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Koordination

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 142-148)

Die Sprachuntersuchungen, auf die sich Wygotski und Galperin stützen, sind auf individuel-le Aufgabenlösung praktischer Art konzentriert. Auch wenn in den untersuchten Situationen Lehrer und Schüler interagieren, ist der Untersuchungsgegenstand die individuelle Aneignung von Fähigkeiten in der Lehrsituation. Obwohl ihrer Theorie nach die Sprachaneignung wesent-lich ein sozialer Vorgang ist, machen sie Kooperation oder allgemeiner Koordination als zentra-les Element menschlicher Praxis und des Aneignungsprozesses nicht eigens zum Gegenstand.

Leontjew drängt zwar wie gezeigt die Bedeutung der Sprache in den Hintergrund, sein Tätig-keitskonzept erlaubt aber eine Bestimmung von Kooperation, die für die Darstellung des Koor-dinationsaspekts der Sprache herangezogen werden kann.

Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass der Sprachverkehreine wesentliche Bestim-mung der Sprache darstellt, und zwar nicht nur als Weitergabe bloß individuell benutzter Ori-entierungsmittel. Sprache geht vielmehr substanziell in die gesellschaftlichen Verkehrsformen ein. Dabei wirkt sie in erster Linie als Koordinationsmittel, auch wenn nicht jeder sprachliche Austausch als Koordination betrachtet werden kann: z.B. ist meist Koordination nicht der Haupt-aspekt des Vortragens eines Gedichts. Es geht jedoch nicht darum, diese Bestimmung inallem Sprachverkehr aufzuweisen, sondern die unabdingbare Bedeutung der Sprache für die Organisa-tion menschlicher Gesellschaften zu analysieren. Dabei erweist sich sprachlich vermittelte Koor-dination der vergesellschafteten Individuen nicht nur als wesentlicher Bestandteil menschlicher Praxis, sondern als unverzichtbares Mittel gesellschaftlicher Organisierung und in der Koopera-tion als Potenzierung der Produktivkraft, indem sich Arbeitskräfte planmäßig kombinieren und

aufeinander abstimmen können.

Zunächst zu Leontjews Tätigkeitstheorie, in der weitgehend von sprachlicher Vermittlung ab-strahiert ist: Er unterscheidet terminologisch „einzelne (besondere) Tätigkeiten anhand der sie initiierenden Motive, des Weiteren Handlungen als bewussten Zielen untergeordnete Prozesse und schließlich Operationen, die unmittelbar von den Bedingungen zur Erlangung des konkre-ten Ziels abhängen.“ (Leontjew 1979, 108) Dabei entspreche dem Gegenstand der Tätigkeit, der

„sowohl stofflich als auch ideell sein“ (Leontjew 1979, 102) kann, immer auf die eine oder an-dere Weise ein Bedürfnis. In dem Auseinandertreten von Motiv und Handlungsziel respektive der Auftrennung von Tätigkeiten in „sie realisierende Handlungen“ (Leontjew 1979, 102) sieht Leontjew einen entscheidenden Schritt in der Gesellschaftsbildung der Menschheit vermittels Arbeitsteilung. „Schon die Entwicklung einfachster technischer Arbeitsteilung erfordert die Be-stimmung der Zwischen- beziehungsweise Teilergebnisse, die von den einzelnen Teilnehmern an der kollektiven Arbeitstätigkeit erzielt werden, die aber an sich nicht deren Bedürfnisse befrie-digen. Ihr Bedürfnis wird nicht durch diese ‚Zwischen‘ergebnisse befriedigt, sondern durch den Anteil am Produkt ihrer gemeinsamen Tätigkeit“ (Leontjew 1979, 102) Während das Motiv die Tätigkeit als Einheit zusammenhält, bestimmen die Handlungen ihre schrittweise Ausrichtung.

Tätigkeiten, deren Handlungen keine eigenständigen Motive bilden bzw. nicht für sich schon Bedürfnisse befriedigen, setzen voraus, dass die Tätigen subjektiv das Motiv mit den einzelnen Handlungszielen in Beziehung setzen, sich also nicht unmittelbar von ihren Bedürfnissen leiten lassen, sondern ihre Aktivität um der Tätigkeitsmotive willen an den jeweiligen Handlungszielen ausrichten.

