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WERKKONTEXT: POETOLOGISCHE REFLEXIONEN

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3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN 305

3.1. WERKKONTEXT: POETOLOGISCHE REFLEXIONEN

Die Position des Dichters und Konturen seiner Poetik lassen sich in beiden Bü-chern über autoreflexive poetologische Gedichte fassen, die im jeweiligen Buchkontext rahmend neben den poetischen Großformen stehen: In Общие места hat das erste Gedicht, „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“, den Charakter einer Exposition; das zweite Buch, Лирико-дидактические поэмы, setzt mit einem „Nachwort“ auf das Vorgängerbuch ein (Послесловие к книге «Общие места»), das eine ähnliche Funktion erfüllt.

Diese beiden Einführungen sowie ein dem ersten Buch vorangestelltes Motto beinhalten grundsätzliche Reflexionen über die Dichterrolle, das eigene Schrei-ben sowie die Funktion von Literatur.

Liest man Kibirovs Gesamtwerk heute in chronologischer Reihenfolge, stimmt „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“ (1984) als aller-erstes Gedicht auf die Texte der ersten Schaffensphase ein. Als Autokommentar fungierte es auch Anfang 1991 in der Zeitung Čas pik, wo es eine Stellungnah-me Kibirovs zu den heftigen Leserreaktionen auf die Publikation von Л. С.

310 Багрецов, Д. Н.: Т. Кибиров. Творческая индивидуальность и проблема интертексту-альности, 20; 21; 40; 44 erwähnt die beiden Texte sowie Kibirovs Figur Černenko. Ерма-ченко, Игорь: От «врага на Востоке» до «врага на Западе». Китайские стратагемы русского постмодерна: исторический контекст. // Неприкосновенный запас (2003) 29, http://magazines.russ.ru/nz/2003/29/erm1.html geht auf Жизнь К. У. Черненко II ein.

3.1. Werkkontext: Poetologische Reflexionen 83 бинштейну begleitete.311 Das Gedicht ist als poetologische Einführung gestaltet: Der Sprecher spielt verschiedene Rollen und mögliche Themen durch, die sich als biographische Stationen des Autors (die 1. Person Singular begüns-tigt diese Identifikation) oder auch abstrakte Positionen des Dichter-Seins in spätsowjetischer Zeit einordnen lassen: Dissident, unpolitischer Lyriker, Pane-gyriker.312

In der ersten Szene (V. 1–19) tritt der als Dichter zu verstehende Sprecher als Systemkritiker auf, er will einen Pflock aus Espenholz ins Mausoleum hinein-bringen, offenbar um ihn der Leninmumie ins Herz zu stoßen. Die Wendung

„осиновый кол пронести в Мавзолей“ variiert den (wohl auf den Vampirmy-thos anspielenden) Phraseologismus вбить/забить осиновый кол в могилу / на могиле кого-н. / чего-н., ‘jmd./einer Sache den Todesstoß versetzenʼ.313 An der Abrechnung mit dem Kommunismus314 hindert die aufgebrachte Menge, die den Systemkritiker zum Sündenbock macht. Die als Antiklimax aneinandergereihten Anschuldigungen umfassen mehrere stereotype „faschistisch-imperialistische Verbrechen“, es folgen die steigenden Preise und am Ende der pauschale Vor-wurf „За всё это вшивое, мелкое горе свое, / за скуку, за то, что с рождения нас наебали“ (V. 9–10). Der Pöbel übt Lynchjustiz und zertrampelt den Körper des Sprechers auf dem Roten Platz.

Diese unerfreuliche Perspektive lässt umdenken (V. 20ff.). Die Alternative wird mit den Signalwörtern Ruhe, Freiheit, Glück umrissen, die auf das bei Kibirov häufig zitierte Puškin-Gedicht „Пора, мой друг, пора! покоя сердце просит…“ (1834)verweisen, das den Wunsch nach einem Rückzug aus der Öf-fentlichkeit artikuliert.315 Bei Kibirov heißt es:

[…] В конце-то концов – есть на свете покой и всё! И достаточно! Воли же требовать с жиру

наивно, как счастья… […] [V. 23–25]

311 Час Пик 28.01. 1991. 6 (das Gedicht ist hier auf 1984 datiert).

312 Zitiert wird im Folgenden nach: Кибиров, Тимур: Стихи, 599–600.

313 Russisch-Deutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und Lite-ratur Mainz. Hg. von Renate Belentschikow et al. Wiesbaden: Harrassowitz 2003–. Bd. 7.

