebensentwicklung von Individuen in der Gesellschaft bestimmt wird. Der Aneignungsprozess ist für den Menschen die Grundnotwendigkeit und das Hauptprinzip der on-togenetischen Entwicklung. Er ist die Reproduktion der historisch geprägten Eigenschaften und Fähigkeiten der menschlichen Art in den Eigenschaften und Fähigkeiten des Individuums, dar-unter auch der Fähigkeit, die Sprache zu verstehen und zu gebrauchen.“ (Leontjew 1969, 20) Hier ist die Stoßrichtung zu erkennen, die Bedeutung der Sprache für den Entwicklungsprozess zurückzustufen: Er hebt hervor, dass Gegenstand der Aneignung vor allem die gegenständliche Welt ist, und darunter auch die Sprache. Sowenig Arbeit ohne Naturstoff als Arbeitsgegenstand und -mittel irgendeinen Reichtum schafft, sowenig erschafft Sprache ein Ensemble geistiger Fä-higkeiten ohne das materielle Substrat, die physische Lebenswelt, mit der das Subjekt

zurecht-4„Ohne jetzt auf das Neue, das die Sprache in die psychologische Entwicklung bringt (darüber sind schon viele tausend Seiten geschrieben worden) eingehen zu wollen“ (Leontjew 1969, 19).

kommen muss. Doch Leontjew stellt die Aneignung der gegenständlichen Welt der Sprache auf eine Weise gegenüber, die bis zu diesem Zeitpunkt in der Kulturhistorischen Schule gewonnene Einsichten zu verdecken droht: Der Sprache kommt hier hauptsächlich noch der Wert zu, die Bedeutungen, die die Gegenstände aufgrund ihrer Stellung in der gesellschaftlichen materiellen Reproduktionstätigkeit an sich schon haben, ‚widerzuspiegeln‘.

Während also Wygotskis Materialismus in der Theorie der Interiorisation ‚materieller‘ Zei-chen als psychischer Mittel lag, verlegte Leontjew die Psychologie in die gegenständliche Tätig-keit überhaupt und konstruierte Sprache als zugleich bedeutsamen und sekundären Fall der An-eignung der gegenständlichen Welt. „Der Schwerpunkt der psychischen Entwicklung des Kindes wurde von den Begriffen auf die Tätigkeit, von der Erscheinung des Widergespiegelten auf die Ursache dieser Widerspiegelung verlagert.“ (Galperin, 370) Galperin beansprucht dagegen, eine Synthese beider Richtungen erarbeitet zu haben. An Leontjew kritisiert er, dass „statt der psy-chischen Prozessenurihre Folgen untersucht“ (Galperin, 371) werden, an Wygotski dagegen, dass er die psychischen Prozesse unabhängig von ihrem Gegenstand erforscht habe. Während im Begriff des Orientierungsmittels schon der sachliche Zusammenhang zwischen Sprache und der Beherrschung der gegenständlichen Welt ausgesprochen ist, erlaubt seine Theorie der etap-penweisen Bildung geistiger Operationen, den „Zusammenhang zwischen der äußeren Tätigkeit und dem Bewusstsein“ (Galperin, 371) als Aneignungsprozess zu erfassen und das Verhältnis von Gegenstand, sinnlicher Orientierung, Sprache als Orientierungsmittel und Bildung der kon-kreten Denkfähigkeit zu analysieren.

Wygotski beobachtete schon den Zusammenhang zwischen Handlungsproblemen und der Be-nutzung der Sprache als Lösungsmittel, was ihm als Argument für den Denkmittelcharakter der Sprache diente. Galperin kommt von Leontjews Hervorhebung der Seite der gegenständlichen Welt her auf diesen Zusammenhang zurück und bestimmt „die psychische Funktion [. . . ] als Lösung bestimmter Aufgaben“ (Galperin, 374). Auch wenn der psychische Inhalt von der Sache abhängig bleibt, wird seine eigene Form nun zum Gegenstand: „Der Prozess der Aufgabenlö-sung besteht in der zielstrebigen Umstrukturierung des Ausgangsmaterials, und eine solche wird mit Hilfe bestimmter gegenständlicher Handlungen erreicht, die im Geiste ausgeführt werden.“

(Galperin, 374) Gemeint ist eine probeweise Kombination des aus dem Umgang mit einer Sache gewonnenen Wissens über diese Sache zwecks Antizipation ihres Verhaltens und ihrer Modifi-zierbarkeit. In der Aneignung und Benutzung dieses Wissens erweist sich Sprache als zentrales Vermittlungsglied bei der Klärung der Frage, „wie diese gegenständlichen Handlungen zu un-seren geistigen Operationen werden, und vor allem natürlich, wie dadurch ein neuer konkreter psychologischer Prozess gebildet wird.“ (Galperin, 374)