Im Gegensatz zu ‚instinktiven‘ Verhaltensweisen, die ebenfalls komplizierte Abfolgen bein-halten können, aber in ihrer Gliederung auf Ketten angeborener Auslöser-Reaktions-Schemata zurückgehen, auch wenn sie durch Lernverhalten modifiziert wurden,6 verlangt die Aneignung von Tätigkeiten den langwierigen Aufbau ‚von unten‘ durch Erlernen von Handlungen und ihren Kombinationen. Das Verhältnis von Tätigkeiten und Handlungen ist dabei dynamisch in zweier-lei Hinsichten: einerseits können dieselben Tätigkeiten durch unterschiedliche Kombinationen von Handlungen realisiert werden und können dieselben Handlungen zur Realisierung verschie-dener Tätigkeiten kombiniert werden; andererseits gibt es eine stufenweise Aufbauentwicklung der Tätigkeiten und Handlungen sowie des Motivhorizonts: was auf einer Stufe noch Motiv der Tätigkeit war, wird auf der nächsten zum Ziel innerhalb einer komplizierteren Tätigkeit, oder was auf einer Stufe noch bewusst vollzogene Handlung war, verschmilzt auf der nächsten mit anderen Handlungen zu einer komplizierteren Handlung, die nun ihrerseits bewusst verfolgt wird, während ihre Teilschritte automatisiert ablaufen und nur noch in Hinsicht auf das neue

6Eine detaillierte Darstellung von Konzeptionen der Höherentwicklung von Verhalten findet sich im Rahmen der Kritischen Psychologie bei Holzkamp-Osterkamp (1975, 75ff).

umfassendere Ziel reguliert werden oder automatisiert sind, d.h. ohne bewusstes Eingreifen aus-geführt werden.

Die Beziehung zwischen Handlungen und Operationen ist im Gegensatz dazu nicht eine der Untergliederung eines Ganzen in Teile, sondern eine von Ganzem und Moment: „Zwar kann das Subjekt im Bewusstsein von [der gegenständlichen] Situation abstrahieren, in seiner Hand-lungjedoch kann es das nicht. Daher hat die Handlung neben ihrem intentionalen Aspekt (was erreicht werden soll) auch ihren operationalen Aspekt (wie, auf welche Weise diese erreicht werden kann), der nicht durch das Ziel an sich, sondern durch die objektiv-gegenständlichen Bedingungen zu seiner Erreichung bestimmt wird. [. . . ] Das Verfahren der Verwirklichung einer Handlung bezeichne ich alsOperationen.“ (Leontjew 1979, 105f) Als ein Beispiel nennt Leont-jew das Zerteilen eines Gegenstands, das je nach Typ des Gegenstands unterschiedliche Ver-fahren verlangt, und als anderes Beispiel die Präsentation quantitativer Zusammenhänge, wozu unterschiedliche Verfahren grafischer Darstellung herangezogen werden können. Operationen realisieren also Handlungen durch spezifische Techniken gemäß der besonderen Bedingungen der Handlungssituation.

Leontjew beschreibt auch das Ineinandergreifen von inneren und äußeren Handlungen als Be-standteile von Tätigkeiten. So sind vorwiegend inneren Tätigkeiten wie beispielsweise Erkennt-nisprozessen auch äußere Handlungen eingegliedert, etwa empirische Versuche, Aufzeichnun-gen etc. Ebenso sind vorwieAufzeichnun-gend äußeren Tätigkeiten innere HandlunAufzeichnun-gen zwischengeschaltet.

Hierin erscheinen ‚Außen‘ und ‚Innen‘ als Handlungssphären, die zwar verzahnt, aber nach-einander zum Zuge kommen. Das Besondere ihrer Vereinigung in der Tätigkeit, wenn wir uns an Galperins Ergebnisse halten, ist aber gerade darin zu suchen, dass die Aneignung geistiger Operationen in Form von zeichenbasierten Systemen von Handlungen, ihren Bedingungen und kombinatorischen Beziehungen Teil der Aneignung der Handlungen und, um es in Leontjews Vokabular auszudrücken, der Tätigkeiten ist. Daher kann bei einer Tätigkeit nicht nur von ei-ner Abfolge äußerer und inei-nerer Handlungsphasen die Rede sein – vielmehr ist das Ideelle als Moment der Tätigkeit aufzufassen, insofern sie und ihre Handlungen einer Planung, Zielsetzung und Überprüfung unterliegen, die zuvor bereits als Handlungssteuerung mit Hilfe sprachlich fokussierter Aufmerksamkeitslenkung thematisiert wurden.