280.

314 Vgl. hierzu Kibirovs Gespräch mit Gandlevskij, Vajl und Genis: Якович, Елена:

Одинокие странники с пачки «Памира» aus dem Jahr 1992. Auf die Frage, ob er noch die instinkthafte Angst der Vätergeneration kenne, antwortet der Dichter: „Такого [страха; M.

R.], конечно, как у наших отцов, нет. Но вот когда я написал «попытка [sic!] осиновый кол пронести в мавзолей», облился потом. Причем страх-то уже был иллюзорный, ни-чего бы мне за это не сделали.“

315 Puškins Gedicht scheint auch in weiteren Texten auf, siehe Kap. 6.1.1, S. 228 und Kap.

7.2.4, S. 302.

82 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

Die Großformen, die im Zentrum dieses Kapitels stehen, sind thematisch verwandt; sie beschäftigen sich mit der Biographie zweier sowjetischer Führer:

Vladimir Ilʼič Lenin und Konstantin Ustinovič Černenko. Kibirovs Bearbeitun-gen setzen sich mit einer biographischen Literaturtradition auseinander, die ei-nen wichtigen Baustein der sowjetischen Ideologie und ein Werkzeug der Propaganda darstellte. Ausgangspunkt der folgenden Analysen ist die Herausar-beitung des historischen und literaturhistorischen Kontextes, in dem die Gedich-te sGedich-tehen. Es werden GemeinsamkeiGedich-ten und v. a. UnGedich-terschiede zu den realen Führerbiographien aufgezeigt, weiterhin die gewählten intertextuellen Vorlagen beschrieben und schließlich Kibirovs (parodistisch-dekonstruierende) Bearbei-tungen analysiert. Für die Frage nach sozartistisch-konzeptualistischen Einflüs-sen ist auch der Blick auf das jeweilige Buchganze produktiv. Neben den Kerntexten Когда был Ленин маленьким und Жизнь К. У. Черненко sind da-bei insbesondere die in da-beiden Gedichtbänden zu findenden rahmenden poetolo-gischen Gedichten einzubeziehen.

Zu den ausgewählten Texten gibt es über kurze Erwähnungen hinaus keine Forschungsliteratur.310

3.1. WERKKONTEXT: POETOLOGISCHE REFLEXIONEN

Die Position des Dichters und Konturen seiner Poetik lassen sich in beiden Bü-chern über autoreflexive poetologische Gedichte fassen, die im jeweiligen Buchkontext rahmend neben den poetischen Großformen stehen: In Общие места hat das erste Gedicht, „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“, den Charakter einer Exposition; das zweite Buch, Лирико-дидактические поэмы, setzt mit einem „Nachwort“ auf das Vorgängerbuch ein (Послесловие к книге «Общие места»), das eine ähnliche Funktion erfüllt.

Diese beiden Einführungen sowie ein dem ersten Buch vorangestelltes Motto beinhalten grundsätzliche Reflexionen über die Dichterrolle, das eigene Schrei-ben sowie die Funktion von Literatur.

Liest man Kibirovs Gesamtwerk heute in chronologischer Reihenfolge, stimmt „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“ (1984) als aller-erstes Gedicht auf die Texte der ersten Schaffensphase ein. Als Autokommentar fungierte es auch Anfang 1991 in der Zeitung Čas pik, wo es eine Stellungnah-me Kibirovs zu den heftigen Leserreaktionen auf die Publikation von Л. С.

310 Багрецов, Д. Н.: Т. Кибиров. Творческая индивидуальность и проблема интертексту-альности, 20; 21; 40; 44 erwähnt die beiden Texte sowie Kibirovs Figur Černenko. Ерма-ченко, Игорь: От «врага на Востоке» до «врага на Западе». Китайские стратагемы русского постмодерна: исторический контекст. // Неприкосновенный запас (2003) 29, http://magazines.russ.ru/nz/2003/29/erm1.html geht auf Жизнь К. У. Черненко II ein.