Aneigung einer Handlung, d.h. Erlangung der Reproduktionsfähigkeit eines zielgerichteten Umgangs mit einer Sache, schließt Verallgemeinerung ein. Es handelt sich nicht nur um

unmit-telbare Reproduktion eines Musters, sondern darum, die Handlung „mit anderem Material zu wiederholen“ (Galperin, 375). Das setzt eine Analyse der Handlung in Operationen und eine

„Kennzeichnung des neuen Materials“ nach seinen relevanten Teilen voraus. Aber dazu „muss vorher das Vorbild selbst entsprechend gekennzeichnet, das heißt es muss in Teile zerlegt wer-den, aus denen es sich bei der Reproduktion zusammensetzt.“ (Galperin, 375f) Die Übertragung der Kennzeichnung auf das neue Material ermöglicht, „von einem Merkzeichen zum anderen ge-hend, die neue Handlung in einzelnen [der jeweiligen Lernstufe] angemessenen Teiloperationen auszuführen – ohne jegliche Fähigkeiten und Fertigkeiten in Bezug auf diese neue Handlung.“

(Galperin, 376) Das Ausgangsmaterial, an dem die Kennzeichnung und Analyse vorgeführt und gelehrt wird, ist die „Orientierungsgrundlage der Handlung“ (Galperin, 376), d.h. Grundlage für die „Orientierung innerhalb der Aufgabe“ (Galperin, 376) an neuem Material. Dass sich Sprache an dieser Stelle als besonderes Hilfsmittel zur Fixierung dieser Merkzeichen oder Kennzeichen anbietet, liegt auf der Hand. In Galperins Theorie erlangt Sprache ihre zentrale Stellung aber erst auf einer späteren Stufe der Bildung geistiger Operationen, obwohl sich schon auf der Stu-fe der Bekanntmachung mit der Materie Unterschiede zeigen, die ofStu-fenbar auch mit dem Maß sprachlicher Anleitung zusammenhängen.

Galperin untersuchte Aneignungserfolge in Abhängigkeit von verschiedenen Orientierungs-grundlagen, woraus sich dann auch seine pädagogische Theorie ableitete. Da, wo keine systema-tische Unterweisung gegeben wird, sondern nur die anzueignende Handlung und ihr Ergebnis als Vorbild fungieren, erfolgt die Aneignung langsam und hauptsächlich über Versuch und Irrtum.

Dass daraufhin die Handlung zwar im Besonderen genau reproduziert werden kann, aber „einer Änderung der Voraussetzungen gegenüber sehr labil“ (Galperin, 376) bleibt, verweist auf die Beschränktheit der Mimesis als Erklärungsansatz für die geistige Entwicklung von Menschen.

Beim zweiten Typus werden „alle Hinweise darauf, wie die Handlung mit neuem Material richtig auszuführen ist“ (Galperin, 376), in die Orientierungsgrundlage mit aufgenommen, also die Verallgemeinerung mit gelehrt, was zu schnellerer Aneignung und stabilerer Anwendung bei veränderten Voraussetzungen führt innerhalb gewisser Grenzen, die bestimmt sind durch das Vorhandensein gleicher Elemente in den neuen Aufgaben wie in der Orientierungsgrundlage.

Galperin erklärt das durch Erwerb „einer gewissen Fähigkeit, das Material vom Standpunkt der bevorstehenden Handlung zu analysieren“ (Galperin, 377), d.h. in der Orientierungsgrundlage verallgemeinerte Elemente und ihre Beziehungen zu identifizieren.

„Die Orientierung des dritten Typs zeichnet sich dadurch aus, dass hier an die erste Stelle die planmäßige Unterweisung in der Analyse neuer Aufgaben tritt, die es gestattet, die Stützpunk-te, die Voraussetzungen für die richtige Ausführung der Aufgaben herauszuarbeiten“ (Galperin, 377). Die Handlung wird dann auf dieser Grundlage gelehrt mit der Folge, dass sie zusätzlich zu hoher Stabilität auch „auf ein und demselben Gebiet eine praktisch unbegrenzte

Übertra-gung“ (Galperin, 377) zeigt. Sie ist also in größerem Maße verallgemeinbar, d.h. ermöglicht die eigenständige Beherrschung eines größeren Problemfeldes.