Was Leontjew nun an kollektiver Tätigkeit erfasst, ist die Aufteilung der Tätigkeitsstruktur auf verschiedene Akteure; die Frage nach der Rolle von Verständigung, Kommunikation und sprachlicher Handlungssteuerung dabei bleibt dagegen im Dunkeln. Sein klassisch gewordenes Beispiel entspringt seiner Vorstellung der Arbeitsteilung auf einer frühen Gesellschaftsstufe der Menschheit. Die Aufspaltung der Jagdtätigkeit in zwei arbeitsteilig kombinierte Handlungen, das Treiben und das Auflauern, setze voraus, dass die Beteiligten auch subjektiv den Motivzu-sammenhang erfassen, damit ihre Handlungen für sie Sinn ergeben. Das Treiben erscheint in

Leontjews Darstellung als unmittelbar unsinnig, weil es die Beute verjagt; dagegen als Teil ei-ner kollektiven Tätigkeit, die Anteil an der von den Auflauernden gefangenen Beute verspricht, also darin ihr Motiv findet, ergibt das Treiben Sinn. Man könnte hier einwenden, dass Hinter-herjagen wie Auflauern beide für sich genommen schon praktikable Methoden des Beutefangs sein können, also die scharfe Gegenüberstellung von ‚sinnvoll‘ und ‚unsinnig‘ hier fragwürdig ist. Allerdings ist ihre Kombination zu einer Form von die Erfolgschancen erhöhender Koope-ration, die allerdings einer Verständigung darüber bedarf, wo aufgelauert wird, und die von den Treibern verlangt, nicht einfach nur hinterherzujagen, sondern die Fluchtrichtung der Beute zu beeinflussen, durchaus ein brauchbares Anschauungsbeispiel dafür, welche subjektiven Anfor-derungen kollektive Tätigkeit prinzipiell stellt. Gleichwohl ist das Beispiel nicht gerade mitten aus dem Leben hochtechnologisch produzierender Gesellschaften gegriffen mit ihrer tausendfa-chen Aufspaltung, Rekombination und Koordination von Arbeitssphären.

Kollektive Tätigkeit ist die koordinierte Kombination der individuellen Tätigkeiten mehre-rer Akteure. Die Koordination, also dass die Beteiligten nicht einfach aufeinander reagieren, sondern ihre Handlungsabsichten miteinander abstimmen, erfolgt durch Kommunikation über Handlungsziele und Operationen. Ermisst man die Rolle der Sprache hier nur nach ihrem un-mittelbaren Auftreten in Kommunikationsphasen oder -akten, die sich mit den materiellen Hand-lungen abwechseln, dann geht der Theorie gerade die Bedingung sprachlicher Koordination, die von allen interiorisierte Vermittlung zwischen Sprache und Handeln, Handlungskontrolle über sprachliche Fixierung, verloren.

Eine Sonderform der kollektiven Tätigkeit besteht darin, dass die inhaltliche Bestimmung der Tätigkeit an eine Person, ihre Ausführung an eine andere fällt. Dieses Verhältnis ist etwa beim Kommando über fremde Arbeit gegeben. Z.B. im kapitalistischen Produktionsprozess bestimmt der Akkumulationszweck das objektive Motiv der Gesamttätigkeit; die Agenten des Kapitals, die diesen Zweck vertreten, üben das Kommando über die gekaufte Arbeitskraft aus. Die Lohn-arbeiter, ob sie zusätzlich noch idealistische Motive haben oder nicht, üben ihre Tätigkeit mit dem Motiv des Lohns bzw. der dagegen eingetauschten Lebensmittel aus. Da ihre Tätigkeit in der Regel nicht ihre Lebensmittel bzw. unmittelbar den Lohn herstellt, sondern Teil eines fremden Produktionsprozesses ist, wie sehr sie sich auch immer damit identifizieren, sind die Handlungsziele in erster Linie an der Zufriedenheit des Arbeitskraftkäufers und mithin an des-sen Bestimmung des Arbeitseinsatzes orientiert. Der Plan, nach dem die Arbeitstätigkeiten zu einem Arbeitsprozess kombiniert werden, fällt hier an Dritte, was aber nicht heißt, dass keine weitere Koordination der Tätigkeiten innerhalb dieses Prozesses nötig wäre.