3.1. Werkkontext: Poetologische Reflexionen 83 бинштейну begleitete.311 Das Gedicht ist als poetologische Einführung gestaltet: Der Sprecher spielt verschiedene Rollen und mögliche Themen durch, die sich als biographische Stationen des Autors (die 1. Person Singular begüns-tigt diese Identifikation) oder auch abstrakte Positionen des Dichter-Seins in spätsowjetischer Zeit einordnen lassen: Dissident, unpolitischer Lyriker, Pane-gyriker.312

In der ersten Szene (V. 1–19) tritt der als Dichter zu verstehende Sprecher als Systemkritiker auf, er will einen Pflock aus Espenholz ins Mausoleum hinein-bringen, offenbar um ihn der Leninmumie ins Herz zu stoßen. Die Wendung

„осиновый кол пронести в Мавзолей“ variiert den (wohl auf den Vampirmy-thos anspielenden) Phraseologismus вбить/забить осиновый кол в могилу / на могиле кого-н. / чего-н., ‘jmd./einer Sache den Todesstoß versetzenʼ.313 An der Abrechnung mit dem Kommunismus314 hindert die aufgebrachte Menge, die den Systemkritiker zum Sündenbock macht. Die als Antiklimax aneinandergereihten Anschuldigungen umfassen mehrere stereotype „faschistisch-imperialistische Verbrechen“, es folgen die steigenden Preise und am Ende der pauschale Vor-wurf „За всё это вшивое, мелкое горе свое, / за скуку, за то, что с рождения нас наебали“ (V. 9–10). Der Pöbel übt Lynchjustiz und zertrampelt den Körper des Sprechers auf dem Roten Platz.

Diese unerfreuliche Perspektive lässt umdenken (V. 20ff.). Die Alternative wird mit den Signalwörtern Ruhe, Freiheit, Glück umrissen, die auf das bei Kibirov häufig zitierte Puškin-Gedicht „Пора, мой друг, пора! покоя сердце просит…“ (1834)verweisen, das den Wunsch nach einem Rückzug aus der Öf-fentlichkeit artikuliert.315 Bei Kibirov heißt es:

[…] В конце-то концов – есть на свете покой и всё! И достаточно! Воли же требовать с жиру

наивно, как счастья… […] [V. 23–25]

311 Час Пик 28.01. 1991. 6 (das Gedicht ist hier auf 1984 datiert).

312 Zitiert wird im Folgenden nach: Кибиров, Тимур: Стихи, 599–600.

313 Russisch-Deutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und Lite-ratur Mainz. Hg. von Renate Belentschikow et al. Wiesbaden: Harrassowitz 2003–. Bd. 7.

280.

314 Vgl. hierzu Kibirovs Gespräch mit Gandlevskij, Vajl und Genis: Якович, Елена:

Одинокие странники с пачки «Памира» aus dem Jahr 1992. Auf die Frage, ob er noch die instinkthafte Angst der Vätergeneration kenne, antwortet der Dichter: „Такого [страха; M.

R.], конечно, как у наших отцов, нет. Но вот когда я написал «попытка [sic!] осиновый кол пронести в мавзолей», облился потом. Причем страх-то уже был иллюзорный, ни-чего бы мне за это не сделали.“

315Puškins Gedicht scheint auch in weiteren Texten auf, siehe Kap. 6.1.1, S. 228 und Kap.

7.2.4, S. 302.

84 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

Allerdings haben sich die Erwartungen vermindert – Puškin hofft auf Ruhe und Freiheit, Kibirovs Sprecher nur auf Ruhe. Die zweite angedachte Existenz als unpolitischer Naturlyriker (der auf Freiheit verzichtet) unterbricht allerdings der Seraphim aus Puškins Gedicht Пророк (1826), Symbol für die Berufung des Dichters. Der Engel verlässt bei Kibirov den Sprecher, der seine Mission aufge-geben hat. Seiner Begabung beraubt, wird dieser anschließend von der gesichts-losen Menge mitgerissen, die sich nur um die Bewältigung des Alltags kümmert.

Bei der nächsten Wende findet sich Kibirovs „Ich“ auf dem durch das wort-spielerische Attribut пре-красный (‘wunder-schönʼ) aufgewerteten Roten Platz (Красная площадь bedeutete bekanntlich ursprünglich ‘Schöner Platzʼ) wieder und reiht sich, dieses Mal ohne Holzpflock, in die Schlange vor dem Mausoleum ein. Die Ordnung der Wartenden und das Bekenntnis zu einem Ideal erscheinen verlockend, auch wenn eine vollkommene Identifikation mit dem Kollektiv offenbar nicht erfolgt (die Rede ist von „Furcht“ und „Scham“):

[…] И вот

я вытолкнут, Господи, к площади этой прекрасной, растерянный, в очередь встал я с улыбкой напрасной, и холодом страха и срама наполнен живот.