Die Theorie der Typen von Orientierungsgrundlagen ist hier insofern von Interesse, als darin bereits die Analyse als zentrales Moment einer sicheren und breiten Verallgemeinerung einer komplexen Handlung hervortritt. Analyse bedeutet die Identifizierung von Elementen und Be-ziehungen eines verallgemeinerten Zusammenhangs ausgehend von sinnlichen Unterschieden.

Dass hier als umgreifende Kategorie eine „Aufgabe“ das Handlungsfeld und seine Gegenstände auf ein Ziel hin strukturiert, identifiziert ein durch Aneignung der Handlung verfügbar geworde-nes antizipierendes Zweckverhältnis, in dem der Handelnde mit den Gegenständen in eine inne-re Beziehung gebracht ist. Selbst die (ideologische) Vorstellung eines inteinne-resselosen Erkundens von Sachzusammenhängen ist durch die innere Beziehung regiert, die Sache unter Suspension unmittelbarer praktischer Zweckbeziehungen zu ordnen. Ein solches Verhältnis ist nicht das An-dere zur ‚Aufgabe‘, sondern was immer Moment ist, das Kennenlernen der Sache, wird darin lediglich zur eigenständigen Aufgabe verselbständigt.

Die verschieden möglichen Orientierungsgrundlagen zur Aneignung einer Handlung verwei-sen darauf, dass nicht die Handlung selbst als Regelfolgen zu verstehen ist, es sei denn im Sinne einer sozialen Regel, als Sittlichkeit, sondern vielmehr die Durchführung der Handlung als Lö-sung einer zielorientierten Aufgabe auf der orientierenden Kombination einer Reihe von Regeln beruht, die nicht einfach da sind als soziale Normen, sondern ihre Rechtfertigung aus ihrem Gebrauchswert als Mittel zu einem Zweck beziehen. Ob und wie diese Zwecke nun selbst wie-der einer Motivation untergeordnet owie-der in einen Rechtfertigungsdiskurs eingegliewie-dert sind, ob durch Gottgefälligkeit, Tradition, Bestrafungsangst, Anerkennungsinteresse, Bedürfnisbefriedi-gung oder Vernunft, ist eine andere Frage.

Die These von der etappenweisen Bildung geistiger Operationen besagt, dass die psychische Seite der Beherrschung von Handlungen, das Denken darin, auf einen Interiorisierungsprozess zurückzuführen ist, der über eine Stufenabfolge verläuft, die mit der Sache in ihrer sinnlichen Form beginnt, dann über die Reproduktion der Sache bzw. Handlung in Form sprachlicher Zei-chen in ihrer äußeren Form vermittelt ist, die schließlich zur inneren Sprache werden. Während Wygotski vor allem am Übergang von der äußeren zur inneren Sprache interessiert war, setzt Galperin noch früher ein und integriert die sinnliche Orientierungsgrundlage. Sobald einmal geistige Operationen angeeignet wurden, können zwar „neue Kenntnisse, wenn sie keine neuen geistigen Handlungen5erfordern, sofort auf dem Niveau der vorhandenen geistigen Operationen, das heißt sofort, ‚im Geiste‘, angeeignet werden“ (Galperin, 379). Doch nicht nur in frühem

Al-5In den Übersetzungen wird undifferenziert von „geistigen Operationen“ und „geistigen Handlungen“ gesprochen.

Während beispielsweise Leontjew allgemein zwischen „Handlungen“ und „Operationen“ differenziert, lässt sich in Galperins Fall keine begriffliche Differenzierung erkennen. Unter „Handlung“ wird gewöhnlich eine willentli-che äußere Tätigkeit verstanden, so dass ich den Ausdruck „geistige Operation“ für die bessere Wahl halte.

ter wird „eine Handlung an Hand von Gegenständen gelehrt“, sondern „auch in bedeutend spä-teren Jahren [wird] eine neue Operation – wir betonen: eine Operation, und nicht einfach ‚die Kenntnis‘ – anfangs nur in ihrer äußeren Form erfolgreich gebildet“ (Galperin, 379). Allerdings