In diesem Fall ist das Motiv der kollektiven Tätigkeit fremdbestimmt. Soweit es sich nicht um einen maschinellen Prozess handelt, in dem die Maschine allen Beteiligten ihre individuel-len Handlungen anweist, so dass die Kollektivität nur bei unplanmäßiger Störung des Prozesses

durch Fehler oder Ausfall eines Individuums hervortritt, erfordert die Beherrschung der kol-lektiven Tätigkeit Abstimmungen zwischen den Beteiligten. Die individuelle Aneignung einer kollektiven Tätigkeit schließt daher nicht nur physische Handlungen ein, sondern auch die spezi-fisch zur Abstimmung nötigen Kommunikationshandlungen. Wie individuelle Handlungssteue-rung und Koordination in der kollektiven Tätigkeit ‚ursprünglich‘ zusammengeführt werden, muss dabei nicht erklärt werden – es wurde bereits dargestellt, dass umgekehrt beides in der Sprachaneignung zunächst zusammenfällt und erst dann eine immer rückgekoppelt bleibende Verselbständigung beider Sprachfunktionen eintritt; dass also die Einführung des Kindes in die Sprache innerhalb eines vorher schon bestehenden kollektiven und kommunikativen Handlungs-zusammenhangs zwischen unselbständigem, bedürftigem Kind und sich kümmernden Erwach-senen erfolgt.

Erst in diesem Tätigkeitszusammenhang wird die subjektive Handlungssteuerung allmählich über sprachliche Fixierung vermittelt, erweitert und verselbständigt. Diese Kopplung, mit deren Hilfe Kinder sich immer neue, kompliziertere Handlungen aneignen, setzt zunächst ihre öffent-liche Artikulation voraus und ermöglicht durch die Allgemeinheit der sprachöffent-lichen Form auch die öffentliche Verhandlung von Handlungszielen und auch Handlungsplänen, ob sie sich nur auf ein Individuum beziehen oder diese Pläne die Tätigkeit mehrerer Personen einschließen. Ei-ne das Praxisfeld, die Absichten und die Umwelt objektivierende Sprache schießt damit weit über die ‚Kommunikation‘ von Tiersozietäten mittels beschränkter Signalsysteme hinaus, nicht nur weil überhaupt Handlungsziele zum ideellen Gegenstand der Orientierung werden, sondern auch, weil sie in planmäßiger Weise miteinander abgestimmt und kombiniert werden können.

Oben war der Sonderfall benannt worden, dass der Inhalt einer kollektiven Tätigkeit durch ei-ne Person gesetzt wird, d.h. die Tätigkeit eiei-ner Kommandostruktur unterliegt. Die Besonderheit besteht darin, dass hier ein Abstimmungsprozess zwischen den Beteiligten über die Motive und Modalitäten entfällt. Allgemein ist aber die Koordinierung innerhalb einer kollektiven Tätigkeit von der intersubjektiven Abstimmung über kollektive Handlungsziele zu unterscheiden. Voraus-setzung ist in beiden Fällen, dass Individuen Handlungspläne artikulieren, sich als ihr Ziel zu eigen machen, bewerten und verfolgen können. Ohne dem an dieser Stelle weiter nachzugehen, ist hier zu bemerken, dass eine besondere Komplexität und Verschränkung mit Sprache dadurch hereinkommt, dass schon die subjektive Bestimmung der Motive und die Bewertung auf inte-riorisierten sprachlichen Mitteln, sprachlich vermittelten Urteilen, Schlüssen und Kalkulationen, beruhen und daher von der Gestalt dieser real verfügbaren Mittel abhängig sind, und mehr noch, dass die subjektive Artikulation in den Abstimmungsprozessen die Nachvollziehbarkeit und Ak-zeptanz durch die anderen, also allgemein verfügbare und anerkannte Denkweisen, Wertungen und Argumentationen einbeziehen muss. Z.B. geht der Unterwerfung unter fremdes Komman-do in der Lohnarbeit eine jahrelange Einübung in eine Denk- und Motivwelt voraus, die diese

Vorgänge hauptsächlich im Licht ihrer individuellen Reproduktionsrationalität zeigt.