И двигаюсь, вместе со всеми. На всё я согласен.

Я рад, что со всеми, что... Но безобразный и ясный над ухом прижатым моим разрывается крик. И народ

из ГУМа уже набегает, вопя сладострастно. [V. 48–55]

Diese prekäre Harmonie hat letztendlich keinen Bestand, denn erneut stürmt aus dem GUM der Pöbel heran (vielleicht steht das Kaufhaus für den Konsum, der zur neuen Ideologie wurde?). Das Ende des Gedichts ist offen.

Im Gedicht „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“ wird eine ungefähre Positionierung und Erläuterung des aktuellen Schreibens vorgenom-men, wobei dem in der 1. Person sprechenden „Dichter“ weder antisowjetische Agitation noch apolitische Lyrik perspektivreich scheinen. Die am Ende stehende Hinwendung zu den – ambivalent betrachteten – sowjetischen Idealen lässt dabei verschiedene Deutungen zu. Zum einen könnte es sich um den prag-matischen Kompromiss eines Literaten handeln, der sich opportunistisch dem Strom anpasst und systemkonform dichtet. In diesem Fall wäre das „ich“ nicht auf den Autor zu beziehen, sondern auf den typischen sowjetischen Dichter, von dem er sich absetzt. Liest man das Gedicht als Selbstaussage über das eigene Schreiben, tritt die Wahl einer Alternativen gegenüber den Extremen des An-griffs auf Lenin einerseits und des Rückzugs aus der gegenwärtigen Realität andererseits in den Vordergrund. In diesem Fall lässt sich ein Bezug zu Grojs’

Definition von Soz-Art (vgl. S. 68) herstellen: Es wäre eine Entscheidung, sich der sowjetischen Alltagsrealtität mit ihren ideologischen Zeichen zuzuwenden und sie dabei weder zu negieren noch zu affirmieren.

Im Gedicht ist im klassischen Gegensatz zwischen Dichter und Menge auch der Antagonismus zwischen Individuum und Kollektiv angelegt, der das Buch

3.1. Werkkontext: Poetologische Reflexionen 85 leitmotivisch durchzieht und im Titel Общие места präsent ist. Der Terminus Loci communes / common places / Gemeinplätze stammt ursprünglich aus der antiken Rhetorik.316 Zunehmend verstand man darunter auch Schlagwörter zur Ordnung von Wissensbeständen (z. B. von Exempla oder Zitaten).317 Heute ist die Wendung auch im Russischen pejorativ konnotiert.318

Um solche Allgemeinplätze soll es in Kibirovs Buch gehen. Das Nachwort Послесловие к книге «Общие места», das paradoxerweise am Anfang des Folgebuches Лирико-дидактические поэмы steht und beide Bücher verbindet, ist voll von sprachlichen Klischees, die sich unablässig wiederholen.319 Abschn.1 beginnt mit Variationen der Redewendung „в тесноте, да не в обиде“

(‘klein, aber gemütlichʼ),320 die in Abschn. 4, 6, 10, 11, 13, 17, 22 fortgesetzt werden. Der Phraseologismus zeichnet beengte Wohn- und Lebensverhältnisse rhetorisch positiv, im Kontext des Gedichts ist eine breitere, übertragene Bedeu-tung anzusetzen: Solange wir uns um eine positive Einstellung bemühen, ist die Situation nicht so schlimm. Die Redewendung steht für den passiven Fatalismus des homo sovieticus und wird durch immer absurdere Variationen karikiert:

В тесноте, да не в обиде. В простоте, да в Госкомсбыте.

В честноте, да в паразитах (паразитам – никогда!). В чесноке, да в замполитах (замполитам – завсегда).

Не в обиде, не беда. [Abschn. 1]

Bei den beiden Einschüben, die auf durch Reim zusätzlich hervorgehobene poli-tische Reizwörter (паразит, замполит) folgen, handelt es sich um scheinbar unwillkürliche Reflexe, die die Internalisierung ideologischer Klischees zeigen.

Das Gedicht ist durchzogen von unzähligen Parallelismen und Redundanzen, bis hin zu der Wiederholung bedeutungsleerer Aussagen, z. B.:

Наше будущее будет. Наше прошлое прошло.

316 Er bezeichnete (allgemeine) Suchstrategien, mit deren Hilfe der Redner unabhängig vom Thema Argumente für die Beweisführung generieren bzw. auffinden konnte, siehe Calboli Montefusco, Lucia: Topik. In: Cancik, Hubert et al. (Hgg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler 1996–2003. Bd. 12/1, 691–693.