„benutzen wir [hier] größtenteils nicht mehr die Dinge selbst, sondern nur noch ihre Darstellun-gen; das sind alle Arten von Schemata, Diagrammen, Zeichnungen und Modellen oder einfach Notizen. Sie kopieren,reproduzieren genau einige für die Operation wesentliche Eigenschaften und Beziehungen der Dinge und gestatten eine äußere Handlung mit ihnen(vergleichen, aus-messen, umstellen, verändern und dergleichen mehr).“ (Galperin, 379) Diese „materialisierte Form“ kann ebenso wie die „materielle Form“ (Galperin, 379) als Material zur Bildung einer Orientierungsgrundlage dienen. „Jede neue geistige Handlung [kann] anfangs nicht als solche, als geistige Handlung gebildet werden [. . . ], sondern nur als äußere, als materielle oder mate-rialisierte“ (Galperin, 379). Während für den Lehrer die Ausführung der Handlung „‚auf dem Papier‘ oder im Modell“ als „Erklärung oder Überprüfung der geistigen Handlung“ dient, wäre diese Bestimmung hinsichtlich des Schülers, der zu der Stufe der geistigen Operation eben gera-de noch nicht vorgerückt ist, eine Projektion: für diesen hangera-delt es sich bei gera-der materialisierten noch um „eine Abart der materiellen Handlung“ (Galperin, 379).

Dieses Bekanntmachen mit der Orientierungsgrundlage setzt ein Auseinanderfalten der Hand-lung voraus, d.h. sie in Teiloperationen angemessener Größe zu zerlegen, „die der Schüler nach den Erklärungen des Lehrers selbständig prüfen und wiederholen kann“, und sie „in ihrer Wech-selbeziehung“ (Galperin, 380) zu zeigen. Eine gute Verallgemeinerung der Handlung setzt vor-aus, „aus den vielfältigen Eigenschaften ihres Objektes gerade die auszugliedern, die einzig und allein für ihre Ausführung notwendig sind.“ (Galperin, 380) Der nächste Schritt stellt dann eine Beschleunigung der Handlung durch Verkürzung der Teiloperationen dar, d.h. das Zusammen-ziehen kleiner Teiloperationen zu gröberschrittigen Teiloperationseinheiten, die flüssiger ausge-führt werden können. Ein „bewusstes Einüben der Verkürzung“ (Galperin, 381) hat zur Folge,

„dass der psychologische Mechanismus der vollwertigen Handlung nicht durch ihre unmittel-bar ausgeführte Orientierungstätigkeit begrenzt ist. Zu diesem Mechanismus gehört das gesamte System der vorhergehenden Formen der betreffenden Operation, die nicht mehr unmittelbar aus-geführt, aber noch ‚im Auge‘ behalten werden“ (Galperin, 381f).

Während die erste Stufe überhaupt das Bekanntmachen mit der Orientierungsgrundlage und die Aneignung der Operationen der Handlung darstellt, ist ihre Verallgemeinerung, Verkürzung und flüssige Beherrschung die zweite Stufe. Die Rolle der Sprache in diesen Stufen ist sym-praktischer Natur: sie dient „hauptsächlich als Hinweis auf Erscheinungen, die sich unmittelbar in der Wahrnehmung zeigen; Aufgabe des Lernenden ist es, sich nicht in Wörtern zurechtzu-finden, sondern in Erscheinungen.“ (Galperin, 385) Galperin spielt die Bedeutung der Sprache für diesen Aneignungsprozess zugunsten ihrer Rolle in den darauf folgenden Stufen herunter.

Es wurde bereits bei Wygotski und Lurija darauf hingewiesen, dass in den Altersstufen, in de-nen die Sprache für die Kinder noch nicht selbst handlungsleitend wird, die Verknüpfung von Elementen des Handlungsraums mit Sprache nicht funktionell als Vorbereitung für die spätere Entwicklung erklärt werden kann, sondern aus der Einbettung der kindlichen Tätigkeit in einen kommunikativ vermittelten gemeinsamen Handlungsraum mit den Erwachsenen, worin, soweit es sprachliche Orientierung bei relativ komplexer Tätigkeit betrifft, Handlungsanweisung und Handeln auf Erwachsenen und Kind verteilt sind. Über entwicklungsbedingte Verschiebungen in der Bildung geistiger Operationen macht Galperin aber nur allgemeinere Aussagen. Für ihn gewinnt die Sprache ihre zentrale Bedeutung ab der dritten Stufe, deren Erreichen aber über-haupt eine Stufe der Sprachbeherrschung voraussetzt, auf der ihre Loslösung aus den symprak-tischen Zusammenhängen möglich wird, was auf den frühen Entwicklungsstufen der kindlichen Aneignung der Welt noch nicht gegeben ist.