Nicht der ganze Bereich menschlicher Interaktion lässt sich als kollektive Tätigkeit oder auch nur als Koordination beschreiben. Daher ergäbe es ein sehr verzerrtes Bild, würde man allen sprachlichen Verkehr auf eine der zwei eben unterschiedenen Seiten kollektiver Tätigkeit zu-rückführen wollen. Wittgenstein trifft etwas Richtiges, wenn er gegen sprachphilosophischen Reduktionismus „die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele“ (PU 23) vor Augen führt. Nur er-scheint bei ihm diese Mannigfaltigkeit als kulturalistische Beliebigkeit. Wenn er schreibt: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache Teil ist einer Tätigkeit“

(ebd.), dann erscheint auch die Tätigkeit selbst in diesem Licht der Beliebigkeit, ohne Zusam-menhang mit Erfordernissen der Lebensorganisation. Wenn Arbeit und Arbeitsteilung allerdings unabdingbare Tätigkeitsbestimmungen menschlicher Gesellschaften sind, dann sind es auch die Sprachspiele, die sie vermitteln. Beliebig ist auch nicht, dass Menschen sich miteinander ins Benehmen setzen, auch wenn die Formen variieren. Und für beides ist der herausgearbeitete Zusammenhang zwischen öffentlich artikulierbarer Sprache und individueller Handlungsorien-tierung ein zentrales Moment. Wie die Jäger in Leontjews Beispiel sich über die Kombination ihrer Tätigkeiten verständigen, ist eine Technik, ein Sprachspiel, das in verschiedenen Varian-ten auftauchen kann, aber das gleichzeitig den Erfordernissen der Jagd Genüge tun muss, um überhaupt eine nützliche Technik zu sein, die Jäger auch benutzen wollen. Unter diesen spezi-fischen Bedingungen gesellschaftlicher Reproduktion schmilzt die Mannigfaltigkeit der brauch-baren Sprachspiele zusammen. Daraus folgt nicht, dass es überhaupt keine Mannigfaltigkeit gäbe, sprachlich vermittelte gesellschaftliche Praxis beschränkt sich nicht auf urmenschliche Jagdszenen, sondern dass Wittgenstein durch diese Beschreibung Sprache entkoppelt von ihrem Nutzen für diejenigen, die sie gebrauchen. Oder anders: der bloße „Gebrauch“ der Sprache ist ein problematischer Endpunkt ihrer Bestimmung.

Keseling, der sich auch auf Leontjew bezieht, hat ebenfalls Orientierung und Koordination als

„allgemeine Eigenschaften menschlicher Handlungen“ herausgestellt. Bezüglich ihres Zusam-menhangs gibt er an, „dass den sprachlichen Koordinierungshandlungen von der Art ‚tue p, ich selbst werde q tun‘ in Wahrheit Orientierungshandlungen zugrunde liegen, derart dass die ers-teren genetisch aus den letzers-teren hervorgegangen sind.“ (Keseling 1979, 66f). Damit erfasst er jedoch nur eine Seite des Zusammenhangs, und zudem ungenau. Wygotskis Beobachtung, dass Denken und Sprache verschiedene Quellen haben, die sich zum begrifflichen Denken erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kindes verbinden, lässt sich auch auf dieses Verhältnis übertragen. Der Sprachaneignung geht ein Aufbau von Orientierungsfähigkeit ebenso wie von Koordinierungshandlungen notwendig voraus. Sprachliche Orientierung und sprachliche Ko-ordinierung sind zunächst eins und können nur eingeführt werden in einem schon etablierten Koordinationszusammenhang, der zunächst asymmetrisch strukturiert ist. Daher setzt

sprachli-che Orientierung Koordination voraus. Koordination umgekehrt, setzt Orientierung zwar voraus, doch das Verhältnis ist spezifischer: Koordination ist reflexiv gewordene Orientierung. Sie geht keineswegs darin auf, dass die Beteiligten sich „nicht mehr nur auf die gegenständliche Wirk-lichkeit, sondern auch aufeinander orientieren“ (Keseling 1979, 73), sondern die Orientierung aneinander geht reflexiv in die jeweiligen Handlungsoptionen ein. Nur Sprache erlaubt, Koor-dination nicht nur mit Präzision und einem Reichtum an Inhalten, sondern auch mit der Potenz komplexer kollektiver Tätigkeit über weite Zeitspannen hinweg zu versehen. Sprache wird hier zur Voraussetzung der Netze sozialer Regeln, die die kulturellen Verkehrsformen durchziehen.

Im Dokument Materialistische Sprachtheorie (Seite 142-148)