317 Fuchs, Thorsten: Loci communes. In: Cancik, Hubert et al. (Hgg.): Der Neue Pauly, Bd.

15/1. 186–191. Mertner, Edgar: Topos und Commonplace. In: Jehn, Peter (Hg.):

Toposforschung. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M: Athenäum 1972. 20–68.

318 Ожегов, С. И.; Шведова, Н. Ю.: Толковый словарь русского языка. 4-е изд., доп. М.:

Азбуковник 1999. 440– 441 (общий): „известное всем, избитое суждение“.

319 Textgrundlage ist Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 15–19.

320 Langenscheidt Handwörterbuch Russisch. Hg. von der Langenscheidt-Redaktion. Begr.

von Edmund Daum und Werner Schenk. Berlin et al.: Langenscheidt 2009. 630 (теснота).

84 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN

Allerdings haben sich die Erwartungen vermindert – Puškin hofft auf Ruhe und Freiheit, Kibirovs Sprecher nur auf Ruhe. Die zweite angedachte Existenz als unpolitischer Naturlyriker (der auf Freiheit verzichtet) unterbricht allerdings der Seraphim aus Puškins Gedicht Пророк (1826), Symbol für die Berufung des Dichters. Der Engel verlässt bei Kibirov den Sprecher, der seine Mission aufge-geben hat. Seiner Begabung beraubt, wird dieser anschließend von der gesichts-losen Menge mitgerissen, die sich nur um die Bewältigung des Alltags kümmert.

Bei der nächsten Wende findet sich Kibirovs „Ich“ auf dem durch das wort-spielerische Attribut пре-красный (‘wunder-schönʼ) aufgewerteten Roten Platz (Красная площадь bedeutete bekanntlich ursprünglich ‘Schöner Platzʼ) wieder und reiht sich, dieses Mal ohne Holzpflock, in die Schlange vor dem Mausoleum ein. Die Ordnung der Wartenden und das Bekenntnis zu einem Ideal erscheinen verlockend, auch wenn eine vollkommene Identifikation mit dem Kollektiv offenbar nicht erfolgt (die Rede ist von „Furcht“ und „Scham“):

[…] И вот

я вытолкнут, Господи, к площади этой прекрасной, растерянный, в очередь встал я с улыбкой напрасной, и холодом страха и срама наполнен живот.

И двигаюсь, вместе со всеми. На всё я согласен.

Я рад, что со всеми, что... Но безобразный и ясный над ухом прижатым моим разрывается крик. И народ

из ГУМа уже набегает, вопя сладострастно. [V. 48–55]

Diese prekäre Harmonie hat letztendlich keinen Bestand, denn erneut stürmt aus dem GUM der Pöbel heran (vielleicht steht das Kaufhaus für den Konsum, der zur neuen Ideologie wurde?). Das Ende des Gedichts ist offen.

Im Gedicht „Попытка осиновый кол пронести в Мавзолей...“ wird eine ungefähre Positionierung und Erläuterung des aktuellen Schreibens vorgenom-men, wobei dem in der 1. Person sprechenden „Dichter“ weder antisowjetische Agitation noch apolitische Lyrik perspektivreich scheinen. Die am Ende stehende Hinwendung zu den – ambivalent betrachteten – sowjetischen Idealen lässt dabei verschiedene Deutungen zu. Zum einen könnte es sich um den prag-matischen Kompromiss eines Literaten handeln, der sich opportunistisch dem Strom anpasst und systemkonform dichtet. In diesem Fall wäre das „ich“ nicht auf den Autor zu beziehen, sondern auf den typischen sowjetischen Dichter, von dem er sich absetzt. Liest man das Gedicht als Selbstaussage über das eigene Schreiben, tritt die Wahl einer Alternativen gegenüber den Extremen des An-griffs auf Lenin einerseits und des Rückzugs aus der gegenwärtigen Realität andererseits in den Vordergrund. In diesem Fall lässt sich ein Bezug zu Grojs’

Definition von Soz-Art (vgl. S. 68) herstellen: Es wäre eine Entscheidung, sich der sowjetischen Alltagsrealtität mit ihren ideologischen Zeichen zuzuwenden und sie dabei weder zu negieren noch zu affirmieren.