Bei der Produktion geistiger Abstraktionen gibt es keine Abkürzung über eine unmittelbare Fixierung in Vorstellungen. Auch diese bedürfen der Stützung durch gefestigte Sprache: „ohne Übung in den Kategorien der Sprache [kann] eine materielle Handlung überhaupt nicht in Form von Vorstellungen widergespiegelt werden“ (Galperin, 384). Daher geht es in der dritten Etap-pe um „Bildung der Handlung gerade in Form der gesprochenen Sprache“ (GalEtap-perin, 384), da diese die „Kontrolliertheit des Sprechens – anfangs durch einen anderen Menschen, dann auch durch den Schüler selbst“ (Galperin, 385) erlaubt. Die Handlung wird „auseinandergefaltet und Schritt für Schritt in die sprachliche Form übertragen. Bestimmte Termini und Wendungen der Sprache werden mit bestimmten Elementen und Teiloperationen der materiellen Handlung ver-bunden und so angeordnet, dass sie ihren Verlauf darstellen.“ (Galperin, 385) Dies geschieht aber partiell auch schon auf den vorherigen Stufen. Spezifikum ist daher nicht, dass hier über-haupt Sprache im Spiel ist, vielmehr wird sie „zum selbständigen Träger des gesamten Prozesses – der Aufgabe wie dem Handeln. Sie tritt nicht nur als System von Bezeichnungen auf, deren ei-gentliche Natur ziemlich gleichgültig für das Wesen der gegenständlichen Handlung ist, sondern auch als gesonderte Wirklichkeit – als Wirklichkeit der Sprache, deren Gesetze in den Forderun-gen nach Verständlichkeit für alle Menschen erkennbar werden. Diese neuen VoraussetzunForderun-gen werden jetzt auch zum Hauptobjekt der Orientierung des Schülers: Er muss von der Handlung erzählen, und zwar nicht nur so, wie es für ihn selber verständlich sein würde, sondern so, dass es auch anderen Menschen verständlich ist.“ (Galperin, 385) Es versteht sich, dass die Elemente der verschiedenen Stufen ineinander übergehen und dass das Modell eine ideale Schüler-Lehrer-Situation konstruiert, die den Aneignungsprozess des Alltagslebens nicht exakt wiedergibt.

Die Bedeutung der neuen Stufe liegt aber nicht nur in der Mitteilung über die Handlung, sondern im Erlernen des „Handelns in neuer, sprachlicher Form. Die Sprache ist eine Form des gegenständlichen Handelns“ (Galperin, 387) Bei der Verallgemeinerung der Handlung

wur-den schon die „Züge und Eigenschaften herausgelöst [. . . ]. Wenn die Handlung jedoch in die sprachliche Form übertragen wird, werden diese Eigenschaften einzelnen Wörtern zugeteilt, sie verwandeln sich in die Bedeutung der Wörter, lösen sich von den konkreten Dingen und werden so zu Abstraktionen.“ (Galperin, 387) „Nur durch diese sprachliche Grundlage verfügt das Kind über abstraktes Material. [. . . ] Nur dank der Tatsache, dass die Wörter eine materielle Basis ha-ben und in diesem Sinne materielle Dinge sind (nichtnurmaterielle,sondern auch materielle) kann der Schüler genauso mit ihnen arbeiten (sowie durch sie – und mit ihren Bedeutungen), wie mit allen materiellen Gegenständen“ (Galperin, 387). Wird diese Aneignung sprachlicher Ab-straktionen ausgelassen, „erhält man die Fähigkeit, bestimmte Aufgaben praktisch zu lösen, oh-ne die Fähigkeit, Folgerungen aus ihoh-nen zu ziehen. Doch das Fehlen der Fähigkeit, Folgerungen zu ziehen und sprachlich darzustellen, beschränkt stets auch die Möglichkeiten der Handlung selbst, beschränkt sie durch die Grenzen jener Beziehungen zwischen Dingen, die man unmit-telbar in der Wahrnehmung verfolgen kann.“ (Galperin, 386) Nun findet auch in der Sprache wieder ein eigener Prozess der Verallgemeinerung sowie der Verkürzung der auseinandergefal-teten Form statt, wie sie ontogenetisch auch bei der Entwicklung der egozentrischen Sprache beschrieben worden sind.

Auf der nächsten Stufe wird die äußere Sprache zur inneren Sprache geformt. Ihre Mittel-funktion bleibt erhalten, auch ohne dass sprachliche Artikulation noch vonnöten ist. „‚Im Geis-te‘ wird die Lautform der Sprache zur Vorstellung, zum Lautbild des Wortes. Dieses ist gewiss

Auf der nächsten Stufe wird die äußere Sprache zur inneren Sprache geformt. Ihre Mittel-funktion bleibt erhalten, auch ohne dass sprachliche Artikulation noch vonnöten ist. „‚Im Geis-te‘ wird die Lautform der Sprache zur Vorstellung, zum Lautbild des Wortes. Dieses ist gewiss

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 133-142)