Im Gedicht ist im klassischen Gegensatz zwischen Dichter und Menge auch der Antagonismus zwischen Individuum und Kollektiv angelegt, der das Buch

3.1. Werkkontext: Poetologische Reflexionen 85 leitmotivisch durchzieht und im Titel Общие места präsent ist. Der Terminus Loci communes / common places / Gemeinplätze stammt ursprünglich aus der antiken Rhetorik.316 Zunehmend verstand man darunter auch Schlagwörter zur Ordnung von Wissensbeständen (z. B. von Exempla oder Zitaten).317 Heute ist die Wendung auch im Russischen pejorativ konnotiert.318

Um solche Allgemeinplätze soll es in Kibirovs Buch gehen. Das Nachwort Послесловие к книге «Общие места», das paradoxerweise am Anfang des Folgebuches Лирико-дидактические поэмы steht und beide Bücher verbindet, ist voll von sprachlichen Klischees, die sich unablässig wiederholen.319 Abschn.1 beginnt mit Variationen der Redewendung „в тесноте, да не в обиде“

(‘klein, aber gemütlichʼ),320 die in Abschn. 4, 6, 10, 11, 13, 17, 22 fortgesetzt werden. Der Phraseologismus zeichnet beengte Wohn- und Lebensverhältnisse rhetorisch positiv, im Kontext des Gedichts ist eine breitere, übertragene Bedeu-tung anzusetzen: Solange wir uns um eine positive Einstellung bemühen, ist die Situation nicht so schlimm. Die Redewendung steht für den passiven Fatalismus des homo sovieticus und wird durch immer absurdere Variationen karikiert:

В тесноте, да не в обиде.

В простоте, да в Госкомсбыте.

В честноте, да в паразитах (паразитам – никогда!).

В чесноке, да в замполитах (замполитам – завсегда).

Не в обиде, не беда. [Abschn. 1]

Bei den beiden Einschüben, die auf durch Reim zusätzlich hervorgehobene poli-tische Reizwörter (паразит, замполит) folgen, handelt es sich um scheinbar unwillkürliche Reflexe, die die Internalisierung ideologischer Klischees zeigen.

Das Gedicht ist durchzogen von unzähligen Parallelismen und Redundanzen, bis hin zu der Wiederholung bedeutungsleerer Aussagen, z. B.:

Наше будущее будет.

Наше прошлое прошло.

316 Er bezeichnete (allgemeine) Suchstrategien, mit deren Hilfe der Redner unabhängig vom Thema Argumente für die Beweisführung generieren bzw. auffinden konnte, siehe Calboli Montefusco, Lucia: Topik. In: Cancik, Hubert et al. (Hgg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler 1996–2003. Bd. 12/1, 691–693.

317 Fuchs, Thorsten: Loci communes. In: Cancik, Hubert et al. (Hgg.): Der Neue Pauly, Bd.

15/1. 186–191. Mertner, Edgar: Topos und Commonplace. In: Jehn, Peter (Hg.):

Toposforschung. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M: Athenäum 1972. 20–68.

318 Ожегов, С. И.; Шведова, Н. Ю.: Толковый словарь русского языка. 4-е изд., доп. М.:

Азбуковник 1999. 440– 441 (общий): „известное всем, избитое суждение“.

319 Textgrundlage ist Кибиров, Тимур: Сантименты. Восемь книг, 15–19.

320 Langenscheidt Handwörterbuch Russisch. Hg. von der Langenscheidt-Redaktion. Begr.

von Edmund Daum und Werner Schenk. Berlin et al.: Langenscheidt 2009. 630 (теснота).

86 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN Наше будущее будет!

Наше прошлое прошло! [Abschn. 16]

Auch die Aussage, dass es sich um Gemeinplätze handle, findet sich mehrmals (Abschn. 2, 5, 11, 13), beispielsweise:

Льется синяя вода.

Жжется красная звезда.

Это общие места.

Наши общие места. [Abschn. 2]

Mehrfach häufen sich Kombinationen von Substantiv und Attribut (Abschn. 4, 7, 15):

Мы – работники Труда!

Мы – крестьяне Земледелья!

Мы – ученые Науки!

Мы – хозяева Хозяйства!

Мы – учащиеся Школы

Высшей школы ВПШ! [Abschn. 4]

Es handelt sich hierbei um Wortpaare aus dem gleichen semantischen Feld, so dass die Bedeutung der Substantive weniger präzisiert als dubliert wird. Da es in den meisten Fällen ideologieaffine Begriffe sind, wird die Abnutzung und der Bedeutungsverlust der doktrinären Spräche inszeniert. Eine Ausnahme, die den Automatismus aufbricht, ist allerdings das homonyme Wortspiel „И страна у нас странна!“ in Abschn. 7, das unterschiedliche Bedeutung kombiniert.

Neben den beschriebenen Redundanz-Wucherungen, die sinnentleerte komi-sche Bedeutungen generieren, ist der Antagonismus zwikomi-schen kollektivem und individuellem Sprechen ein zentrales Moment des Textes. Über weite Strecken ist die Perspektive unpersönlich und kollektiv: elliptische Aufzählungen, Mini-malsätze in der 3. Person, manchmal auch die 1. Person Plural. Das mit Du an-gesprochene Gegenüber wird in Abschn. 6, 9, 10, 15 mit den diminutiven Namensformen Vanja / Vanjuša angeredet, gemeint ist „Ivan“ als der Russe an sich. Allerdings scheint an einzelnen Stellen ein Ich auf. In Abschn. 6 im Rah-men der syntaktischen Formel я + читаю / прочел + Akkusativ-Ergänzung. In den rhetorischen Fragen am Ende von Abschn. 14, in dem diese Konstruktion erneut auftaucht, nimmt ein individuellere Züge tragendes, sich sorgendes Ich (im Dativ, „мне“) Gestalt an:

Я читаю Мандельштама.

Я уже прочел Программу.

Мама снова моет раму.

Пахнет хвоей пилорама.

Мертвые не имут сраму.

Где мне место отыскать?

Где ж отдельное занять?

In Abschn. 18–20 findet ein bewegter Dialog zwischen Ich und Du statt, aller-dings in stereotypen Floskeln. In Abschn. 21–23 löst sich aus dem kollektiven Rauschen – ins Negative kippende Variationen des leitmotivischen

Phraseolo-3.1. Werkkontext: Poetologische Reflexionen 87 gismus „в темноте, да не в обиде“ – die Stimme der 1. Person Singular heraus:

„устремляю я взгляд / устремляю я взгляд свой“ (Abschn. 23). Der Sprecher wirkt verzweifelt, es ist sogar von Tränen die Rede, die weggewischt werden sollen. Auch wenn das an einen Stern (ein bei Kibirov häufiges Motiv) gerichte-te Streben und Sehnen metaphorisch-vage bleibt, deugerichte-tet sich ungerichte-ter der von Re-dundanzen und Tautologien geprägten kollektiven Oberfläche ein Kampf des Individuums um die Realisierung als „Ich“ an.

Das Gedicht Послесловие к книге «Общие места» erinnert damit in mehre-rer Hinsicht an Texte von Lev Rubinštejn. Ähnlich wie in seinen Karteikarten-Kompositionen besteht das Textganze aus Fetzen aufgeschnappter Alltagsrede, aus denen sich verschiedene Leitmotive herauskristallisieren. Ein Syntagma aus dem oben zitierten Abschn. 14 erweist sich sogar als direktes Zitat: Mit dem Satz Мама мыла раму, der aus Lesefibeln für die Grundschule stammt, ist eine Komposition Rubinštejns aus dem Jahr 1987 betitelt.321 Das Heraustreten einer individuellen Stimme aus dem kollektiven Sprachlärm erinnert an seine Be-schreibungen konzeptualistischer Praktiken: die Interaktion zwischen kollekti-vem und individuellem Bewusstsein und die Dynamik zwischen Text und Autor (vgl. Kap.2.3.3, S. 75).

In dem Motto, das dem Buch Общие места vorangeht,322 ist schließlich eine dritte selbstreflexive Perspektive angelegt. Zitiert wird Vladimir Solov’ev (1853–1900), Russlands bedeutendster Religionsphilosoph,323 dessen Schriften in der Sowjetunion nicht gedruckt wurden. Kibirovs Zitat stammt aus dem Auf-satz Общий смысл искусства (1890).324 Solov’ev fragt hier nach Wesen und Funktion der Kunst und beschreibt die Wirkungs- und Arbeitsweisen der einzel-nen artes. Er sieht in der Kunst ein Mittel zur Veränderung der Realität. Das vom Menschen geschaffene Schöne vermöge es, in der materiellen Welt, auf die die Prinzipien des Guten und Wahren nicht direkt wirken könnten, das ideale Prinzip zu vollenden. Dabei gilt die Schönheit der Natur nicht als vollkommen, sondern erst der schöpferische Mensch könne über die Kunst einen Idealzustand herstellen.325 Die besten Kunstwerke ließen prophetisch die vollendete

321 Рубинштейн, Лев: Регулярное письмо. СПб.: Изд-во Ивана Лимбаха 1996. 68–74.

322 Кибиров, Тимур: Стихи, 598.

323 Goerdt, Wilhelm: Russische Philosophie. Grundlagen. Leicht gek. Nachdruck. Freiburg;

München: Karl Alber 2002 [=21995; 11985]. 471 nennt ihn den wohl bedeutendsten russi-schen Denker überhaupt (zu Solovʼev: 471–517, zu seiner Ästhetiktheorie: 488–490).

324 Соловьев, В. С.: Общий смысл искусства. // Соловьев, В. С.: Сочинения. В 2 т. Общ.

ред. и сост.: А. В. Гулыга, А. Ф. Лосев. 2-е изд. М.: Мысль 1990 [11988]. Т. 2. 390–404.

Kibirov nennt keine Edition, es bleibt offen, ob er eine ältere oder eine Ende der 1980er erschienenen Ausgaben benutzte.

325 Ebd., 392–393.

86 3. KOMISCHE SOWJET-DEKONSTRUKTIONEN Наше будущее будет!

Наше прошлое прошло! [Abschn. 16]

Auch die Aussage, dass es sich um Gemeinplätze handle, findet sich mehrmals (Abschn. 2, 5, 11, 13), beispielsweise:

Льется синяя вода.

Жжется красная звезда.

Это общие места.

Наши общие места. [Abschn. 2]

Mehrfach häufen sich Kombinationen von Substantiv und Attribut (Abschn. 4, 7, 15):

Мы – работники Труда!

Мы – крестьяне Земледелья!

Мы – ученые Науки!

Мы – хозяева Хозяйства!

Мы – учащиеся Школы

Высшей школы ВПШ! [Abschn. 4]

Es handelt sich hierbei um Wortpaare aus dem gleichen semantischen Feld, so dass die Bedeutung der Substantive weniger präzisiert als dubliert wird. Da es in den meisten Fällen ideologieaffine Begriffe sind, wird die Abnutzung und der Bedeutungsverlust der doktrinären Spräche inszeniert. Eine Ausnahme, die den Automatismus aufbricht, ist allerdings das homonyme Wortspiel „И страна у нас странна!“ in Abschn. 7, das unterschiedliche Bedeutung kombiniert.

Neben den beschriebenen Redundanz-Wucherungen, die sinnentleerte komi-sche Bedeutungen generieren, ist der Antagonismus zwikomi-schen kollektivem und individuellem Sprechen ein zentrales Moment des Textes. Über weite Strecken ist die Perspektive unpersönlich und kollektiv: elliptische Aufzählungen, Mini-malsätze in der 3. Person, manchmal auch die 1. Person Plural. Das mit Du an-gesprochene Gegenüber wird in Abschn. 6, 9, 10, 15 mit den diminutiven Namensformen Vanja / Vanjuša angeredet, gemeint ist „Ivan“ als der Russe an sich. Allerdings scheint an einzelnen Stellen ein Ich auf. In Abschn. 6 im Rah-men der syntaktischen Formel я + читаю / прочел + Akkusativ-Ergänzung. In den rhetorischen Fragen am Ende von Abschn. 14, in dem diese Konstruktion erneut auftaucht, nimmt ein individuellere Züge tragendes, sich sorgendes Ich

Neben den beschriebenen Redundanz-Wucherungen, die sinnentleerte komi-sche Bedeutungen generieren, ist der Antagonismus zwikomi-schen kollektivem und individuellem Sprechen ein zentrales Moment des Textes. Über weite Strecken ist die Perspektive unpersönlich und kollektiv: elliptische Aufzählungen, Mini-malsätze in der 3. Person, manchmal auch die 1. Person Plural. Das mit Du an-gesprochene Gegenüber wird in Abschn. 6, 9, 10, 15 mit den diminutiven Namensformen Vanja / Vanjuša angeredet, gemeint ist „Ivan“ als der Russe an sich. Allerdings scheint an einzelnen Stellen ein Ich auf. In Abschn. 6 im Rah-men der syntaktischen Formel я + читаю / прочел + Akkusativ-Ergänzung. In den rhetorischen Fragen am Ende von Abschn. 14, in dem diese Konstruktion erneut auftaucht, nimmt ein individuellere Züge tragendes, sich sorgendes Ich

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